Mal wieder was Altes: Eigentlich sollte nur vernommen werden - dann gab`s aber ein Urteil

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 06.02.2015
Rechtsgebiete: OrdnungswidrigkeitenOLG KölnVerkehrsrecht|2928 Aufrufe

Ich bin gerade im Göhler OWi-Kommentar auf OLG Köln NZV 2003, 46 gestoßen. Kannte ich bisher noch nicht, obwohl die Geschichte wirklich kurios ist. Das zuständige Gericht lässt den Betroffenen (damals auch schon nicht mehr richtig) durch ein anderes Gericht im Wege der Rechtshilfe vernehmen. Das Rechtshilfegericht ist dann vollkommen neben der Spur als der Betroffene nicht erscheint und spricht die Verwerfung des Einspruchs duch Urteil aus. Da ist man sprachlos:

Es wird festgestellt, dass das angefochtene Urteil unwirksam ist.

Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist damit gegenstandslos.

Soweit Kosten durch das Urteil und seine Anfechtung entstanden sind, werden sie niedergeschlagen.

Gründe

I.

Der Bürgermeister der Hansestadt Lübeck hat am 22. Juni 2001 gegen den Betroffenen einen Bußgeldbescheid über 336,00 DM wegen Überschreitens der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit um 44 km/h erlassen und ihm gemäß § 25 StVG für die Dauer von einem Monat verboten, Kraftfahrzeuge aller Art im Straßenverkehr zu führen. Gegen diesen am 29. Juni 2001 zugestellten Bußgeldbescheid legte der Betroffene am 02. Juli 2001 Einspruch beim Bürgermeister der Stadt Lübeck ein.

Weil der Betroffene in der JVA Euskirchen in Haft saß, erging durch das Amtsgericht Lübeck am 16.11.2001 der Beschluss, den Betroffenen durch einen ersuchten Richter zur Beschuldigung zu vernehmen. Die auf dem Verfügungsvordruck als Rechtsgrundlage aufgeführte Vorschrift des § 73 Abs. 3 S. 1 OWiG wurde durchgestrichen. Anschließend wurden die Akten an das Amtsgericht Euskirchen mit dem Ersuchen übersandt, den Betroffenen "über die Beschuldigung zu vernehmen und mit ihm die Rücknahme des Einspruchs zu erörtern".

Das Amtsgericht Euskirchen bestimmte daraufhin Termin zur Vernehmung des Betroffenen auf den 04. März 2002, zu dem dieser mit Zustellungsurkunde in der JVA geladen wurde. In der nichtöffentlichen Sitzung am 04.03.2002, in der der Amtsrichter unter Verweis auf § 78 Abs. 5 OWiG von der Hinzuziehung eines Protokollführers absah, wurde festgestellt, dass der Betroffene nicht erschienen war. Daraufhin erließ der Amtsrichter des Amtsgerichts Euskirchen in der Sitzung ein Urteil, durch das der Einspruch des Betroffenen verworfen wurde.

Mit Beschluss vom 08.03.2002 hob der Amtsrichter sein Urteil "wegen Unzuständigkeit" auf und übersandte die Akten zur weiteren Veranlassung zurück an das Amtsgericht Lübeck. Dieses verwies in einem Vermerk darauf, dass das Urteil vom 04.03.2002 nicht durch Beschluss aufgehoben werden könne und übersandte die Akten erneut an das Amtsgericht Euskirchen, dass daraufhin mit Beschluss vom 27.03.2002 seinen das Urteil aufhebenden Beschluss vom 08.03.2002 aufhob und die Zustellung des Urteils an den Betroffenen veranlasste. Diesem wurde das Urteil am 09.04.2002 und der Staatsanwaltschaft Lübeck am 26.04.2002 zugestellt. Diese legte unter dem Datum vom 03.05.2002, beim Amtsgericht Euskirchen eingegangen am 08.05.2002, Rechtsbeschwerde gegen das Urteil vom 04.03.2002 ein, die sie unter Hinweis auf § 68 Abs. 1 OWiG, wonach zuständiges Gericht das Amtsgericht Lübeck sei, mit der Unzuständigkeit des Amtsgerichts Euskirchen begründete.

Die Generalstaatsanwaltschaft Köln hat beantragt, die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft als unzulässig zu verwerfen, weil die Wochenfrist für die Einlegung nicht gewahrt sei.

II.

Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Lübeck ist gegenstandslos, weil das angefochtene Urteil nichtig ist. Dies kann der Senat klarstellend aussprechen, da er aufgrund der Rechtsbeschwerde mit der Sache befasst ist.

Die Nichtigkeit des Urteils folgt allerdings nicht schon aus dem das Urteil aufhebenden Beschluss des Amtsgerichts Euskirchen vom 08.03.2002, da das Amtsgericht nicht befugt war, sein eigenes Urteil durch Beschluss aufzuheben. Dies kann im Ordnungswidrigkeitenrecht nur im Wege der Rechtsbeschwerde durch das Rechtsbeschwerdegericht (§§ 79 ff. OWiG), im Strafverfahren durch das Berufungs- oder Revisionsgericht erfolgen (§§ 312 ff., 333 ff. StPO).

Das Urteil ist aber deshalb unwirksam, weil seine Fehlerhaftigkeit so evident dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung widerspricht, dass es unerträglich erscheint, sie als verbindlich hinzunehmen (vgl. hierzu BGH NStZ 1984, 279; BGHSt 10, 278 [281]; 33, 126 [127]; RGSt 72, 78; OLG Düsseldorf VRS 75, 50 [52]; Luther ZStW 70 (1958), 88 ff.).

1.

Im Schrifttum wird die Möglichkeit, gerichtliche Entscheidungen als nichtig anzusehen, vielfach abgelehnt (umfassend Roeder ZStW 79 (192), 250 ff; Grünwald ZStW 76 (1964), 250 ff.). So wird insbesondere angeführt, dass es zum Wesen der materiellen Rechtskraft gehöre, dass der rechtskräftig entschiedene Fall grundsätzlich endgültig erledigt sei, dass es also mit der Entscheidung "sein Bewenden" habe (Sarstedt, JR 1955, 351; Grünwald ZStW 76 (1964), 250 [251 ]; Peters, Strafprozess, 4. Aufl., 1985, § 55 I; Rieß in LöweRosenberg, StPO, 25. Aufl., Einl. Abschnitt J, Rn 123.). Für Ausnahmefälle, in denen dies nach Meinung des Gesetzgebers zu nicht hinnehmbaren Unzuträglichkeiten führe, stelle die Rechtsordnung spezielle Vorschriften bereit, um in einem geordneten Verfahren die Rechtskraft zu überwinden. Das sei nach der StPO in erster Linie die Wiederaufnahme des Verfahrens ( §§ 359 ff StPO). Daneben treten die Möglichkeiten der Verfassungsbeschwerde sowie der verfassungsrechtlichen Wiederaufnahme nach § 79 BVerfGG bei Wegfall der verfassungsrechtlichen Grundlage einer strafrechtlichen Entscheidung.

Andere als diese Rechtsbehelfe enthalte die StPO aber gerade nicht, insbesondere keine außerordentlichen Rechtsbehelfe wie etwa eine Kassation oder Nichtigkeitsbeschwerde, mit denen über die Wiederaufnahme hinaus auch nach Rechtskrafteintritt Rechtsfehler mit dem Ziel der Durchbrechung der Rechtskraft geltend gemacht werden könnten (Rieß in LöweRosenberg, StPO, 25. Aufl., Einl. Abschnitt J, Rdnr 124.). Unsere Rechtsordnung gehe damit erkennbar davon aus, dass im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens auch inhaltlich unrichtige Strafurteile als verbindlich anerkannt werden müssen.

Soweit in der Literatur eine Nichtigkeit in Betracht gezogen wird, soll dies dort der Fall sein, wo die gewollten Wirkungen einer Entscheidung vom Standpunkt unseres Rechts aus nicht denkbar sind oder sich die Entscheidung mit den Grundprinzipien unserer rechtsstaatlichen Staatsordnung in Widerspruch setzt (Grünwald ZStW 76 (1964), 250 ). Nach Peters (Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, § 55 I) soll ein Urteil dann nichtig sein, wenn es Mängel aufweist, "bei denen der Bestand des Urteils für die Rechtsgemeinschaft unerträglich wäre [und] bei denen die Aufrechterhaltung des Urteils der Autorität des Rechtes und der Rechtspflege mehr Abbruch täte als die Anerkennung der Nichtigkeit". Sax (ZZP 67 (1954), 39 ff.) bejaht eine Nichtigkeit immer dann, wenn die Entscheidung nicht auf dem für einen Konfliktfall dieser Art abstrakt möglichen Verfahrensweg oder nicht unter Anwendung des möglichen materiellen Rechts ergeht.

2.

Die Rechtsprechung hält nichtige Entscheidungen grundsätzlich für möglich. Sie stellt ähnlich wie die Befürworter in der Literatur darauf ab, dass es für die Rechtsgemeinschaft wegen des Ausmaßes und des Gewichts der Fehlerhaftigkeit geradezu unerträglich wäre, eine Entscheidung als verbindlich hinzunehmen, wenn sie dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung widerspreche (BGH NStZ 1984, 279; RGSt 72, 78; OLG Düsseldorf VRS 75, 50 [52]; Luther ZStW 70 (1958) 88 ff.). Zusätzlich wird vielfach verlangt, dass dieser Mangel für eine verständigen Beobachter offen zu Tage liegt, also evident sein müsse (BGHSt 10 278 [281]; 33, 126 [127]; NStZ 1984, 279; OLG Düsseldorf VRS 75, 50 [52]). Teilweise wird diese Auffassung auch im Schrifttum vertreten (vgl. Kohlhaas in Löwe-Rosenberg, 21. Aufl., 1961, Vor § 151, 26 a; dagegen Rieß in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl., Einl. Abschnitt J, Rdnr 128, der meint, dass es nicht akzeptabel sei, dass einerseits inhaltliche Gerechtigkeitserwägungen die Nichtigkeit erfordern, diese aber auf solche Fälle beschränkt bleiben soll, bei welchen die Unwirksamkeit offen zu Tage tritt).

3.

Auch der Senat teilt die Auffassung, dass eine Entscheidung als nichtig anzusehen ist, wenn es für die Rechtsgemeinschaft unerträglich wäre, sie als verbindlich hinzunehmen, wenn sie dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der Rechtsordnung widerspricht. Gänzliche Unwirksamkeit mit der Folge rechtlicher Unbeachtlichkeit einer gerichtlichern Entscheidung kann zwar nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1954, 400; BGHSt 29, 351 [352]; RGSt 72, 176 [180f]). Das folgt aus den Erfordernissen der Rechtssicherheit und der ihr dienenden Autorität gerichtlicher Entscheidungen sowie aus der Gesamtstruktur des Strafverfahrens mit seinem zur Korrektur fehlerhafter Entscheidungen bestimmten Rechtsmittelsystem. Denn die Annahme rechtlicher Unbeachtlichkeit oder Nichtigkeit einer richterlichen Entscheidung führt dazu, dass jedermann sich in jeder Verfahrenslage, auch nach Rechtskraft der Entscheidung, auf deren Unwirksamkeit berufen kann, und zwar auch außerhalb der Ordnung, die das Strafverfahrensrecht mit dem ihm eigenen Kontrollmechanismus darstellt. Nach der Verfahrensordnung an sich endgültigen Entscheidungen fehlt, bei Annahme ihrer Nichtigkeit, die Maßgeblichkeit (BGHSt 29, 351 [353]); sie müssen und dürfen nicht beachtet werden.

Ein zur Nichtigkeit führender Verstoß ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Aufrechterhaltung des Urteils der Autorität des Rechts und der Rechtspflege mehr Abbruch täte als die Anerkennung der Nichtigkeit (Peters, Strafprozess, 4. Aufl., 1985, S. 519; KMR, StPO, 31. Lieferung, Stand: Feb. 2002, Einl X Rdnr 8; Spendel ZStW 67, 561; ders. JZ 1958, 547) . Es sind solche Urteile, die dem Geiste der StPO in schwerster Weise widersprechen (vgl. RGSt 40, 273; BGHSt 29, 351 [352]) und in ihren Folgen nicht hingenommen werden können (Peters, Strafprozess, 4. Aufl., 1985, § 55 I).

So liegt es auch in dem hier zu entscheidenden Fall. Denn das Amtsgericht Euskirchen war unter keinem denkbaren Gesichtspunkt befugt, das angefochtene Urteil zu erlassen. Schon die vom Amtsgericht Lübeck erbetene und vom Amtsgericht Euskirchen ursprünglich wohl beabsichtigte kommissarische Vernehmung des Betroffenen war nach der Neufassung des Ordnungswidrigkeitengesetzes durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze vom 26.02.1998 (BGBl I 156, 340) unzulässig (vgl. BGHSt 44, 345 f. = NJW 1999, 961 = NStZ 1999, 250). Der Betroffene ist auch nicht zur Hauptverhandlung geladen worden, sondern nur zum Zwecke seiner - unzulässigen - kommissarischen Vernehmung. Darüber hinaus ist das Urteil auch nicht in einer ordnungsgemäßen Hauptverhandlung ergangen. Eine Öffentlichkeit der Verhandlung (§ 169 S. 1, § 173 Abs. 1 GVG), die auch im Bußgeldverfahren geltendes Prinzip ist (Göhler-König/Seitz, OWiG, 13. Aufl., § 71 Rn 56a) hat nicht stattgefunden, sondern lediglich eine nichtöffentliche Sitzung. Schließlich war das Amtsgericht Euskirchen für den Erlass eines Urteils in dieser Sache auch örtlich nicht zuständig; dies war gem. § 68 Abs. 1 OWiG allein das Amtsgericht Lübeck. Insgesamt ist das Urteil damit unter so evidenten Verstößen gegen wesentliche Prinzipien der Rechtsordnung zustande gekommen, dass es unerträglich erscheint, es als verbindlich hinzunehmen. Es ist deshalb als nichtig anzusehen.

Die Entscheidung über die Nichterhebung von Verfahrenskosten beruht auf § 8 Abs. 1 S. 1 GKG.

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