Erste Verfassungsbeschwerden gegen das Tarifeinheitsgesetz eingelegt

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 12.07.2015

Es war zu erwarten: Unmittelbar nach Inkrafttreten des umstrittenen Tarifeinheitsgesetzes am 10.7.2015 haben mehrere kleine Gewerkschaften Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und zugleich den Antrag gestellt, die Anwendung des Gesetzes bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde einstweilen auszusetzen. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund und die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit sehen das Streikrecht eingeschränkt und wollen das Gesetz mit dem Gang nach Karlsruhe zu Fall bringen, wie die Organisationen am Freitag mitteilten. Der Marburger Bund (Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands) begründet seine Verfassungsbeschwerde damit, dass das Tarifeinheitsgesetz im Kern einen Verstoß gegen die Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz darstellt. In den Erklärungen des Marburger Bundes heißt es: „Das Tarifeinheitsgesetz richtet sich faktisch gegen eine berufsspezifische gewerkschaftliche Interessenvertretung, wie sie der Marburger Bund verkörpert. Die freie Wahl der Gewerkschaft, wie sie unser Grundgesetz garantiert, wird durch die Privilegierung der Großgewerkschaften zur Disposition gestellt.“ Und: „Eine Minderheitsgewerkschaft, die die Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder nicht mehr eigenverantwortlich und verbindlich aushandeln und durchsetzen kann, wird zwangsläufig an Attraktivität verlieren.“ Der Marburger Bund beauftragte den Göttinger Universitätsprofessor für Öffentliches Recht und Europarecht, Frank Schorkopf, mit der Vertretung beim Bundesverfassungsgericht. Auch der Vorsitzende der Pilotengewerkschaft Cockpit, Ilja Schulz, beklagte, dass mit dem Tarifeinheitsgesetz ein elementarer Grundsatz der Verfassung ausgehöhlt und kleineren Gewerkschaften die Möglichkeit genommen werde, notfalls per Arbeitskampf die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Cockpit wird bei ihrer Verfassungsbeschwerde durch den ehemaligen Bundesinnenminister Gerhard Baum (FDP) vertreten. GDL-Sprecher Stefan Mousiol sagte AFP am Freitag, die Verfassungsbeschwerde seiner Gewerkschaft werde derzeit weiter vorbereitet. Den Verfassungsbeschwerden werden von vielen Arbeitsrechtlern gute Erfolgsaussichten attestiert. Dass das Bundesverfassungsgericht den Anträgen auf einstweiligen Rechtsschutz stattgibt, wird hingegen überwiegend für unwahrscheinlich gehalten.

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2 Kommentare

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Im Hinblick auf die schon im Vorfeld erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken und die angekündigten Verfassungsbeschwerden werden die wissenschaftlichen Mitarbeiter beim BVerfG schon frühzeitig in die Prüfung eingetreten sein, ob das Gesetz verfassungsgemäß ist. Wenn das Gesetz tatsächlich - wovon die meisten Arbeitsrechtler und Verfassungsrechtler wohl derzeit ausgehen - in wesentlichen Teilen evident verfassungswidrig ist, halte ich es durchaus für wahrscheinlich, daß das BVerfG nach § 32 BVerfGG eine einstweilige Anordnung erläßt, daß Teile des Gesetzes zunächst keine Anwendung finden dürfen.

 

Denn das Hauptsacheverfahren wird wahrscheinlich 1-2 Jahre dauern. In dieser Zeit könnten kleine Gewerkschaften, deren Streikrecht und neue Tarifabschlüsse schon von den neuen Regelungen betroffen sein. Das ist im Hinblick auf die Grundrechte aus Art. 9 GG  ein drohender schwerwiegender Nachteil, der im Eilverfahren "auf Eis gelegt" werden kann (und sollte).

 

Wenn der Gesetzgeber mit heißer Nadel strickt und meint, aufgrund aktueller Entwicklungen und Stimmungen Grundrechte im Eilverfahren einschränken zu dürfen (demnächst vielleicht Bundestagsabstimmungen via Twitter?), sollte das BVerfG diesen unseriösen Verfahren ebenso rasch im Eilverfahren Einhalt gebieten.

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Alle rechtswissenschaftlichen Gutachter - ich glaube, es waren damals 9 an der Zahl - hielten das artifizielle Misstrauensvotum, mit dem Kohl die Bundestagswahl 1983 herbeiführte, für verfassungswidrig, das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Als Schröder 2005 ähnlich verfuhr, hätte nach den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht damals anlegte, jedenfalls das artifizielle Misstrauensvotum des Jahres 2005 am Grundgesetz scheitern müssen. Tat es dennoch nicht.

Deshalb wäre ich mit Prognosen vorsichtig. Bundesverfassungsgericht (und Bundesarbeitsgericht) sind immer gut für "Sensationen".

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