Das ärztliche Attest und das Nichterscheinen zur Hauptverhandlung

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 12.12.2015
Rechtsgebiete: JugendstrafrechtAttestStrafrechtVerkehrsrecht4|14270 Aufrufe

Mal wieder echtes OWi-Verfahrensrecht aus der Praxis: Der Betroffene erscheint nicht und übersendet als Entschuldigung ein etwas schmales Attest über seine Verhandlungsunfähigkeit. Was nun? Darf man als OWi-Richter den Einspruch verwerfen? "Nein", meint das KG. Und: "Erstmal nachforschen." Anders nur dann, wenn das Attest offensichtlich daneben liegt:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 1. September 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht hat den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten in Berlin gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil er in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, das vom Betroffenen eingereichte ärztliche Attest, das ihm Kreislaufstörungen bescheinige, lasse Art und Schwere der Erkrankung nicht erkennen. Erst nach genauer Darlegung der Symptome sei dem Gericht die Feststellung möglich, ob dem Betroffenen das Erscheinen bei Gericht zuzumuten gewesen wäre.
2Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat mit der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG Erfolg.

An die Zulässigkeit dieser Rüge sind nach ständiger Rechtsprechung der Oberlandesgerichte keine strengen Anforderungen zu stellen. Wenn die Urteilsgründe, wie hier, Ausführungen zu dem vorgebrachten Entschuldigungsgrund enthalten und sich der gerügte Verfahrensfehler aus dem Urteil selbst ergibt, bedarf es lediglich des Vortrags, das Verwerfungsurteil sei zu Unrecht ergangen (Senat, Beschluss vom 28. September 2015 - 3 Ws (B) 417/15 - m. w. N.; st. Rspr.).

Die Rüge ist auch begründet. § 74 Abs. 2 OWiG setzt nicht voraus, dass der Betroffene sich genügend entschuldigt hat, sondern dass ihm objektiv das Erscheinen nicht zuzumuten war. Es kommt nicht darauf an, was er selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat. Erst recht ist er nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet. Maßgebend ist allein, ob sich aus den dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannten und im Wege des Freibeweises feststellbaren Umständen eine ausreichende Entschuldigung ergibt. Das Gericht muss konkreten Anhaltspunkten für mögliche Entschuldigungsgründe von Amts wegen - etwa durch Nachfrage beim Aussteller des Attests nachgehen und sich die volle Überzeugung davon verschaffen, ob diese vorliegen. Verbleiben trotz Ausschöpfens aller Erkenntnisquellen noch Zweifel, darf ein Verwerfungsurteil nicht ergehen (Senat, a. a. O.; Beschluss vom 16. Juni 2010 - 3 Ws (B) 203/10 -, juris Rn. 2; st. Rspr.).

Diesen Vorgaben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Das Amtsgericht hat den Einspruch verworfen, obwohl die ihm zur Verfügung stehenden Informationen nach seiner eigenen Einschätzung für eine Überzeugungsbildung nicht ausreichten. Indem es dazu auf fehlende Darlegungen des Betroffenen verwiesen hat, ist es erkennbar von der unzulässigen Annahme ausgegangen, dass sich Zweifel am Vorhandensein eines Entschuldigungsgrundes zulasten des Betroffenen auswirken.

Das Urteil beruht auf diesem Rechtsfehler. Anders wäre es nur dann, wenn der Inhalt des Attests ganz offensichtlich nicht geeignet gewesen wäre, das Ausbleiben in der Hauptverhandlung genügend zu entschuldigen (vgl. Senat, Beschluss vom 28. September 2015, a. a. O., m. w. N.). Das ist aber bei einem Attest, in dem ein Arzt dem Betroffenen Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, nicht der Fall (vgl. Senat, a. a. O.; Seitz in Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 74 Rn. 29 m. w. N.).

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4 Kommentare

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Der Fehler des Amtsgerichts lag wohl eher darin, dass es Zweifel am Vorhandensein eines Entschuldigungsgrundes hatte. Das OLG meint ja, das AG sei von der unzulässigen Annahme ausgegangen, dass sich Zweifel am Vorhandensein eines Entschuldigungsgrundes zulasten des Betroffenen auswirken.

Klipp und klar:

Kreislaufstörungen sind kein genügender Entschuldigungsgrund. > Das Nichterscheinen ist nicht genügend entschuldigt. > Der Einspruch wird verworfen.

 

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@ Schulze #2

Ganz so einfach scheint mir das nicht zu sein. Das Gericht schreibt (Hervorhebung von mir):

Quote:

Anders wäre es nur dann, wenn der Inhalt des Attests ganz offensichtlich nicht geeignet gewesen wäre, das Ausbleiben in der Hauptverhandlung genügend zu entschuldigen ([...[). Das ist aber bei einem Attest, in dem ein Arzt dem Betroffenen Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, nicht der Fall ([...]).

Danach dürfte es nicht ohne Weiteres möglich sein, die Einschätzung des Arztes beiseite zu schieben. Das Attest müsste vielmehr vollkommen ungeeignet zur Bescheinigung der Verhandlungsunfähigkeit sein. Bei einem Befund wie Kreislaufbeschwerden möchte ich nicht behaupten, es gäbe keinerlei denkbare Ausprägung dieses Befundes, die eine Verhandlungsunfähigkeit zu begründen vermögen.

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MT, wenn Verhandlungsunfähigkeit im Attest bescheinigt wurde, haben Sie sicher recht.

Ich bin hinsichtlich des Tatsächlichen von "Zur Begründung hat es ausgeführt, das vom Betroffenen eingereichte ärztliche Attest, das ihm Kreislaufstörungen bescheinige, lasse Art und Schwere der Erkrankung nicht erkennen." ausgegangen. Der allgemeine Satz "Das ist aber bei einem Attest, in dem ein Arzt dem Betroffenen Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt, nicht der Fall." kann sich darauf beziehen, dass Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt war, muss es aber nicht.

 

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