LAG Schleswig-Holstein: Diskriminierung schwerbehinderter Menschen bei Einstellung – Schriftlicher Test ersetzt nicht das Vorstellungsgespräch

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 29.11.2015

Öffentliche Arbeitgeber treffen gegenüber schwerbehinderten Menschen im Bewerbungsverfahren besondere Pflichten. Insbesondere sind öffentliche Arbeitgeber gem. § 82 Satz 2 SGB IX verpflichtet, schwerbehinderte Stellenbewerber zu einem Vorstellungsgespräch einladen, soweit diese nicht offensichtlich fachlich ungeeignet sind. Über die Reichweite dieser Pflicht besteht in der Praxis in einigen Punkten Unklarheit. Das ist deshalb misslich, weil eine Verletzung der Pflicht zur Einladung eines schwerbehinderten Bewerbers die Vermutung einer Diskriminierung wegen der Behinderung begründet (§ 22 AGG) und die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen droht. Das Merkmal des fachlichen Ungeeignetheit hat in der neueren Rechtsprechung immerhin zuletzt gewisse Konturen erlangt. So hat das BAG (vom 16.9.2008, NZA 2009, 79) entschieden, dass ein schwerbehinderter Bewerber bei einem öffentlichen Arbeitgeber die Chance eines Vorstellungsgesprächs auch dann bekommen muss, wenn seine fachliche Eignung zweifelhaft, aber nicht offensichtlich ausgeschlossen ist. Selbst wenn sich der öffentliche Arbeitgeber auf Grund der Bewerbungsunterlagen schon die Meinung gebildet habe, ein oder mehrere andere Bewerber seien so gut geeignet, dass der schwerbehinderte Bewerber nicht mehr in die nähere Auswahl komme, müsse er den schwerbehinderten Bewerber nach dem Gesetzesziel einladen. Ob ein Bewerber offensichtlich nicht geeignet sei, beurteile sich nach den geforderten Qualifikationsvoraussetzungen und den einzelnen Aufgabengebieten der ausgeschriebenen Stelle. Eine andere Frage geht dahin, ob die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch durch einen für alle Bewerber verbindlichen Auswahltest ersetzt werden kann. Das verneint zu Recht eine neuere Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 9. September 2015 – 3 Sa 36/15 -). Die Beklagte, eine öffentliche Arbeitgeberin, schrieb Ausbildungsplätze im dualen Studium zur Verwaltungsinformatikerin/zum Verwaltungsinformatiker - Diplom (FH) aus. Voraussetzung war ausdrücklich „mindestens vollwertige Fachhochschulreife“. Der schwerbehinderte, entsprechend ausgebildete Kläger bewarb sich um den Studienplatz, nahm an dem bereits in der Ausschreibung erwähnten schriftlichen Eignungstest teil und fiel durch. Daraufhin erteilte ihm die Beklagte eine Absage. Der Kläger verlangte von der Beklagten die Zahlung einer Entschädigung, weil er wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden sei. Seine Klage war sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch vor dem Landesarbeitsgericht im Umfang von zwei Bruttomonatsvergütungen erfolgreich. Das Bestehen eines Eingangstests sei vorliegend nach Ansicht des LAG ausweislich der Ausschreibung keine Stellenanforderung, sondern bereits Teil des Auswahlverfahrens. Dabei müsse die Beklagte aber § 82 Satz 2 SGB IX beachten: Ein fachlich geeigneter schwerbehinderter Bewerber sei vom öffentlichen Arbeitgeber immer zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Er soll etwaige Defizite in einem persönlichen Gespräch ausgleichen können. Unterbleibe die Einladung, werde nach dem Gesetz eine Diskriminierung aufgrund der Schwerbehinderung vermutet. Dies sei im entschiedenen Fall von der Beklagten nicht widerlegt worden.

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9 Kommentare

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Wo ist denn da die Benachteiligung (= weniger günstige Behandlung gegenüber einer anderen Person in einer vergleichbaren Situation - § 3 Abs. 1 AGG)? In vergleichbarer Situation wären doch wohl nur andere Bewerber, die im Eignungstest durchgefallen sind und die werden im Zweifel auch nicht eingeladen worden sein.

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"Vermutungen" und "Beweislastumkehrungen" spielen im AGG eine ganz wesentliche Rolle, auch wenn das noch nicht überall in der Rechtsprechung und (Fach-)Öffentlichkeit angekommen ist. Das zitierte Urteil des LAG Schleswig-Holstein zeigt, dass man langsam aber sicher jetzt aber doch anfängt, das AGG zu verstehen. Und langsam setzt sich durch, dass die Regelungen des AGG ernst zu nehmen und nicht im Sinne einer ungeschriebenen und gesetzwidrigen allgemeinen Rechtsmißbrauchsvermutung zu ignorieren sind. In Deutschland dauert das wegen Diller, Jahn & Konsorten halt manchmal etwas länger...

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Mir erscheint es eher so, das das AGG missverstanden wird und die Rechtsprechung im vorauseilenden Gehorsam zu einem politisch korrekten (und wünschenswerten) Ergebnis gelangt, obwohl die Anspruchsgrundlage das nicht hergibt. Denn die "Vermutungen" und "Beweislastumkehrungen" beziehen sich nicht darauf, dass eine Ungleichbehandlung vorliegt. Aus rechtsstaatlicher Sicht muss diese Entwicklung beunruhigen.

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Um mal ein wenig Verständniss bei den Ketzern zu bewirken

 

das sgb ix sieht zur Herbeiführung der Chancengleichheit verschiedene Verfahrensregeln vor. So die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Nur, wenn einem per se benachteiligten Schwerbehinderten Menschen die Gelegenheit gewährt wird, sich dem öffentlichen ArbG persönlich vorzustellen, dann nimmt er wie alle anderen an dem Auswahlverfahren teil. Wird ihm diese gesetzlich vorgeschriebene Chance genommen, dann erfährt der schwerbehinderte Mensch eine weniger günstige behandlung, als vom Gesetz vorgeschrieben. Das ist dann die Diskriminierung. Schwerbehinderte Menschen haben es bei der Bewerbung um offene Stellen schwer - schwerer als nicht schwerbehinderte. Um von Gesetzes wegen vorgesehene Verfahrensregeln zum Ausgleich solcher Nachteile verbietet sich m E jede Diskussion. 

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Gast schrieb:

Wird ihm diese gesetzlich vorgeschriebene Chance genommen, dann erfährt der schwerbehinderte Mensch eine weniger günstige behandlung, als vom Gesetz vorgeschrieben. Das ist dann die Diskriminierung. 

Sprachlich vertretbar und politisch korrekt ist das ohne Frage, nur hat leider der Gesetzgeber die Benachteiligung anders definiert.

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@ Gast #7

Dazu hat Ketzer bereits geschrieben:

Ketzer schrieb:

Wo ist denn da die Benachteiligung (= weniger günstige Behandlung gegenüber einer anderen Person in einer vergleichbaren Situation - § 3 Abs. 1 AGG)? In vergleichbarer Situation wären doch wohl nur andere Bewerber, die im Eignungstest durchgefallen sind und die werden im Zweifel auch nicht eingeladen worden sein.

(Ich gebe nur den Beitrag wieder, das bedeutet nicht, dass ich die Ansicht teile)

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stimmt und zwar weil das Gesetz für nicht Schwerbehinderte anders als bei Schwerbehinderten eine Einladung nicht vorschreibt.

 

Im persönlichen Gespräch hätten möglicherweise für den schwerbehinderten Bewerber noch Chancen bestanden. Denn er hätte möglicherweise darlegen können weshalb er den Test nicht bestanden hat. Das mag vielleicht bei einem Zuckerkranken auf eine unglückliche Insolindosierung zurück zuführen sein oder auf sonst schwerbehinderungsbedingte Nachteile, Schmerzen, Schlaflosigkeit...

 

da die Schwerbehindertenvertretung sowie der Betriebsrat bei Beachtung der Verfahrensregeln an einem solchen Gespräch teilgenommen hätten, wäre auch eine gewisse Fürsprache zu erwarten gewesen. Als Ergebnis hätte der Bewerber den Test vielleicht wiederholen dürfen.

 

All diese - denkbaren - Chancen wurden dem Bewerber genommen, daher wurde er nicht chancengleich behandelt.

 

 

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