Stundenlohn von 3,40 € als Hungerlohn sittenwidrig

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 01.05.2016

Das LAG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 20.04.2016, Aktenzeichen 15 Sa 2258/15, PM vom 22.4.2016) hat im Falle einer Auslieferungsfahrerin, die für eine Pizzeria tätig war, entschieden dass es sich bei einem Stundenlohn von 3,40 Euro um einen Hungerlohn handelt. Selbst bei unterstellter Vollzeittätigkeit werde ein Einkommen erzielt, von dem man nicht leben könne. Die Vereinbarung von Hungerlöhnen sei sittenwidrig und damit gemäß § 138 Abs. 1 BGB unwirksam. Die übliche Vergütung ergebe sich aus den Feststellungen des statistischen Landesamtes. Für das Jahr 2011 sei von einem Stundenlohn von 6,77 € auszugehen, der sich bis zum Jahr 2014 auf 9,74 € steigere. Ob sich eine Sittenwidrigkeit daneben auch aus Wertungen der Europäischen Sozialcharta ergeben kann, wurde nicht entschieden.

Anzumerken bleibt: Da es um Differenzansprüche für den Zeitraum von 2010 bis 2014 ging, fand das erst später (1.1.2015) in Kraft getretene Mindestlohngesetz mit dem dort verankerten Mindestlohn von 8,50 Euro noch keine Anwendung. Interessant wäre es gewesen, wie das LAG bei unterstellter Anwendbarkeit des Mindestlohngesetzes entschieden hätte. Nach ganz h.M. soll neben dem gesetzlichen Mindestlohn die Rechtsprechung des BAG zur Sittenwidrigkeit von Arbeitsentgelten nach Maßgabe von § 138 BGB uneingeschränkt anwendbar bleiben, weil diese Rechtsprechung auf erhebliche Störungen des Äquivalenzverhältnisses von Leistung und Gegenleistung reagiert (ErfK-Franzen, § 1 MiLoG Rn. 1). Man hat hier allerdings vor allem Fallgestaltungen im Auge, die oberhalb der Mindestlohngrenze angesiedelt sind. Fraglich ist, ob § 138 BGB auch bei extremer Unterbezahlung weit unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns Anwendung findet. Die Frage ist nicht rein theoretischer Natur, da bei der Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns nur ein Anspruch auf die Differenz zu 8,50 Euro befürwortet wird, währenddessen bei sittenwidrig niedriger Bezahlung eine Anhebung auf die übliche (ggf. über 8,50 Euro liegende) Vergütung gewährt wird. Ob das richtig ist, wäre noch zu diskutieren.   

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13 Kommentare

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Spannende Frage. Inhaltlich überzeugen dürfte wohl nur, dass die Einführung des MiLoG keine Verschlechterung bewirken wollte und daher nicht nur auf 8,50 €, sondern auf den "gerechten" Lohn anzuheben ist. Aber trägt der Wortlaut eine solche Praxis?

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Inhaltlich überzeugen dürfte wohl nur, dass der Gesetzgeber auf einen erkannten (oder vermeintlichen) Misstand anders als die Rechtsprechung reagiert hat und daher die Rechtsprechung einer Überprüfung bedarf, auch wenn die h. M. das im Wege vorauseilender politischer Korrektheit anders postuliert.

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Untergrenze einer Taxe? Ergibt das Sinn? Und wenn ja, ist die Untergrenze einer Taxe nicht Teil der Taxe? Wenn die Antwort auf die Frage "Was muss ich zahlen" ist: "Mindestens 8,50" wäre dann nicht 8,50 eine Taxe?

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Eine Taxe ist ein durch eine Institution festgesetztes übliches Honorar (z.B. bei den Gebührenordnungen von Ärzten, Anwälten, Steuerberatern etc.).

Ein Mindestlohn ist keine Taxe, da er eben nicht das übliche Honorar sein soll. Um das zu erkennen, muss man nur über rudimentäre Deutschkenntnisse verfügen - was offensichtlich nicht bei jedem Blogleser der Fall ist.

Als Maßstab gilt dann die ortsübliche Vergütung, z.B. der für die meisten Beschäftigten geltende Tariflohn.

@ mein name

A.A. Palandt § 612 BGB RN 7 unter b): "Taxen sind nach Bundes- oder Landesrecht zugelassene und festgelegte Vergütungssätze, die feste, Höchst- oder Mindestsätze darstellen."

Der Mindestlohn dürfte ein Mindestsatz sein.

Die übliche Vergütung kommt nur "in Ermangelung einer Taxe" zur Anwendung, woraus sich nach meinem subrudimentärem Sprachverständnis ergibt, dass eine Taxe eben nichts mit Üblichkeit, sondern mit Festlegung zu tun hat. Bei Mindesttaxen kann die übliche Vergütung natürlich höher als die Taxe liegen, jedoch gilt bei Bestehen einer Taxe die Taxe.

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@ Gast: Mindestlöhne gibt es ja in manchen Branchen schon sehr lange. Zeigen Sie mir doch mal ein Urteil, in dem ein solcher Mindestlohn nach 612 BGB als "Taxe" angewendet wurde. Anstatt einen weltfremden, rein theoretischen (d.h. auf jedes Fallbeispiel verzichtenden) Kommentar zu zitieren, lesen Sie lieber die oben verlinkten Hinweise aus der Praxis: "Im Arbeitsrecht hat die Taxe keine Bedeutung. […] Nach der Rechtsprechung des BAG zum Lohnwucher (§ 138 BGB) entspricht die übliche Vergütung regelmäßig dem Tariflohn."

@ mein name: Das scheint mir eine sehr zirkuläre Argumentation zu sein. Ausgangspunkt Ihres Lesetips war doch der Kommentar nr. 2, dass die Rechtsprechung überprüfungsbedürftig erscheint. Maßstab einer solchen Überprüfung sollte das Gesetz und nicht die Rechtsprechung sein und da steht nun mal, dass die Taxe der üblichen Vergütung als Lückenfüller vorgeht. Der verlinkte Hinweis beruht darauf, dass es im Arbeitsrecht praktisch keine Taxen gab, aber der Mindestlohn ist ja auch neu. Und wenn der Mindestlohn eine Taxe ist, habt diese Taxe inzwischen eine immense Bedeutung. Und das darf auch dann so sein, wenn das im Internet anders steht. Aber wenn Sie meinen, dass der Palandt weltfremd ist, ... 

 

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Sie haben den Unterschied zwischen einem festgelegten Vergütungssatz (der sich auf eine bestimmte Tätigkeit bezieht, siehe die Gebührenordnungen der Ärzte, Anwälte und Steuerberater) und einem Zeitlohn (auf den sich der Mindestlohn bezieht) immer noch nicht begriffen.

Sehr bedauerlich, dass sprachliche Defizite so weit verbreitet sind.

@Name

Wie § 9 JVEG zeigt, kann ein Vergütungssatz auch in Euro pro Stunde, also als Zeitlohn festgelegt werden. Wieso sollte so etwas sprachlich keine Taxe i. S. v. § 612 BGB sein?

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