BAG bittet EuGH um Klarstellung des "Alemo-Herron"-Urteils

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 24.06.2015

Dieses Vorabentscheidungsersuchen kommt wenig überraschend: Der für das Tarifrecht zuständige Vierte Senat bittet den EuGH um Klärung, welche Wirkungen eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel auf einen bestimmten Tarifvertrag hat, wenn der Betrieb nach § 613a BGB auf einen Erwerber übergeht und dieser an andere Tarifwerke gebunden ist als der Veräußerer.

In seiner älteren Judikatur (z.B. BAG, Urt. vom 26.9.2001 - 4 AZR 544/00, NZA 2002, 634, 636 f.) hatte das BAG derartige Verweisungsklauseln (nur) als sog. "Gleichstellungsabrede" interpretiert: Sie sollten gewährleisten, dass auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer dieselben Tarifverträge Anwendung finden wie auf Gewerkschaftsmitglieder. Selbst wenn der Tarifvertrag im Arbeitsvertrag namentlich benannt war ("Es gelten die Tarifverträge der baden-württembergischen Metallindustrie") galt nach dem Betriebsübergang nicht mehr dieser, sondern derjenige Tarifvertrag, an den der Betriebserwerber gebunden war (auch und insbesondere dann, wenn er einer anderen Branche mit schlechteren Arbeitsbedingungen angehörte). Diese Rechtsprechung wurde seit jeher heftig kritisiert, weil sie die Bedeutung der Bezugnahme als konstitutive Regelung verkenne und der Klausel eine Wirkung beimesse, die mit dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht vereinbar sei (namentlich Thüsing/Lambrich RdA 2002, 193 ff.; dies. NZA 2002, 1361 ff.). Das BAG hat seine Judikatur daraufhin modifiziert: Für vor dem 1.1.2002 abgeschlossene Altverträge hält das Gericht aus Gründen des Vertrauensschutzes an der "Gleichstellungsabrede" fest (BAG, Urt. vom 11.12.2013 - 4 AZR 473/12, NZA 2014, 900, 901 f.). Für ab dem 1.1.2002 abgeschlossene Arbeitsverträge trägt es der Kritik dagegen Rechnung: Anders als früher könne heutzutage nicht mehr i.S. einer typisierenden Betrachtung davon ausgegangen werden, dass den den Arbeitsvertragsinhalt in aller Regel vorgebenden Arbeitgebern die mögliche Bedeutung einer dynamischen Bezugnahmeklausel bei zukünftigen Änderungen hinsichtlich der Tarifgebundenheit nicht bewusst gewesen sei. Die seit Jahren geführte kontroverse Diskussion um die Auslegung der Bezugnahmeklauseln rechtfertige es zunehmend weniger, bei der Auslegung unabhängig vom Wortlaut und den dem Arbeitnehmer erkennbaren Umständen von typischen Interessen und Motiven des Arbeitgebers auszugehen (BAG, Urt. vom 14.12.2005 - 4 AZR 536/04, NZA 2006, 607, 609; Urt. vom 22.10.2008 - 4 AZR 793/07, NZA 2009, 323, 325 f.). Der Bezugnahmeklausel kann daher eigenständige Bedeutung zukommen. Ist die vertraglich in Bezug genommene Regelung für den Arbeitnehmer günstiger als diejenige, die normativ auf das Arbeitsverhältnis einwirkt, genießt sie gem. § 4 Abs. 3 TVG den Vorrang.

Allerdings gerät diese Rechtsprechung mit derjenigen des EuGH in Konflikt: In der (englischen) Rechtssache Alemo-Herron hat der Gerichtshof entschieden, es sei den Mitgliedstaaten verwehrt, vorzusehen, dass im Fall eines Unternehmensübergangs die Klauseln, die dynamisch auf nach dem Zeitpunkt des Übergangs verhandelte und abgeschlossene Tarifverträge verweisen, gegenüber dem Erwerber durchsetzbar sind, wenn dieser nicht die Möglichkeit hat, an den Verhandlungen über diese nach dem Übergang abgeschlossenen Tarifverträge teilzunehmen (EuGH, Urt. vom 18.7.2013 - C-426/11, NZA 2013, 835, 836).

Es war daher erwartet worden, dass das BAG bei nächster Gelegenheit den EuGH um Klärung ersucht, ob angesichts der rechtlich anderen Struktur deutscher Verweisungsklauseln die Erkenntnisse aus dem Alemo-Herron-Urteil auch hierzulande Geltung beanspruchen. Diese Gelegenheit bot sich zur Überzeugung des Vierten Senats vergangene Woche im Verfahren 4 AZR 61/14. Vereinfacht geht es um folgenden Sachverhalt: Der Kläger ist in einem Krankenhaus beschäftigt, dessen Träger ursprünglich ein Landkreis war. In seinem Arbeitsvertrag ist auf bestimmte Tarifverträge des öffentlichen Dienstes Bezug genommen. 1997 wurde das Krankenhaus privatisiert. Die neue Arbeitgeberin gehört dem Kommunalen Arbeitgeberverband nicht an. Sie wendet deshalb andere - für den Kläger ungünstigere - Regelungen an. Der Kläger meint, infolge der vertraglichen Verweisungsklausel fänden auf sein Arbeitsverhältnis auch weiterhin der TVöD-VKA und der TVÜ-VKA Anwendung.

Das BAG meint, nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB sei der Erwerber eines Betriebsteils an eine dynamische Bezugnahmeklausel vertraglich so gebunden, als habe er diese Vertragsabrede selbst mit dem Arbeitnehmer getroffen. Es fragt jetzt beim EuGH an, ob dieser Auslegung des nationalen Rechts unionsrechtliche Vorschriften - insbesondere Art. 3 der Richtlinie 2001/23/EG und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - entgegenstehen.

Angesichts der in der Pressemitteilung mitgeteilten Daten überrascht allerdings, dass das BAG gerade diesen Fall ausgewählt hat. Das Arbeitsverhältnis des Klägers hatte nämlich bereits 1978 - und damit lange vor dem 1.1.2002 - begonnen. Wenn er nicht zwischenzeitlich einen neuen Arbeitsvertrag erhalten hat, dürfte sein Vertrag also noch ein "Altvertrag" sein, auf den weiterhin die Regeln über die Gleichstellungsabrede Anwendung finden (vgl. BAG, Urt. vom 11.12.2013 - 4 AZR 473/12, NZA 2014, 900, 901 f.). Schon nach nationalem Recht wären daher nicht mehr die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes, sondern die im Betrieb der beklagten Betriebserwerberin geltenden Tarifwerke anzuwenden. Die Klage wäre daher abweisungsreif gewesen. Ein Konflikt mit der Alemo-Herron-Judikatur des EuGH besteht hier - anders als bei seit der Schuldrechtsreform abgeschlossenen Neuverträgen - gerade nicht.

BAG, Beschl. vom 17.6.2015 - 4 AZR 61/14 (A)

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2 Kommentare

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"Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Union ein weiteres Verfahren mit den gleichen Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (- 4 AZR 95/14 (A) -). Beklagte in dem dortigen Verfahren ist ein anderes Unternehmen desselben Konzerns." — Vielleicht ist in diesem Verfahren ein Neuvertrag streitgegenständlich...

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Es wird wohl so sein, dass es sich um einen sog. Altvertrag handelt. Das Entscheidende ist aber doch Ende der 90'er Jahre passiert als die Privatisierungdes Krankenhauses  erfolgte. Durch den PÜV (Personalüberleitungsvertrag) muss es zu einer Änderung des ursprünglichen Arbeitsvertrages gekommen sein, indem die dortige Verweisungsklausel Inhalt des Arbeitsvertrages wurde. Da laut Pressemitteilung der "neue" Arbeitgeber nicht Mitglied  in der KAV war, gab es eine dynamische Verweisung, denn die Rspr. zur Gleichstellungsabrede bei Altverträgen gilt nicht, wenn der damalige Arbeitgeber nicht tarifgebunden war. Anderenfalls hätten wir zum Juli 2008 keine dynamische Verweisungsklausel und damit keine "Alemo-Herron"-Konstellation. ME dürfte der Senat den Fall ausgesucht haben, weil es sich um einen Betriebsübergang in einem Konzern handelt....

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