FAER: Verdammte Übergangsvorschriften!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 14.01.2015
Rechtsgebiete: FaERNebenstrafrechtStrafrechtVerkehrsrecht|3210 Aufrufe

Ich kenne eigentlich keinen Praktiker, der mit dem Übergang vom VZR zum FAER zufrieden ist. Der Reformbedarf war sicher da. Die neuen Regeln sind an manchen Stellen auch einfacher. Aber: Dafür gibt es Übergangsvorschriften, deren Anwendung im Einzelfall schwierig ist. Beispiel hier: Der Betroffene hatte nach altem Recht 18 Punkte zusammen. Dann kam es aber bei der Umstellung des FAER zu einer Reduzierung gem. § 4 Abs. 5 S. 2 StVG a. F. Nach neuem Recht sind im FAER noch 7 Punkte eingetragen.

Der amtliche Leitsatz:

Sind vor dem 1. Mai 2014 18 Punkte wegen Zuwiderhandlungen erreicht worden, die teilweise danach gemäß der Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG n. F. zu löschen sind, bevor die Einordnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n. F. vorgenommen wird, bleibt im vorläufigen Rechtsschutz offen, ob der Betroffene die Fahreignung verloren hat (wie VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 02.09.2014 - 10 S 1302/14). 

aus dem Beschluss:

Die Antragsgegnerin hörte den Antragsteller am 16. Oktober 2014 zu der beabsichtigten Entziehung der Fahrerlaubnis an. Die Antragsgegnerin entzog dem Antragsteller mit Ordnungsverfügung vom 28. Oktober 2014 - zugestellt am 30. Oktober 2014 - die Fahrerlaubnis und forderte zur sofortigen Abgabe des Führerscheins auf. Zugleich setzte sie Verwaltungskosten in Höhe von 153,45 Euro einschließlich Auslagen fest.
Der Antragsteller hat am 12. November 2014 Klage erhoben (6 K 7479/14), über die bislang nicht entschieden ist, und um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
II.
Das Gericht folgt dem auf § 80 Abs. 5 VwGO gestützten Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner fristgemäß erhobenen Klage (6 K 7479/14) anzuordnen. Es lässt sich mit den beschränkten Möglichkeiten, die im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO zur Verfügung stehen, nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen, dass der angefochtene, nach § 4 Abs. 9 StVG sofort vollziehbare Bescheid vom 28. Oktober 2014 wahrscheinlich rechtmäßig ist, die Klage also erfolglos bleiben wird.
Nach altem Recht, also nach dem Straßenverkehrsgesetz in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung, hatte der Antragsteller die Fahreignung verloren, weil er bereits mit der rechtskräftigen Ahndung der Verkehrszuwiderhandlung vom 12. Februar 2013 die insofern maßgebliche Schwelle von 18 Punkten erreicht hatte, vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG a. F.
Nach den Vorschriften des seit dem 1. Mai 2014 geltenden Straßenverkehrsgesetzes, insbesondere dessen Überleitungsvorschrift § 65 Abs. 3 StVG n. F., hat der Antragsteller lediglich 7 Punkte erreicht und damit die Fahreignung noch nicht verloren, vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n. F.
Insofern stellt sich die Frage, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Fahreignung des Antragstellers abzustellen ist. Der entscheidungserhebliche Zeitpunkt richtet sich gemäß ständiger Rechtsprechung nach materiellem, nicht nach Prozessrecht. Nur wenn das materielle Recht keine - in der Regel durch Schlussfolgerungen zu ermittelnden - Vorgaben macht, gilt, dass bei Anfechtungsklagen, die sich (wie hier) nicht gegen Verwaltungsakte mit Dauerwirkung richten, der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich ist. Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis ist auf letzteren abzustellen, hier also auf die Bekanntgabe der Entziehungsverfügung am 30. Oktober 2014.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28. Juli 2014 - 16 B 752/14.
Die Antragsgegnerin hat die Fahrerlaubnis nur dann zu Recht entzogen, wenn die im Jahr 2012 unter Geltung des alten Rechts erreichten 18 Punkte dergestalt fortwirken, dass sie nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n. F. in 8 Punkte des neuen Punktesystems umzurechnen waren. Hierfür könnte die bisherige Rechtsprechung zum „Erreichen“ von Punkteschwellen sprechen. Danach gilt als allgemeiner Grundsatz, dass der Fahrerlaubnisinhaber, der einmal die - nach dem Rechtsstand bis zum 1. Mai 2014 maßgebliche - Schwelle von 18 Punkten erreicht, in dem Augenblick seine Fahreignung verliert, mag sich sein Punktestand auch später, und zwar vor Erlass der Entziehungsverfügung, noch reduzieren.
Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 21. November 2013 - 16 B 1288/13 mit weiteren Nachweisen u. a. der Rspr. des BVerwG.
Man könnte für unerheblich halten, ob die Punktereduzierung aufgrund von Tilgungen oder - wie hier - aufgrund von Überleitungsvorschriften beim Übergang zu einem neuen Punktesystem erfolgt (§ 65 Abs. 3 StVG). Danach würde dem Antragsteller die Fahreignung auch noch im Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsverfügung vom 28. Oktober 2014 fehlen.
Es sprechen jedoch auch gute Gründe dafür, dass der Gesetzgeber durch die Neufassung des StVG, insbesondere durch die Löschungsvorschrift des § 65 Abs. 3 Nr. 1 StVG n. F., die im Punktesystem typisierte Gefährlichkeit von Verkehrsdelikten neu bewertet hat und deswegen der nach altem Recht unwiderleglich vermutete Fahreignungsverlust des Antragstellers heute nicht mehr gilt. Das zeigt sich augenfällig an den Verstößen gegen das Pflichtversicherungsgesetz, die der Antragsteller zweifach begangen hat: die Punktebewertung ist von Sechs auf Null herabgesetzt worden. Damit hat der Gesetzgeber den Einfluss von Verstößen gegen das Pflichtversicherungsgesetz auf die Beurteilung der Fahreignung mit der Neufassung des StVG nahezu diametral verändert. Da dem Gesetzgeber die abschließende Befugnis zukommt, Gefahren allgemein typisiert zu bewerten, und er von dieser Befugnis mit der Neuregelung des StVG Gebrauch gemacht hat, ist das bei Entscheidungen, die - wie hier - auf der Grundlage des StVG n. F. ergehen, zu berücksichtigen.
Vgl. zu dieser Betrachtung der Übergangsvorschrift näher: VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 2. September 2014 - 10 S 1302/14 -, juris.
Welche der beiden Auffassungen vorzugswürdig ist, lässt sich im vorliegenden Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend klären. Dazu bedarf es der Durchführung eines Hauptsacheverfahrens.
Soweit die Antragsgegnerin der Auffassung ist, es hätten sich auch nach neuem Recht bereits acht Punkte für den Antragsteller ergeben, kann das Gericht dem nicht folgen. Der Verkehrsverstoß des Antragstellers vom 18. Juni 2014 erfolgte nach dem 30. April 2014, so dass die Übergangsvorschrift des § 65 Abs. 3 StVG n. F. hierauf nicht anwendbar ist. Es gilt § 4 StVG n. F. unmittelbar und einschränkungslos. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n. F. ist der Fahrerlaubnisinhaber zu verwarnen, wenn sich sechs oder sieben Punkte „ergeben“. Das wiederholt § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG n. F., nach dem die Behörde für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen hat, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat.
Vgl. zur Fortgeltung des sog. „Tattagprinzips“: OVG NRW, Beschluss vom 12. November 2014 - 16 B 1126/14 -, juris.
Sollte in § 4 Abs. 5 StVG n. F. das Ziel verfolgt worden sein, nur auf die Taten abzustellen, die der Behörde beim Ergreifen der Maßnahme bekannt waren - also zu verhindern, dass Taten, die erst nach dem Ergreifen der Maßnahme rechtskräftig geahndet werden, gem. § 4 Abs. 6 StVG nicht mehr ins Gewicht fallen -, hat der Gesetzgeber mit der gewählten Formulierung bei vorläufiger Bewertung sein Ziel verfehlt, zumindest insofern das Tattagprinzip aufzugeben.
Vgl. dazu BT-Drs. 18/2134 und die entsprechende eingehende Äußerung des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur (15. Ausschuss) vom 8. Oktober 2014 S. 9 f. Der Gesetzentwurf ist inzwischen vom Bundestag angenommen worden, vgl. Prot. 18/57 S. 5347.
§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG n. F. bestimmt nämlich durch Legaldefinition, dass sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit „ergeben“, sofern sie rechtskräftig geahndet werden (sog. Tattagprinzip). Da der Bußgeldbescheid für die Tat vom 18. Juni 2014 am 6. September 2014 bestandskräftig wurde, ergaben sich die aus ihm folgenden acht Punkte ebenfalls bereits am 18. Juni 2014. Da die nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG n. F. bei sechs oder sieben Punkten erforderliche Verwarnung dem Antragsteller erst am 30. Juni 2014 zugestellt worden ist, war sein Punktestand nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG n. F. auf sieben Punkte zu reduzieren. Die Verwarnung war weiterhin erforderlich, obwohl dem Antragsteller bereits die ersten beiden nach § 4 Abs. 3 StVG a. F. nötigen verkehrspädagogischen Hilfestellungen (Verwarnung, Aufbauseminar) gewährt worden sind, weil das StVG n. F. keine „Anrechnungsvorschrift“ bzgl. der nach dem StVG a. F. ergriffenen Maßnahmen vorsieht.
Stellt sich die Rechtslage als offen dar, hat das Gericht eine von dieser weitgehend gelöste Interessenabwägung vorzunehmen. Diese fällt zugunsten des Antragstellers aus. Bei dem rein abstrakten und streng formalisierten Mehrfachtäterpunktesystem kann die Fahreignung nur dann als entfallen angesehen werden, wenn dessen Voraussetzungen hinreichend sicher erfüllt sind. Weist das Gesetz - wie hier - beim Übergang von einem zu einem anderen Punktesystem Regelungslücken auf, die nicht ohne Weiteres und weitgehend zweifelsfrei zu schließen sind, kann das zumindest im Sofortvollzug nicht zulasten des Grundrechtsträgers gehen. Für den Antragsteller spricht insofern zudem, dass die ihm zur Last gelegten Verkehrsverstöße nach heutiger gesetzlicher Bewertung entweder auf der untersten Stufe stattgefunden haben oder gar nicht mehr zu berücksichtigen sind. Eine so besondere Gefährlichkeit des Antragstellers, dass ihm trotz der aufgezeigten Zweifel die Fahrerlaubnis für die Dauer des Klageverfahrens nicht belassen werden könnte, lässt sich aus den bisherigen Verkehrszuwiderhandlungen nicht ableiten.
Infolgedessen ist die aufschiebende Wirkung auch hinsichtlich der nach § 47 Abs. 1 S. 1 und 2 FeV erfolgten Aufforderung anzuordnen, den Führerschein abzuliefern.

VG Düsseldorf, Beschluss vom 21.11.2014 - 6 L 2677/14

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