Verfassungsbeschwerden gegen das Mindestlohngesetz unzulässig

von Prof. Dr. Markus Stoffels, veröffentlicht am 05.07.2015

 Das neue Mindestlohngesetz beschäftigt in zunehmenden Maße die Gerichte, jetzt sogar erstmals das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Mit drei Beschlüssen vom 25. Juni 2015 hat die 3. Kammer des Ersten Senats mehrere Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, da sie als unzulässig beurteilt worden sind. Die Beschlüsse enthalten sich folgerichtig einer Stellungnahme in der Sache. Gleichwohl lassen die Entscheidungsgründe in einigen Punkten aufhorchen.

 

1. Fall: ausländische Transportunternehmen

Im Verfahren 1 BvR 555/15 (BeckRS 2015, 47766) wandten sich 14 auch in Deutschland tätige Transport- und Logistikunternehmen aus Österreich, Polen und Ungarn gegen § 16, § 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG. Zugleich beantragten sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung, um die Vorschriften bis zur Hauptsacheentscheidung vorläufig außer Kraft zu setzen. Nach § 20 MiLoG sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit Sitz im In- und Ausland verpflichtet, ihren im Inland beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt mindestens in Höhe des Mindestlohns zu bezahlen; §§ 16 und 17 Abs. 2 MiLoG enthalten Meldepflichten gegenüber der Zollverwaltung sowie Dokumentationspflichten. Diese Verfassungsbeschwerden stuft das BVerfG als unzulässig ein, da die Beschwerdeführenden sind gehalten seien, zunächst den fachgerichtlichen Rechtsweg zu beschreiten. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität sei eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden könne. Die Pflicht zur Anrufung der Fachgerichte bestehe nur in Ausnahmefällen nicht, insbesondere wenn die Anrufung der Fachgerichte unzumutbar sei. Dies sei hier nicht der Fall. Es sei zwar unzumutbar, zur Eröffnung des fachgerichtlichen Rechtswegs zunächst gegen die bußgeldbewehrten Pflichten aus dem Mindestlohngesetz zu verstoßen, um auf diese Weise eine Prüfung der angegriffenen Normen in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren zu ermöglichen. Der Grundsatz der Subsidiarität reiche jedoch weiter. Hier bestehe die Möglichkeit, vor den Fachgerichten auf Feststellung zu klagen, nicht zu den nach § 16, § 17 Abs. 2 und § 20 MiLoG gebotenen Handlungen verpflichtet zu sein. Derartige negative Feststellungsklagen seien nicht von vornherein unzulässig, denn es liege nahe, dass die Fachgerichte ein Feststellungsinteresse als gegeben ansehen würden. Interessant sind nun die kritischen Bemerkungen des BVerfG: Die vorherige Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen durch die Fachgerichte erscheine auch geboten. Deren Entscheidungen seien geeignet, die in der fachrechtlichen Diskussion bereits aufgeworfenen Unklarheiten bezüglich der Reichweite des Mindestlohngesetzes aufzubereiten; sie könnten damit auch die Bewertung des Gesetzes in verfassungs- wie unionsrechtlicher Hinsicht beeinflussen. Klärungsbedürftig sei insbesondere, ob die Voraussetzung einer Beschäftigung im Inland wie im Sozialversicherungsrecht zu verstehen sei, ob ausnahmslos jede, auch nur kurzfristige Tätigkeit auf dem Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland eine Inlandsbeschäftigung darstelle oder ob etwa eine bestimmte Dauer oder ein Bezug zu den deutschen Sozialversicherungssystemen und zu den Lebenshaltungskosten in Deutschland vorauszusetzen sei. Dabei stelle sich auch die Frage, ob eine Mindestlohnpflicht bei kurzzeitigen Einsätzen in Deutschland erforderlich ist, um die mit dem Mindestlohngesetz verfolgten Ziele zu erreichen. Die Fachgerichte seien darüber hinaus aufgerufen, von den Beschwerdeführenden aufgeworfene unionsrechtliche Fragen aufzuarbeiten, soweit diese entscheidungserheblich seien. Die Beschreitung des fachgerichtlichen Rechtswegs sei nicht deshalb unzumutbar, weil die Beschwerdeführenden den Eintritt schwerer Nachteile bei Fortgeltung des Mindestlohngesetzes befürchten. Es bestünden Zweifel an einer hinreichenden Substantiierung, soweit Insolvenzrisiken der betroffenen Unternehmen behauptet, aber nicht mit Bilanzen belegt würden. Jedenfalls könne zur Vermeidung von Nachteilen insoweit vorläufiger Rechtsschutz der Fachgerichte in Anspruch genommen werden. Eine Vorabentscheidung sei auch nicht wegen allgemeiner Bedeutung der Verfassungsbeschwerde angezeigt, da dem Vorteil einer vorherigen Befassung der Fachgerichte nur verhältnismäßig geringe Belastungen der Beschwerdeführenden durch die Verweisung auf den fachgerichtlichen Rechtsweg gegenüberstünden. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigte sich dann zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

 

2. Fall: 17jähriger Arbeitnehmer

Der 17-jährige Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 37/15 (BeckRS 2015, 47765), der mit einem Stundenlohn von 7,12 € in der Systemgastronomie beschäftigt ist und im September 2015 eine Ausbildung beginnen wird, wendet sich gegen § 22 Abs. 2 MiLoG, wonach Kinder und Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung keinen Anspruch auf Mindestlohn haben. Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG, weil Volljährige für dieselbe Tätigkeit den gesetzlichen Mindestlohn erhielten. Das BVerfG meinte auch hier, dass darüber müssen zunächst die Fachgerichte entscheiden müssten. Zudem habe der Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass ihm hierdurch ein schwerer und unabwendbarer Nachteil drohe.

 

3. Fall Zeitungszustellerin rügt Geltung des Mindestlohns erst ab 2017

Im Verfahren 1 BvR 20/15 (BeckRS 2015, 47764) wandte sich die Beschwerdeführerin gegen § 24 Abs. 2 MiLoG, der für Zeitungszustellerinnen und Zeitungszusteller nach einer schrittweisen Anhebung einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 € brutto erst ab 1. Januar 2017 vorgibt. Auch dieser Verfassungsbeschwerde war kein Erfolg beschieden. Die Karlsruher Richter vermissen hier bereits einen substantiierten Vortrag der Beschwerdeführerin, durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt zu sein. Es fehlten Angaben dazu, ob die Beschwerdeführerin die Voraussetzungen einer Zeitungszustellerin erfüllt, wie sie in § 24 Abs. 2 Satz 3 MiLoG genannt sind, und zu einer aktuellen Vergütung, die unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 € brutto je Zeitstunde liegen müsste.

Aller Voraussicht nach werden dies nicht die letzten Entscheidungen des BVerfG zum Mindestlohn gewesen sein, zumal die Karlsruher Richter sehr genau dargelegt haben, welcher Weg zu beschreiten ist, um mit einer dann zulässigen Verfassungsbeschwerde eine verfassungsgerichtliche Überprüfung erreichen zu können.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

Kommentare als Feed abonnieren

Kommentar hinzufügen