Fall Mollath - Einige Anmerkungen zur schriftlichen Urteilsbegründung des LG Regensburg

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 20.11.2014

Die schriftlich verfassten Gründe des noch nicht rechtskräftigen Urteils im wiederaufgenommenen Prozess gegen Gustl Mollath liegen seit 14 Tagen  vor.

Ein erster Blick in die mit 120 Seiten außergewöhnlich umfangreiche Begründung bestätigt meinen Eindruck aufgrund der Pressemitteilung am Tag der mündlichen Urteilsverkündung.

Damals hatte ich von einem „salomonischen Urteil“ geschrieben und bin dafür kritisiert worden. Vielleicht habe ich das Wort „salomonisch“ unangemessen gebraucht – gemeint war, dass dieses Urteil für Herrn Mollath einerseits einen Erfolg darstellt, andererseits auch nicht. Erfolgreich für ihn ist es insofern, als die jahrelange Unterbringung aufgrund einer nachgewiesenen gefährlichen Wahnerkrankung, Ergebnis des Urteils des LG Nürnberg-Fürth, nun vom LG Regensburg nachträglich als rechtsfehlerhaft zurückgewiesen wurde. Herr Mollath ist für die Unterbringungszeiten zu entschädigen.

Dieses Urteil ist aber nur Teil eines außergewöhnlichen Gesamterfolgs: Vor gut zwei Jahren, Anfang November 2012, war Herr Mollath ein seit sechseinhalb Jahren in der forensischen Psychiatrie Untergebrachter und nahezu ohne Chance in absehbarer Zeit freigelassen und rehabilitiert zu werden. Auf seiner Seite standen zwar schon damals einige private Unterstützer, eine Strafverteidigerin und einige Journalisten. Auf der Gegenseite, die ihn als nach wie vor gemeingefährlichen Wahnkranken ansah, standen aber nicht nur das seit 2007 rechtskräftige Urteil, sondern  auch seine Behandler in der Psychiatrie, mehrere psychiatrische Gutachter, die Strafjustiz an drei bayerischen Standorten und die zunächst noch vom Ministerpräsidenten gestützte bayerische Justizministerin. Gegen diese Institutionen hat Gustl Mollath im Verlauf eines knappen Jahres die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens, und zwar in einmaliger Weise auf Antrag der Staatsanwaltschaft (!), die Freilassung aus der Unterbringung, eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde und nunmehr auch ein neues Urteil erreicht. Im Verlauf dieser Zeit wurden anhand des „Falls Mollath“ außerdem wichtige Fehlkonstruktionen aufgedeckt, was in ein Bundesgesetzgebungsverfahren (StGB) sowie ein Landesgesetzgebungsverfahren (Maßregelvollzugsgesetz) mündete. Ohne dies aktuell empirisch überprüft zu haben: Ein solcher Erfolg ist in der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte einmalig. Wer nun davon spricht (sei es auf Seiten Herrn Mollaths oder auf der Gegenseite), Herr Mollath sei insgesamt gescheitert, der hat einen verzerrten Blick auf die Wirklichkeit. Allerdings: Die verlorenen Jahre kann ihm niemand zurückgegeben; die zu erwartende Entschädigung kann diesen Verlust nicht ansatzweise ausgleichen.

Zugleich enthält das Urteil auch einen „Misserfolg“ für Gustl Mollath, weil  der schwerste Vorwurf, seine Frau am 12.08.2001 geschlagen, gebissen und gewürgt zu haben, als seine rechtswidrige Tat festgestellt wurde. Seiner Darstellung, diese Tat habe so gar nicht stattgefunden bzw. er habe sich nur gegen einen Angriff seiner Frau gewehrt, ist das LG Regensburg nicht gefolgt. Dieser Misserfolg fällt allerdings gegenüber den oben genannten Erfolgen geringer ins Gewicht.

Die  Beweiswürdigung zum Tatvorwurf am 12.08.2001, ausgeführt auf  mehr als 50 Seiten der Urteilsgründe, ist nicht nur ausführlich, sondern akribisch und auch logisch stimmig. Im Kern glaubt das Gericht den Angaben der Nebenklägerin, die sie im früheren Verfahren gemacht hat, und den Beobachtungen des Arztes, den sie zwei Tage nach der Tat aufsuchte. Eine sehr kritische Würdigung dieser Angaben war geboten, denn die Nebenklägerin hat in der Hauptverhandlung nicht ausgesagt, aber dennoch auf den geschilderten Vorwürfen beharrt. In einem Strafprozess, der als Prinzipien die Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der Beweiserhebung in der Hauptverhandlung kennt, ist ein solches Aussageverhalten  problematisch. Der BGH hat es dennoch zugelassen, die früheren Angaben eines Hauptbelastungszeugen zu verwerten, auch wenn dieser  die Aussage in der Hauptverhandlung (berechtigt) verweigert. Allerdings erweist sich eine derartige Beweiswürdigung auch im Fall Mollath als bedenklich: Die schriftlich niedergelegten Angaben der Nebenklägerin konnten praktisch nur untereinander und indirekt über die Vernehmung von Drittzeugen geprüft werden, ohne dass die Nebenklägerin in Gefahr geraten konnte, sich bei Rückfragen  in Widersprüche zu verwickeln. Da das Gericht die Nebenklägerin nie persönlich gesehen hat, konnte ein Gesamteindruck der entscheidenden personalen „Quelle“ der Vorwürfe nicht gewonnen werden. Wenn sich das Gericht dann zentral auf die früheren Aussagen stützt, muss diese Würdigung mit Leerstellen auskommen, die positiv gefüllt werden. So spricht nach Auffassung des Gerichts für die Glaubhaftigkeit der Angaben zentral, dass die Nebenklägerin zum Zeitpunkt ihrer ersten Angaben über die Tat noch nicht die Absicht gehabt habe, sich von ihrem Mann zu trennen bzw. ihn anzuzeigen. Vielmehr habe sie ja noch Monate mit ihm zusammengelebt. Gerade dieser Umstand kann aber auch umgekehrt interpretiert werden: Dass sie noch so lange mit ihm zusammengeblieben ist, könnte eher gegen einen lebensgefährlichen Angriff sprechen. Welche Absicht die Nebenklägerin mit dem Attest positiv verfolgte, ist unbekannt. Dass es keine Motive gewesen sind, die dem Wahrheitsgehalt ihrer Angaben entgegenstanden, wird vom Gericht unterstellt. Dass die Gründe in der "Vorsorge" für ein späteres Scheidungsverfahren gelegen haben könnten, wird vom Gericht nicht diskutiert. Im Übrigen stützt sich die Kammer darauf, dass es sich bei den Tatschilderungen im Kern um konstante und darum auch zuverlässige Äußerungen handele. Das Konstanzkriterium ist allerdings ein recht schwaches Wahrheitsindiz, weil es auch einer lügenden Person ohne Weiteres gelingen kann, eine konstante Tatschilderung in mehreren Vernehmungen aufrecht zu erhalten. Angaben zum Randgeschehen (wie kam es zur Tat, was passierte vorher und nachher?) sind in den verwerteten Angaben nicht enthalten. Hierzu hätte es zur Aufklärung der mündlichen Vernehmung der Nebenklägerin bedurft.

Anders als die Nebenklägerin hat sich der Angeklagte als Beweismittel gegen sich selbst auch in der Hauptverhandlung zur Verfügung gestellt. Seine Äußerung, er habe sich gewehrt, wird vom Gericht dahingehend gewürdigt, dass es jedenfalls am 12.08.2001 zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen sein müsse. Diese Würdigung ist nachvollziehbar. Wenn es eine Auseinandersetzung gab, bei der sich der Angeklagte gewehrt hat, dann kann erwartet werden, dass dieser die Auseinandersetzung auch im Einzelnen schildert. Hierzu aber schwieg der Angeklagte in der Hauptverhandlung. Es trifft allerdings nicht zu, dass sich – wie das Gericht meint (S. 66) – die Verteidigungsstrategien Mollaths (einerseits: Verletzungen vom Sprung aus dem Auto, andererseits: Verletzungen von einer Gegenwehr) widersprechen: Es ist denkbar, dass beides zutrifft und die Verletzungen von der Nebenklägerin beim Arzt als von einem einzigen Ereignis herstammend geschildert wurden.

Zentral ist der Zeuge Reichel, nach dessen Aussage er die Nebenklägerin zwei Tage nach der vorgeworfenen Tat gesehen hat und Verletzungszeichen schildert, die zu den Schilderungen der Nebenklägerin passen. Auch hier bemüht sich die Kammer, eventuelle Zweifel gar nicht erst aufkommen zu lassen. [Update 22.02.2015: Das Zustandekommen des Attests und des zugrundeliegenden Krankenblattinhalts ist sowohl inhaltlich als auch datumsmäßig  nach wie vor nicht eindeutig nachvollziehbar, diesbezügliche Widersprüche in der Darstellung Reichels wurden in der HV nicht geklärt.]

Insbesondere bleibe ich bei meiner schon kurz nach dem Urteil geäußerten Auffassung, dass die Frage der gefährlichen Körperverletzung durch eine das Leben gefährdende Handlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) für mich nicht zweifelsfrei erwiesen ist. Da es keine Fotografien der Hämatome gibt, war das Gericht allein auf die – von ihm selbst eingeräumt – unzuverlässige Erinnerung des Arztes angewiesen und auf die durch den Arzt indirekt vermittelte Angabe der Nebenklägerin. Zum Würgen (auch mit Würgemalen) gibt es eine umfassende,  im Kern auch differenzierende Rechtsprechung. Die Schlussfolgerung, nicht näher dokumentierte Würgemale gingen in jedem Falle mit einer Lebensgefährdung einher, wird in der BGH-Rechtsprechung nicht geteilt. Die Angabe der Nebenklägerin, sie sei kurzfristig bewusstlos gewesen, beruht allein auf ihrer nicht überprüfbaren und auch von keinem weiteren objektiven Indiz bestätigten Angabe.

Das Gericht kommt hinsichtlich der Schudfrage zu dem Schluss, Herr Mollath habe am 12.08.2001 nicht ausschließbar unter Einfluss einer schwerwiegenden Störung gehandelt, die nicht ausschließbar zur Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB geführt habe. Obwohl dies in dubio pro reo zu einer Entlastung Mollaths führt, so dass er für den Angriff auf seine Frau weder bestraft noch untergebracht werden kann, wird diese Wertung von ihm als belastend empfunden. Ob diese subjektive Belastung als „Beschwer“ für eine Rechtsmittel (Revision) genügt, wird sicherlich Gegenstand der Begründung des von Mollath und seinem neuen Verteidiger eingelegten Rechtsmittels  sein.

Ohne auf diese verfahrensrechtliche Frage näher eingehen zu wollen, kann man aber bezweifeln, dass die materiellen Maßstäbe, die das Gericht hier an eine Subsumtion der Merkmale des § 20 StGB (und sei es auch nur in dubio pro reo) angelegt hat, zutreffend sind.

Diese Maßstäbe werden üblicherweise recht eng gesehen: Es genügen eben nicht schon jegliche Anhaltspunkte oder die bloße Nicht-Ausschließbarkeit einer Störung zur Tatzeit, um dann per Zweifelsgrundsatz eine Exkulpation vorzunehmen. Hier hat das Gericht den Zweifelsgrundsatz doppelt wirken lassen: Erstens hinsichtlich der Frage, ob an dem Tag überhaupt eine schwerwiegende Störung vorlag und zweitens dahingehend, dass diese Störung zum Ausschluss der Steuerungsfähigkeit geführt hat. Regelmäßig sind auch psychiatrische Sachverständige nicht in der Lage, einen vorhandenen Zustand „zurückzurechnen“. Hier hat der Sachverständige weder über ein aktuelle Exploration verfügt noch über Aktenmaterial mit Begutachtungen, die zeitnah zum 12.08.2001 auf eine Störung hinwiesen. Er hat deutlich gemacht, dass man von ihm praktisch Unmögliches verlangt, wenn man erwarte, er könne eine belastbare Einschätzung zu einem 13 Jahre zurückliegenden Zeitpunkt abgeben. Das Gericht hat sich über diese Bedenken hinweggesetzt und den Sachverständigen Nedopil stärker interpretiert als es seiner Stellungnahme nach angemessen war. Natürlich kann er eine Schuldunfähigkeit vor 13 Jahren nicht „ausschließen“. Das kann niemand über den Zustand eines Menschen sagen, den er zum damaligen Zeitpunkt nicht gekannt bzw. gesehen hat. Aber für eine (wenn auch nur aufgrund des Zweifelssatzes) vorgenommene Annahme der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB reicht dieses Nichtwissen normalerweise nicht aus. Die vom Gericht für eine solche Störung aufgeführten Indizien stammen zu einem großen Teil aus der Zeit nach der Trennung der Eheleute und können daher nicht eine Tatwirksamkeit für den August 2001 belegen. Das Gericht meint, der zeitliche Zusammenhang sei „sehr eng“(S. 81), jedoch ist der situationale Zusammenhang eher fern, soweit viele weitere geschilderte Verhaltensauffälligkeiten erst nach dem Auszug der Nebenklägerin aus der gemeinsamen Wohnung auftraten. Eine belastende psychodynamische Ausnahmesituation kommt praktisch in jeder Ehekrise auf beide Partner zu. Nach dieser Logik müssten eine große Anzahl Fälle häuslicher Gewalt unter dem Blickwinkel nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit betrachtet werden.

Die Beweiswürdigung zu den anderen Tatvorwürfen hingegen stimmt mit meiner Einschätzung nach der Hauptverhandlung überein.

Das noch nicht rechtskräftige Urteil kann hier nachgelesen werden: Urteil des LG Regensburg

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Mit dem Fall Mollath zusammenhängende Fragen werden jedoch von mir weiter verfolgt. Schon für demnächst ist ein  Beitrag zur (speziellen) Frage der Revisionszulässigkeit geplant. Zu dieser Frage kann dann auch wieder diskutiert werden. 

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1753 Kommentare

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Gast schrieb:

#20

Natürlich war Prof. Nedopils Distanzierung höchst willkommen, jedoch kann auch er sich angesichts der Möglichkeiten, die Dr. L. hatte, eine Diagnose zu verifizieren, nur eingeschränkt und nur sehr allgemein äußern.

 

Der Auftrag in der Hauptverhandlung bezog sich wohl auf die psychische Verfassung des Angeklagten. Ein Auftrag, die vorherigen Gutachten zu bewerten, hätte wohl außerhalb der Hautpverhandlung erfolgen müssen. Die Bezugnahme auf die bereits erstatteten Gutachten dienten wohl nur der Begründung der abweichenden Meinung.

Unbestritten ist - nach meiner Kenntnis - dass Herr Mollath mehrere Jahre rechtswidrig zwangsweise untergebracht war. Die Strafvollstreckungskammer, die die Unterbringung zu prüfen hatte, hat ihre Entscheidung jährlich auf den sachkundigen Dr. L. gestützt. Deshalb halte ich eine kritische Würdigung der ärztlichen Tätigkeit für angemessen, solange sie sachlich ist. Ebenso ist der Umgang der Ärzteschaft, der Aufsichtsbehörden und des Landtags mit diesem besonderen sachkundigen Arzt interessant.

 

Noch immer sind doch die Hintergründe der Unterbringung unklar. Warum wurde jährlich vom BKH Bayreuth die weitere Unterbringung befürwortet? Welche vermeintliche Gefahr ging von Herrn Mollath aus? Hatte die HVB noch immer Angst, dass er sein Wissen zu Geld machen würde?

5

#23

Dass Herr Mollath "mehrere Jahre rechtswidrig zwangsweise untergebracht war" ist die eine Sache, dass Dr. L.s Diagnose unter den gegebenen Umständen nachvollziehbar ist, eine andere. Das zu verstehen erfordert allerdings, sich gründlich in die Materie einzuarbeiten: in die allgemeine Psychiatrie und vor allem auch in die Besonderheiten der forensischen Psychiatrie. Und es verlangt auch die Differenzierung zwischen dem heutigen Kenntnisstand und der Situation damals. Sie sprechen die jährlichen Stellungnahmen an und fragen: "Welche vermeintliche Gefahr ging von Herrn Mollath aus?" - Es kommt schlicht nicht darauf an, dass fast jeder heute Mollath für ungefährlich hält, es kommt ausschließlich darauf an, wie er auf diejenigen wirkte, die damals mit ihm zu tun haben. Für wie bedrohlich ein Untergebrachter gehalten wird, hat vor allem damit zu tun, wie gut man ihn einschätzen kann. Im Zweifelsfall wird man in einer Forensik immer zur Vorsicht neigen, der eine Chefarzt mehr, der andere weniger. Strikte Regeln gibt es nicht und kann es auch nicht geben, eine Entscheidung liegt letztlich immer in der Verantwortung und Risikobereitschaft der Leitung. Und die ist bekanntlich auch nicht unabhängig vom Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Da hat sich nun mit dem Fall Mollath etwas geändert, aber man kann schon erwarten, dass das nicht anhalten wird. Erst vor ein paar Tagen wurde eine Psychiaterin von einem Patienten in ihrer Praxis erschossen. Aber nicht nur die betreffenden Fachärzte sind gefährdet: endlich wurde eine Studie zur Gefährdung von ärztlichem Personal durch Patienten in Deutschland veröffentlicht, die Ergebnisse sind alarmierend wie der Trend ganz allgemein. Was die Forensik angeht, so ist sie die "letzte Wiese", wir wissen ja auch von Herrn Mollath, von welchen Gewalttätern er umgeben war. Es mag schon sein, dass die Erwartung von Gewalt zu Fehleinschätzungen führt, aber man kommt auch nicht umhin, irgendwann einmal zu akzeptieren, dass Herr Mollath alles getan hat, um eine korrekte Einschätzung zu erschweren. Wenn sich ein Untergebrachter allerdings über lange Zeit als ungefährlich erweist, ist die einmal getroffene Einschätzung und Prognose selbstverständlich zu hinterfragen. Dass er das nicht getan hat, kann man Herrn Dr. L. tatsächlich vorwerfen.

Ihre letzte Frage ist natürlich spekulativ. Wenn böse Mächte am Werk waren, wäre es schon angebracht, Dr.L.s Rolle anhand verschiedener Hypothesen zu beleuchten. Beispielsweise der, dass er selbst hätte instrumentalisiert worden sein können, ohne es zu bemerken.

2

Das Gutachten von Dr. Weinberger hat sich bewahrheitet!

Dr. Weinberger nicht anzuhören, ein Rechtsfehler, der eine Revision ermöglicht? Die „Psychokiste“ nicht aufmachen zu wollen, ein strategischer Fehler der Verteidigung ?

Herr Gustl Mollath wurde nach dem Urteil im Rahmen des WA-Verfahren für nicht gemeingefährlich gehalten und die Unterbringung damit für rechtswidrig erklärt.

Damit wurden das angeblich hochkarätige F e r n gutachten von Prof. Kröber, die Gutachten von Prof. Pfäfflin und auch das Gutachter von Dr. Leipziger zu F a l s c h gutachten. Das Gutachten von Dr. Weinberger erwies sich als das einzig professionell integre Gutachten, Mollaths Verfassung richtig beurteilende Gutachten.

Obwohl Dr. Weinberger mit keinem Wort erwähnt wurde, schloss sich das Landgericht Regensburg im August 2014 in der Hauptsache, nämlich der Ungefährlichkeit Mollaths und seiner jetzt bestehenden psychischen Gesundheit an. Dr. Weinberger hat dies in seinem Gutachten schon im April 2011 festgestellt!

Es stellt sich nun aber die Frage, weshalb sein Gutachten im Rahmen des WA-Verfahrens nicht einbezogen, der Beweisantrag Mollaths, Herrn Dr. Weinberger als Zeugen zu befragen, abgelehnt wurden. Die Abweisung der Zeugenaussage von Dr. Weinberger stellt eine Rechtsverletzung dar.

Laut Entscheidungen des BGH vom 25.2.2009 (IV ZR 27/08, NJOZ 2009, 1690) und vom 15.5.2009 (IV ZR 57/08, NJW-RR 2009, 1192) hat ein Richter substanziierte Einwendungen der Parteien zu berücksichtigen, ggf. unter Anhörung der gutachterlicher Kontrahenten.

Im Gegensatz zu Prof. Nedopil hat Dr. Weinberger im April 2011 eine persönliche Exploration mit dem damals untergebrachten Herrn Gustl Mollath durchgeführt.

Von Wichtigkeit ist, dass sich bereits am 9.Mai 2011 bei der Anhörung der Bayreuther Richter K. von der Strafvollstreckungskammer und am 27. Sept. 2012 das Bamberger OLG sich nicht adäquat und angemessen mit dem Gutachten von Dr. Weinberger vom 30. April 2011 auseinandergesetzt hat, sich dem Gutachter Prof. Pfäfflin anschloss und damit die fatale, unrechtmäßige Fortsetzung der Unterbringung für über weitere zwei Jahre zu verantworten hat.

Das Fehlurteil des OLG Bamberg und die Fehlentscheidung des Bayreuther Gerichts wurden aufgrund der Verfassungsbeschwerde durch RA Kleine-Cosack durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 26.8.2013 aufgehoben.

Kurze Zeit vorher erlangte Herr Mollath seine Freiheit. Bestand ein Zusammenhang zwischen der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde und der Freilassung? Dieses höchstrichterliche Bundesverfassungsgerichts-Urteil belegt, dass das Weinberger-Gutachten sowohl in den früheren Gerichts- wie zuletzt auch im Wiederaufnahmeverfahren Berücksichtigung hätte finden müssen. In diesem Beschluss des BVerfG wurde ungewöhnlicherweise dreimalig auf das Gutachten von Dr. Weinberger namentlich Bezug genommen.

Sehr irritierend ist, dass der Verteidiger Dr. Strate, den vom angeklagten G. Mollath ausdrücklich gewünschten Beweisantrag, Herrn Dr. Weinberger anzuhören, nicht entsprechend dieses höchstrichterlichen Urteils und im Einklang mit dem § 44 Abs. 4 StP0 ausführlich begründet und nicht nachdrücklicher unterstützt hat. Zumal nach § 44 Abs. 4 StPO ein Antrag auf ein Gegengutachten nicht abgelehnt werden kann :

„wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält.“

Dass die Grundannahme der Gutachten Leipziger, Pfäfflin und Kröber falsch waren, erkannten Dr. Simmerl wie Dr. Weinberger. 2012 wurde Mollaths angeblicher „Wahn“ durch die Veröffentlichung des Revisionsberichts der HVB für  Leipziger, Kröber und Pfäfflin­ endgültig zur Blamage.

Eine Zeugenaussage vor dem WAG des Gutachters Dr. Weinberger – dessen Gutachten bezüglich der nicht vorhandenen Gemeingefährlichkeit Recht behalten hat - hätte durchaus den Ausgang des WA-Verfahrens , die mögliche vom Gericht unterstellte Schuldunfähigkeit und damit den dubiosen Freispruch mitentscheidend beeinflussen und möglicherweise auch verhindern können.

Prof. Nedopil wäre im August 2014 mit seiner Stellungnahme, Herr Mollath könnte 2001 psychisch krank gewesen sein, höchstwahrscheinlich durch den Gutachter Dr. Weinberger arg in Bedrängnis geraten.

War die Nichtanhörung von Dr. Weinberger und das Fehlurteil u.a.eine fatale Konsequenz des wenig umfassenden Plädoyers und der erfolgsschwachen Strategie des Verteidigers Dr. Strate, die „Psycho-Kiste“ nicht aufzumachen?

Oder gab es ein gemeinsames Bestreben des LG Regensburg, des Herrn Oberstaatsanwalts, des Verteidigers und des Prof. Nedopil, die „Psychokiste“ kontrolliert und so wieder einseitig gegen Mollath zu „öffnen“? Hat solch fragwürdiges konzertiertes Vorgehen zur erneuten Stigmatisierung und Psychiatrisierung des integren Gustl Mollath und zu einem erneuten Fehlurteil geführt?

4

Sehr geehrter Herr Sponsel.

Mein Verständnis von kontradiktorischen und konträren Gegensätzen unterscheidet sich im Grunde nicht von Ihrem, vorausgesetzt Schuld ist Schuld und Freispruch ist Freispruch, das nur als Beispiel. Das muss aber nicht zwingend der Fall sein. Ein Jurist aus dem Common-Law-Bereich und ein deutscher Jurist sagen: schuldig. Beide verstehen aber unter Schuld etwas anderes, so dass wenn einer von ihnen sagt "schuldig" und der andere sagt "unschuldig", dann widersprechen sie nicht einander. Ähnliches gilt für die Unschuldsvermutung. Ein Widerspruch zu Unschuldsvermutung setzt zunächst voraus, dass der in der Unschuldsvermutung steckende Schuldbegriff genau bestimmt wird. Und das ist nicht alles. Denn auch der Beweisbegriff muss bestimmt werden. 

 

Sehr geehrter Herr Kolos,

Sie schreiben:

WR Kolos schrieb:

Mein Verständnis von kontradiktorischen und konträren Gegensätzen unterscheidet sich im Grunde nicht von Ihrem, vorausgesetzt Schuld ist Schuld und Freispruch ist Freispruch, das nur als Beispiel. Das muss aber nicht zwingend der Fall sein. Ein Jurist aus dem Common-Law-Bereich und ein deutscher Jurist sagen: schuldig. Beide verstehen aber unter Schuld etwas anderes, so dass wenn einer von ihnen sagt "schuldig" und der andere sagt "unschuldig", dann widersprechen sie nicht einander. Ähnliches gilt für die Unschuldsvermutung. Ein Widerspruch zu Unschuldsvermutung setzt zunächst voraus, dass der in der Unschuldsvermutung steckende Schuldbegriff genau bestimmt wird. Und das ist nicht alles. Denn auch der Beweisbegriff muss bestimmt werden. 

Das erscheint mir zunehmend unklarer. Außerdem sind wir hier in D und nicht im "common law" Bereich. Das Problem der Definition stellt sich also in dieser Weise hier nicht.

Da es so wichtig ist, mache ich einen neuen Versuch.

Bevor über Schuld oder Unschuld einer Straftat verhandelt werden kann, muss nach gesundem Menschenverstand und allgemeiner Wissenschaft sinnvollerweise feststehen, ob die Straftat dem Angeklagten zuzurechnen ist.

Wir haben also folgende Sachverhalte zu klären:

1) Gibt es eine Straftat? (GefKöVerl)

2) Wer hat die Straftat begangen? (GFM?)

3) Ist der Täter (vermindert) schuldfähig? (GefKöVerl?) Auf die Ausnahmen Verbotsirrtum, Notwehr, ..., gehe ich hier nicht ein.

So betrachtet setzen die Fragen 3a) Schuld, 3b) Nichtschuld, 3c) unklar das Begehen einer Straftat voraus. Wenn ich die Unschuldsvermutung richtig verstanden habe, so besagt sie nicht, es ist unklar, ob der Angeklagte schuldig war, sondern sie besagt, vor dem rechtskräftigen Urteil ist der Angeklagte / noch nicht rechtskräftig Verurteilte als unschuldig zu werten.

Schuld oder Unschuld bei Schuldunfähigkeit impliziert immer eine Straftat. Es macht keinen Sinn von Schuld oder Schuldunfähigkeit für  eine Straftat zu sprechen, die keiner begangen hat.

Zugespitzt ist die Frage: ab wann steht rechtlich fest, dass der Angeklagte die Straftat begangen hat? Nach meinem bisherigen Verständnis: mit dem rechtskräftigen Urteil, so es denn dies feststellt.

 

 

 

 

 

Vielleicht hilft das BVerfG in Sachen Unschuldsvermutung weiter (Hervorhebungen von mir):

Quote:

Die Unschuldsvermutung hat als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls Verfassungsrang (BVerfGE 74, 358 <371>). Sie verbietet zum einen, im konkreten Strafverfahren ohne prozessordnungsgemäßen - nicht notwendiger Weise rechtskräftigen - Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen, und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln; zum anderen verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor diese dem Verurteilten im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358 <371>). Als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips enthält die Unschuldsvermutung - wie auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren - allerdings keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote; ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht bedürfen vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dies ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers (BVerfGE 74, 358 <371 f.>; vgl. auch BVerfGE 7, 89 <92 f.>; 57, 250 <275 f.>; 65, 283 <291>).

http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20130319_2bvr262810

So ist beispielsweise die (prozessordnungsgemäße) Untersuchungshaft zulässig, ohne dass der Beschuldigte zuvor rechtskräftig verurteilt wurde, obwohl er - genau wie nach einer Verurteilung - inhaftiert wird.

Es ist also grundsätzlich so, dass dem Angeklagten Tat und Schuld (auch in der Reihenfolge) im Urteil nachgewiesen werden müssen, um Strafe (oder strafähnliche Maßnahmen) zu verhängen. Bis zu diesem Nachweis wird die Unschuld vermutet. Ausnahmen sind aber nach den vom BVerfG genannten Kriterien zulässig, soweit sie prozessordnungsgemäß erfolgen. Dabei gilt wie immer, dass die Prozessordnung wie auch die jeweilige Maßnahme sich am Grundgesetz messen lassen müssen.

5

Sehr geehrter Herr Sponsel,

Sie schreiben:

Wenn ich die Unschuldsvermutung richtig verstanden habe, so besagt sie nicht, es ist unklar, ob der Angeklagte schuldig war, sondern sie besagt, vor dem rechtskräftigen Urteil ist der Angeklagte / noch nicht rechtskräftig Verurteilte als unschuldig zu werten.

Nein. Die Unschuldsvermutung besagt, dass die Schuld bewiesen werden muss. Sie schützt vor allem gegen Schuldsprüche ohne Beweise. Aus der von MT oben zitierten Entscheidung des BVerfG zu Verständigungen schützt sie vor Strafaussprüchen ohne Schuldnachweis. Aber das ist so nicht ganz korrekt. Denn in Betracht kommen auch Schuldsprüche ohne Strafausspruch, für die auch die Unschuldsvermutung gilt. Nach der Entscheidung des EGMR in Sachen Cleve gegen Deutschland schützt die Unschuldsvermutung auch gegen nicht bewiesene Feststellungen und Anmerkungen zur Täterschaft des Angeklagten in Urteilsgründen freisprechender Urteile.

Sie schreiben:

Zugespitzt ist die Frage: ab wann steht rechtlich fest, dass der Angeklagte die Straftat begangen hat? Nach meinem bisherigen Verständnis: mit dem rechtskräftigen Urteil, so es denn dies feststellt.

Ja. MaW: Mit dem Schuldspruch, der mit Rechtskraft des Urteils verbindlich wird. Trifft auf das Urteil des LG Nürnberg-Fürth und Mollath aber nicht zu. Das LG hatte festgestellt, dass Mollath die ihm mit den Anklagen vorgeworfenen Taten strafbares Unrecht begangen habe, dennoch keine Straftaten, weil ihm die Schuldfähigkeit gefehlt habe. Er wurde freigesprochen und die Unschuldsvermutung bestand weiter.

Sie schreiben:

Das erscheint mir zunehmend unklarer. Außerdem sind wir hier in D und nicht im "common law" Bereich. Das Problem der Definition stellt sich also in dieser Weise hier nicht.

Sie übersehen, dass die Unschuldsvermutung auch ein Menschenrecht (6 II EMRK: Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.) ist, das für Deutschland und Großbritannien in gleicher Weise gilt.

Sie schreiben:

Bevor über Schuld oder Unschuld einer Straftat verhandelt werden kann, muss nach gesundem Menschenverstand und allgemeiner Wissenschaft sinnvollerweise feststehen, ob die Straftat dem Angeklagten zuzurechnen ist.

Ja. Als der Sachverständige vernommen wurde, war die Kammer aufgrund der zuvor geführten Beweise von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt. 

 

 

Und zum Schluss noch eine Frage von mir: Wie soll man sich die Unschuldsvermutung in Bezug auf Schuldfähigkeit denken. Gilt etwa der Angeklagte bis zum Beweis des Gegenteils als schuldunfähig? Widerspricht diese Vermutung nicht unserem Menschenbild?

WR Kolos schrieb:

Sehr geehrter Herr Sponsel,

Sie schreiben:

Wenn ich die Unschuldsvermutung richtig verstanden habe, so besagt sie nicht, es ist unklar, ob der Angeklagte schuldig war, sondern sie besagt, vor dem rechtskräftigen Urteil ist der Angeklagte / noch nicht rechtskräftig Verurteilte als unschuldig zu werten.

Nein. Die Unschuldsvermutung besagt, dass die Schuld bewiesen werden muss. Sie schützt vor allem gegen Schuldsprüche ohne Beweise. Aus der von MT oben zitierten Entscheidung des BVerfG zu Verständigungen schützt sie vor Strafaussprüchen ohne Schuldnachweis. Aber das ist so nicht ganz korrekt. Denn in Betracht kommen auch Schuldsprüche ohne Strafausspruch, für die auch die Unschuldsvermutung gilt. Nach der Entscheidung des EGMR in Sachen Cleve gegen Deutschland schützt die Unschuldsvermutung auch gegen nicht bewiesene Feststellungen und Anmerkungen zur Täterschaft des Angeklagten in Urteilsgründen freisprechender Urteile.

Sie schreiben:

Zugespitzt ist die Frage: ab wann steht rechtlich fest, dass der Angeklagte die Straftat begangen hat? Nach meinem bisherigen Verständnis: mit dem rechtskräftigen Urteil, so es denn dies feststellt.

Ja. MaW: Mit dem Schuldspruch, der mit Rechtskraft des Urteils verbindlich wird. Trifft auf das Urteil des LG Nürnberg-Fürth und Mollath aber nicht zu. Das LG hatte festgestellt, dass Mollath die ihm mit den Anklagen vorgeworfenen Taten strafbares Unrecht begangen habe, dennoch keine Straftaten, weil ihm die Schuldfähigkeit gefehlt habe. Er wurde freigesprochen und die Unschuldsvermutung bestand weiter.

Sie schreiben:

Das erscheint mir zunehmend unklarer. Außerdem sind wir hier in D und nicht im "common law" Bereich. Das Problem der Definition stellt sich also in dieser Weise hier nicht.

Sie übersehen, dass die Unschuldsvermutung auch ein Menschenrecht (6 II EMRK: Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.) ist, das für Deutschland und Großbritannien in gleicher Weise gilt.

Sie schreiben:

Bevor über Schuld oder Unschuld einer Straftat verhandelt werden kann, muss nach gesundem Menschenverstand und allgemeiner Wissenschaft sinnvollerweise feststehen, ob die Straftat dem Angeklagten zuzurechnen ist.

Ja. Als der Sachverständige vernommen wurde, war die Kammer aufgrund der zuvor geführten Beweise von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt. 

Und zum Schluss noch eine Frage von mir: Wie soll man sich die Unschuldsvermutung in Bezug auf Schuldfähigkeit denken. Gilt etwa der Angeklagte bis zum Beweis des Gegenteils als schuldunfähig? Widerspricht diese Vermutung nicht unserem Menschenbild?

# Dr. Sponsel # MT

Sehr geehrter Herr Kolos!

Als Nichtjurist habe ich Schwierigkeiten Ihre wichtige n a c h f o l g e n d e Aussagen nachzuvollziehen. Wenn Ihre Aussage der allgemeinen justiziellen Praxis entspricht, ergäben sich auch im Fall Mollath sehr bemerkenswerte Fragen!

Ihre Aussage: "Ja. Als der Sachverständige vernommen wurde, war die Kammer aufgrund der zuvor geführten Beweise von der Täterschaft des Angeklagten ü b e r z e u g t".

Aus dieser Aussage wäre zu folgern, dass der Oberstaatsanwalt und auch der Verteidiger, Dr. Strafe bereits v o r  dem Urteilspruch über die nachgewiesene Belastung mit der Körperletzung informiert war und diese Art von Vorentscheidung an den angeklagten Herrn Mollath nicht weitergegeben wurde und er den Ernst der Prozesslage vor dem Urteilsspruch nicht realisieren konnte!

Daraus würde sich  dann die Konsequenz ergeben haben , dass Herr Mollath sich bei seiner                      S c h l u s s e r k l ä r u n g, die m.E. n a c h  der Anhörung von Prof. Nedopil war, nicht ausreichend realistisch vorbereiten und deshalb auch nicht angemessen auf die wichtige Frage der Vorsitzenden Richterin bezüglich der Körperverletzung  eingehen konnte bzw. nicht eingegangen ist.

Diese Art von "Vorentscheidung" widerstrebt mir nicht nur intuitiv, sondern auch von der Vernunft her. Die endgültige Urteilsfindung müßte  gerade in einem Schöffengericht, erst nach dem letzten Verhandlungstag stattfinden und nicht vorher. Auch ist es durchaus möglich, dass die Gutachteraussage möglicherweise Informationen beeinhaltet z.B. bezüglich der KV und sich dadurch die "Überzeugung" des Gerichts ändert.

Eine Begründung für die Anwesenheit des Prof. Nedopils war ja, dass der Gutachter auch die Zeugen auf ihre Glaubwürdigkeit beobachten sollte! Richtig?

Wenn Ihre These richtig ist, dann hätte nach einer Überzeugung des Gerichts, dass G.M. nicht die Körperverletzung begangen hat, Prof. Nedopil nicht mehr angehört werden müssen. Richtig?

 

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Paradigma schrieb:

WR Kolos schrieb:

a. Als der Sachverständige vernommen wurde, war die Kammer aufgrund der zuvor geführten Beweise von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt. 

# Dr. Sponsel # MT

Sehr geehrter Herr Kolos!

Als Nichtjurist habe ich Schwierigkeiten Ihre wichtige n a c h f o l g e n d e Aussagen nachzuvollziehen. Wenn Ihre Aussage der allgemeinen justiziellen Praxis entspricht, ergäben sich auch im Fall Mollath sehr bemerkenswerte Fragen!

Ihre Aussage: "Ja. Als der Sachverständige vernommen wurde, war die Kammer aufgrund der zuvor geführten Beweise von der Täterschaft des Angeklagten ü b e r z e u g t".

Aus dieser Aussage wäre zu folgern, dass der Oberstaatsanwalt und auch der Verteidiger, Dr. Strafe bereits v o r  dem Urteilspruch über die nachgewiesene Belastung mit der Körperletzung informiert war und diese Art von Vorentscheidung an den angeklagten Herrn Mollath nicht weitergegeben wurde und er den Ernst der Prozesslage vor dem Urteilsspruch nicht realisieren konnte!

Daraus würde sich  dann die Konsequenz ergeben haben , dass Herr Mollath sich bei seiner                      S c h l u s s e r k l ä r u n g, die m.E. n a c h  der Anhörung von Prof. Nedopil war, nicht ausreichend realistisch vorbereiten und deshalb auch nicht angemessen auf die wichtige Frage der Vorsitzenden Richterin bezüglich der Körperverletzung  eingehen konnte bzw. nicht eingegangen ist.

Diese Art von "Vorentscheidung" widerstrebt mir nicht nur intuitiv, sondern auch von der Vernunft her. Die endgültige Urteilsfindung müßte  gerade in einem Schöffengericht, erst nach dem letzten Verhandlungstag stattfinden und nicht vorher. Auch ist es durchaus möglich, dass die Gutachteraussage möglicherweise Informationen beeinhaltet z.B. bezüglich der KV und sich dadurch die "Überzeugung" des Gerichts ändert.

Eine Begründung für die Anwesenheit des Prof. Nedopils war ja, dass der Gutachter auch die Zeugen auf ihre Glaubwürdigkeit beobachten sollte! Richtig?

Wenn Ihre These richtig ist, dann hätte nach einer Überzeugung des Gerichts, dass G.M. nicht die Körperverletzung begangen hat, Prof. Nedopil nicht mehr angehört werden müssen. Richtig?

 

Die These, dass das Gericht schon vor der Anhörung zu der Überzeugung über die Täterschaft gelangt ist, quasi eine Übereinkunft im Richterkollegium mit den Schöffen erzielt worden ist, hat m.E. auch aus folgendem entscheidenden Grund nicht der R e a l i t ä t  entsprochen:

Falls diese Überzeugung, Übereinkunft erzielt worden wäre, hätte m.E. die zwingende Notwendigkeit bestanden offiziell im Rahmen des öffentlichen Gerichtsverfahrens diese Überzeugung, Übereinkunft des Richterkollegiums dem S a c h v e r s t ä n d i g e n   mitzuteilen und ihn nicht im Ungewissen zu lassen.  Diese entscheidende  ist nicht erfolgt, zumindest nicht im öffentlichen Gerichtsverfahren. Inoffiziell dies dem Sachverständigen die Überzeugung mitzuteilen ist es m.E. nicht legitim, auch da alle möglichen Mauscheleien dadurch möglich wären. Alle Gesamtumstände, insbesondere die nicht zwingend notwendige Zwangsbeobachtung über 13 Tage - eine Aussage, Stellungnahme hätte lt. Kommentar von MT ausgereicht- spricht für eine psychiatrisierende Vorverurteilung, Mißachtung der Unschuldsvermutung. Es stellt sich auch die Frage, inwieweit die gesetzlich vorgeschriebenen Schöffen über die Situation informiert oder übergangen wurden.  Eine klare, rechtstaatlich´zwingend notwendige Rechtsprechung nach der Interlokut- Regelung ist zweifelslos vom Gesetzgeber einzufordern.

 

3

Zur Unschuldsvermutung

Die Diskussion interessiert mich sehr, nicht nur zum Fall Mollath.

Dr. Sponsel:

vor dem rechtskräftigen Urteil ist der Angeklagte / noch nicht rechtskräftig Verurteilte als unschuldig zu werten.

Hierzu zitiert MT einschränkend:

Sie verbietet zum einen, im konkreten Strafverfahren ohne prozessordnungsgemäßen - nicht notwendiger Weise rechtskräftigen - Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen, und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln;

Herr Kolos:

Nein. Die Unschuldsvermutung besagt, dass die Schuld bewiesen werden muss.

 

Geht man vom Begriff aus, dann definiert nur das Zitat von Dr. Sponsel direkt die Unschuldsvermutung. Solange A nicht rechtskräftig verurteilt ist, vermutet B die Unschuld von A. Das schließt nicht aus, dass B gleichzeitig den Verdacht hegt, sich in der (vorgegebenen) Unschuld von A zu irren. Was bedeuten dabei Unschuld, wer ist A und wer ist B?

1. Unschuld

Wird hier nur die Frage der Schuld (genaugenommen Tat und Schuld) erfasst oder auch die Teilfrage der Täterschaft als unbedingte Voraussetzung für eine mögliche Schuld?

2. Unschuldiger aber Verdächtiger A

A als Verdächtiger ist schon vor Rechtskraft des Urteils verdächtig Täter zu sein. Gebietet die Unschuldsvermutung gleichermaßen die Vermutung, dass er Nichttäter ist?

Diese Frage ist insbesondere auch für die Anordnung der U-Haft und die Art der Ermittlungen während der U-Haft wichtig. Denn wäre die Täterschaft bereits vor Rechtskraft unterstellt, also keine Vermutung der Nichttäterschaft mehr geboten, dann dürfte im Umkehrschluss Untersuchungshaft nur bei 100% Tatnachweis angeordnet werden. Es genügt jedoch dringender Tatversacht oder Fluchtgefahr. Gleiches gilt für andere prozessordnungsgemäße Maßnahmen wie Begutachtung etc.. Die Vermutung der Nichttat darf nicht entgegen der (dürftigen oder unvollständigen) Beweislage einfach verworfen werden.

Hier sehe ich wie Dr. Sponsel einen Widerspruch. Entweder ich muss als vermutet Unschuldiger, aber Verdächtiger U-Haft und andere prozessordnungsgemäße Maßnahmen zunächst hinnehmen, ohne das eine Tat bereits nachgewiesen ist. Dann kann aber nicht gleichzeitig behauptet werden, dass die Frage der Täterschaft nicht von der Unschuldvermutung gedeckt ist. Sondern dann ist

Unschuldsvermutung = Nichttat-Vermutung (und Nichtschuld-Vermutung)

Ich gehe davon aus, dass es bis zur Rechtskraft demzufolge immer mindestens 2 Hypothesen geben muss, wobei schon formal die verfassungsrechtlich gesetzte Vermutung der Nichttäterschaft bis zum wirklichen Tatnachweis (Rechtskraft des Urteils) sogar mindestens 50 % betragen muss. Ein U-Häftling könnte also dem Vorwurf der Täterschaft vor der Rechtskraft entgegnen "Höchstens zu 50 % bitte!"

Die Folge für alle prozessordnungsgemäßen Maßnahmen vor Rechtskraft des Urteils wären immer mindestens eine Zweigleisigkeit auch zur Frage der Täterschaft. Wobei die Vermutung der Nichttäterschaft formal sogar mindestens 50 % beträgt. Also jede Reglung, die dem nicht Rechnung trägt wäre verfassungswidrig und die daraus abgeleiteten Maßnahmen Grundrechtsverletzungen.

Nun stellt sich die Frage, wer B ist. Denn B muss dieses Grundrecht Vermutung der Nichttat ja beachten. Das Gericht und die StA sind wohl in jedem Fall B. Ein vom Gericht bestellter Gutachter ist wohl auch an die Pflichten des Gerichts gebunden, also auch B. Anders könnte es bei einem Parteiengutachten aussehen.

Ich denke daher schon rein logisch, muss ein forensisches Gutachten wegen der Unschuldsvermutung immer zu mindestens 50 % die Nichttat vermuten. Sonst käme es zu systemischen Widersprüchen, zu deren Auflösung mir die juristischen Kniffe bisher unbekannt sind. Also ein Gutachten, das die Tat vor Rechtskraft als gegeben voraussetzt, wäre nach diesem Gedankengang verfassungswidrig und mit der Rechtsordnung nicht vereinbar.

Sosehr ich Hr. Kolos für seine Beiträge schätze, entfernt sich sein Zitat für mich zunächst am weitesten von dem Begriff Unschuldsvermutung. Es wird im Zitat eigentlich nur die notwendige prozessuale Folge beschrieben und die Tatfrage ausgeklammmert. Herr Kolos, vielleicht können Sie gerade deshalb meinen Denkfehler oder die Wissenslücke füllen.

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Lutz Lippke schrieb:

Zur Unschuldsvermutung

Die Diskussion interessiert mich sehr, nicht nur zum Fall Mollath............

Ich gehe davon aus, dass es bis zur Rechtskraft demzufolge immer mindestens 2 Hypothesen geben muss, wobei schon formal die verfassungsrechtlich gesetzte Vermutung der Nichttäterschaft bis zum wirklichen Tatnachweis (Rechtskraft des Urteils) sogar mindestens 50 % betragen muss. Ein U-Häftling könnte also dem Vorwurf der Täterschaft vor der Rechtskraft entgegnen "Höchstens zu 50 % bitte!"

Die Folge für alle prozessordnungsgemäßen Maßnahmen vor Rechtskraft des Urteils wären immer mindestens eine Zweigleisigkeit auch zur Frage der Täterschaft.........

Ich denke daher schon rein logisch, muss ein forensisches Gutachten wegen der Unschuldsvermutung immer zu mindestens 50 % die Nichttat vermuten. Sonst käme es zu systemischen Widersprüchen, zu deren Auflösung mir die juristischen Kniffe bisher unbekannt sind. Also ein Gutachten, das die Tat vor Rechtskraft als gegeben voraussetzt, wäre nach diesem Gedankengang verfassungswidrig und mit der Rechtsordnung nicht vereinbar.

#6 Dipl.-Psych. Dr. phil Rudolf Sponsel

Forensischer und Verkehrs-Psychologe, Psychotherapeut

13.03.2015

Unschuldsvermutung und Straftat

Die Gutachter Lip, Leip und Krö sind davon ausgegangen, dass die Taten begangen wurden, und zwar nicht relativiert "mutmasslich", sonst hätten sie ihre Gutachten wenigstens nach den zwei Haupthypothesen differenzieren müssen.

Mein Kommentar:

Herr Lutz Lippke und m.E. auch Herr Waldemar Kolos beschreibt die rechtsstaatliche

 N o t w e n d i g k e i t  und den Anspruch zweigleisig nach zwei Hypothesen justiziell und auch bezüglich einer Begutachtung vorzugehen. Herr Dr. Sponsel beschreibt die vermaledeite P r a x i s  im Fall Mollath und sicherlich in der Mehrzahl der Unterbringungsfälle. Anspruch und Wirklichkeit klaffen empörend auseinander!

Herr Waldemar geht in seinem Kommentar 31 im Fall Mollath davon aus, dass im WA-Verfahren das Gericht vor Anhörung des Prof. Nedopil von der Täterschaft überzeugt war und insofern die notwendige Unschuldsvermutung justiziell korrekt eingehalten wurde. Dies kann so sein, muß jedoch nicht so sein und ist m.E. auch sehr  unwahrscheinlich. Viele Menschen vertreten die Auffassung, dass das Urteil bereits von Anfang festgestanden hat.  Die  dringend notwendige Interlokut-Regelung würde die rechtstaatlich notwendige Transparenz und Faineß gegenüber dem existenziell schwerbetroffenen Angeklagten schaffen. Die deutsche Praxis bei derartigen Strafverfahren und gleichzeitiger Zwangsbeobachtung schafft  ein heilloses, inhumanes, geradezu willkürliches  Durcheinander und führt zu Unrechtsurteilen und hat auch im WA-Verfahren von G.M. wiederum zu einem Fehlurteil geführt.

Die furchtbare Realität, wie Sie Dr. Sponsel vom geistigen, juristischen Hintergrund analysiert sieht z.B. nachweisbar so aus:

Ein junger Mann wird beschuldigt eine schwere Körperverletzung begangen zu haben, da er früher Drogen  genommen hat und psychische Probleme hatte. Er wird  nicht nur verdächtigt der Täter zu sein, sondern sofort in die Psychiatrie eingewiesen vor dem Urteilspruch in die Forensik eingewiesen, zwangsbeobachtet, mit Neuroleptikta behandelt, also stigmatisiert und schwerstens v o r  dem Gerichtsverfahren psychiatrisiert! Bei Gericht vom Gutachter v o r  der Feststellung der Tat als sehr gemeingefährlicher Mensch dargestellt, der sehr lange Zeit untergebracht werden muss und tatsächlich seit vierzehn Jahre in der Forensik hospitalisiert, nicht geheilt und resozialisiert. Nicht nur der Richter, sondern  auch der Sachverständige hat "gerichtet" und ihn vorher vorverurteilt. Dies dürfte der furchtbaren Wirklichkeit in der Mehrzahl der Unterbringungsfälle entsprechen.

Dieser Fall entspricht weitgehend auch dem Wegräumen von Herrn Mollath!

 

 

4

@ Hr. Kolos

Und zum Schluss noch eine Frage von mir: Wie soll man sich die Unschuldsvermutung in Bezug auf Schuldfähigkeit denken. Gilt etwa der Angeklagte bis zum Beweis des Gegenteils als schuldunfähig? Widerspricht diese Vermutung nicht unserem Menschenbild?

Wenn man die grundsätzliche philosophische Frage zum Konzept der Schuldfähigkeit (Stichwort freier Wille?) mal ausklammert, dann wäre in jedem Fall zu klären, ob gilt

Unschuld = Unschuldigkeit oder Schuldunfähigkeit

Ist das so?

Ich könnte mir vorstellen, dass die Schuldunfähigkeit besser ein von der Regel abweichendes Konstrukt und Korrektiv ist, so wie das Schaltjahr die Abweichung vom üblichen Jahr. Denn die Lebenswirklichkeit besagt, dass die meisten potentielle Täter (wir allgemein) Schuld vorausdenken können bzw. auch nach einer Straftat Schuld empfinden können. Ohne nachgewiesene Tat gelten wir jedoch als unschuldig und nicht als schuldunfähig. Es gibt aber potentielle Täter, die keine Schuldfähigkeit haben. Da jedoch dem Schuldunfähigen nicht schon prophylaktisch eine Täterschaft unterstellt werden kann, kann die Frage einer Schuldfähigkeit also auch erst im Fall einer Täterschaft gestellt werden. Solange ich nicht Straftaten begehe, darf ich mich übermäßig alkoholisieren und bin deswegen nicht schuldunfähig sondern unschuldig. Dem eigentlich Schuldunfähigen steht also ebenso die Vermutung der "normalen Unschuld" wegen Nichttäterschaft zu. Demnach hätte Schuldunfähigkeit nichts mit der Unschuldsvermutung zu tun.     

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Sehr geehrte Kommentatoren,

dazu, dass ein Schuld-Interlokut in vielen Fällen sinnvoll wäre und auch zur Frage, ob in der Hauptverhandlung im Fall Gustl Mollaths die (ständige) Anwesenheit eines Psychiaters notwendig war, habe ich mich ja schon diverse Male geäußert.

Ich stimme allerdings nicht mit den jetzt teilweise vertretenen Auffassungen (Sponsel, Lippke, Menschenrechtler) überein, es sei geradezu eine Verletzung der Logik, eine psychiatrische Begutachtung zu beginnen, bevor nicht (rechtskräftig) die Tatbegehung festgestellt worden sei, oder es sei dies ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung bzw. es sei (menschenrechtlich) zwingend eine Begutachtung unter zwei kontradiktorischen Hypothesen (er war es, er war es nicht) vorzusehen. Diese Auffassungen beruhen teilweise auf Fehlvorstellungen über die Funktion eines Strafprozesses und auf einer Verkennung des Unterschieds zwischen prozessualem und materiellem Recht.

Nach dem geltenden Prozessrecht - dies könnte auch anders aussehen, das habe ich ja schon geschrieben - ist es so, dass ein Tatverdacht Ermittlungen auslöst und diese Ermittlungen in vielfacher Weise in die Rechte des Beschuldigten eingreifen können - ganz unabhängig von einer psychiatrischen Untersuchung, z.B. Durchsuchung, Beschlagnahme, Festnahme, Untersuchungshaft. All dies sind weltweit akzeptierte Maßnahmen gegen Tatverdächtige, die natürlich im konkreten Fall fraglich sein können, aber grundsätzlich mit der Unschuldsvermutung vereinbar sind, sofern es eben hinreichende Taverdachtsgründe gibt. Viele dieser Maßnahmen machen letztlich nur Sinn und sind dann auch retrospektiv "richtig", wenn der Tatverdächtige die Tat begangen hat. Hat er die Tat nicht begangen (oder, was vorkommt, ist gar keine Straftat begangen worden), dann ist dies sehr tragisch und kann auch ernste Fragen an die Ermittler auslösen; möglicherweise haben ja Polizisten und/oder Staatsanwälte/Richter ihre Kompetenzen überschritten. Jedoch: Zum Teil sind Ermittlungen gegen tatsächlich Unschuldige eben unvermeidbar und auch vom Prozessrecht gedeckt. Vor dem rechtskräftigen Urteil treffen solche Maßnahmen immer einen potentiell Unschuldigen, einen Menschen, dessen Unschuld zu vermuten ist. Aber diese Maßnahmen können trotzdem rechtmäßig sein, selbst wenn sich nachher herausstellt, das der Verdächtige nichts Böses getan hat.

Wie ist es nun mit der psychiatrischen Untersuchung? Ist es da (logischerweise bzw. menschenrechtlich gesehen)  anders? Man stelle sich folgenden Fall vor (absichtlich ein Fall, der mit dem Fall Mollath nicht vergleichbar ist): Neben der Leiche einer jungen Frau wird ein offenkundig verwirrter Mann angetroffen. Er ist außer sich, eine sachliche Kommunikation mit ihm ist nicht möglich. Alle Spuren deuten darauf hin, dass er diese junge Frau getötet hat. Noch dazu gibt es eine Reihe weiterer Fälle mit ganz ähnlicher Spurenlage. Die Durchsuchung seiner Wohnung fördert zutage, dass er die getöteten Frauen offenbar seit längerer Zeit wahnhaft beobachtet hat und brutale Gewaltphantasien gegen sie aufgezeichnet hat. Die Polizei nimmt ihn fest und bringt ihn - auf Anordnung des Gerichts - in eine psychiatrische Klinik (vorläufige Unterbringung). Nach der hier von einigen Kommentatoren vertretenen Meinung wäre es nun "unlogisch", es wäre ein "Verstoß gegen die Unschuldsvermutung", oder gar "menschenrechtswidrig", diesen Mann während seiner Unterbringung auf seine verminderte oder ausgeschlossene Schuldfähigkeit zu untersuchen. Man müsse zuerst (rechtskräftig, also durch alle Instanzen hindurch) die Tatbegehung klären, erst dann dürfe man mit der psychiatrischen, dann notwendig mehrere Jahre zurückschauenden, Untersuchung beginnen bzw. überhaupt darüber nachdenken, ob der Mann schuldhaft gehandelt hat. Ich sage nicht, dass diese hier vertretene Meinung falsch ist. Sie entspricht allerdings nicht dem geltenden Recht, das m.E. auch einiges für sich hat. Nach dem geltenden Recht wird angestrebt, in einer Hauptverhandlung konzentriert ALLE Nachweise zu führen, also sowohl hinsichtlich der Tatbegehung als auch hinsichtlich der Schuldfeststellung. Das geht nur mit entsprechender Vorbereitung. Der psychiatrische Sachverständige wird also beauftragt, den Tatverdächtigen zu untersuchen und hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit zu begutachten - und zwar hypothetisch davon ausgehend, dass der Untersuchte  die Tat begangen hat. Für diese Begutachtung kann es auch wichtig sein, den vermuteten Tatablauf zu kennen, nach den bis dahin aufgezeichneten Ermittlungen (freilich sind die Akten vom Psychiater auch kritisch zu sehen, nicht alles darf einfach wahr unterstellt werden, insbesondere wenn erkennbar ist, dass das Material Lücken aufweist, die Quellen unzuverlässig sind etc.).

Dieses Gutachten, erstattet während der Hauptverhandlung, also wenn die Tatbegehung noch nicht festgestellt ist,  kommt im späteren Urteil natürlich nur dann zum Tragen, wenn die Beratung der Richter zuvor ergeben hat, dass der Angeklagte tatsächlich die Tat begangen hat: In dieser Beratung ist natürlich die Logik zu beachten, d.h. die Schuldfeststellung wird erst NACH der Tatfeststellung erfolgen können. Die Gutachtenerstattung in der Hauptverhandlung setzt aber nicht schon voraus (wie Herr Kolos zu Unrecht annimmt), dass die Richter schon in der Hauptverhandlung vor Erstattung des Gutachtens eine Einigung darüber erzielt und signalisiert haben, dass der Angeklagte die Tat begangen hat. Wenn sich allerdings im Laufe einer Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte die Tat offenkundig nicht begangen hat, dann kann das Gericht auf das Gutachten verzichten, der Sachverständige geht dann mit seinem vorbereiteten Gutachten in der Tasche nach Hause, ohne es mitgeteilt zu haben.

Eine alternative Begutachtung mit der Hypothese, der Angeklagte habe die Tat nicht begangen, ist allerdings überflüssig, ja sogar abwegig. Denn wenn der Angeklagte die Tat nicht begangen hat, dann erübrigt sich im Strafverfahren ohnehin jede Diskussion über seinen Geisteszustand; es macht also keinen Sinn, ein Gutachten mit der Hypothese zu erstellen, der Angeklagte habe die Tat nicht begangen. Ich denke auch, die Vorstellung des "Menschenrechtlers" oder von Lutz Lippke, eine solche Vorgehensweise entspreche eher der Logik oder den Menschenrechten, ist unzutreffend; eher das Gegenteil ist der Fall: Die Aussage eines Sachverständigen, der Angeklagte sei "krank" oder  "gefährlich", auch wenn er die Tat gar nicht begangen habe, ist schlicht überflüssig und kann für den Angeklagten schlimme Folgen haben. Die Argumentation mit Prozentwerten (Lutz Lippke) ist zudem unzutreffend: Man kann kein Gutachten unter der Annahme erstatten, jemand sei zu 50% der Täter, zu 50 % unschuldig. Auf Einzelfälle bezogen sind Prozentangaben widersinnig. Entweder jemand ist (100 %) der Täter oder er ist es eben nicht (0 %). Typischerweise weiß aber niemand zu Beginn des Prozesses, welche Alternative zutrifft. Der Prozess dient ja gerade dazu, dies herauszufinden!

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

 

Henning Ernst Müller schrieb:

Eine alternative Begutachtung mit der Hypothese, der Angeklagte habe die Tat nicht begangen, ist allerdings überflüssig, ja sogar abwegig. Denn wenn der Angeklagte die Tat nicht begangen hat, dann erübrigt sich im Strafverfahren ohnehin jede Diskussion über seinen Geisteszustand; es macht also keinen Sinn, ein Gutachten mit der Hypothese zu erstellen, der Angeklagte habe die Tat nicht begangen. Ich denke auch, die Vorstellung des "Menschenrechtlers" oder von Lutz Lippke, eine solche Vorgehensweise entspreche eher der Logik oder den Menschenrechten, ist unzutreffend; eher das Gegenteil ist der Fall: Die Aussage eines Sachverständigen, der Angeklagte sei "krank" oder  "gefährlich", auch wenn er die Tat gar nicht begangen habe, ist schlicht überflüssig und kann für den Angeklagten schlimme Folgen haben. Die Argumentation mit Prozentwerten (Lutz Lippke) ist zudem unzutreffend: Man kann kein Gutachten unter der Annahme erstatten, jemand sei zu 50% der Täter, zu 50 % unschuldig. Auf Einzelfälle bezogen sind Prozentangaben widersinnig. Entweder jemand ist (100 %) der Täter oder er ist es eben nicht (0 %). Typischerweise weiß aber niemand zu Beginn des Prozesses, welche Alternative zutrifft. Der Prozess dient ja gerade dazu, dies herauszufinden!

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Das sehe ich etwas differenzierter, gerade auf den Fall Mollath bezogen.

Selbstverständlich ist ein Strafprozess keine wissenschaftliche Arbeit. Aber die beigezogenen Gutachten sollten schon wissenschaftlichen Anforderungen genügen. Diese ntowendigen Standards hat ja der BGH für den Fall von aussagepsychologischen Gutachten explizit festgelegt. Hier muss eine "Nullhypothese" ( = lügt, hat alles erfunden) untersucht werden und darf nur solange aufrechterhalten werden, bis die gefundenen Auffälligkeiten diese widerlegen und somit die Alternativhypothese ( = berichtet die Warhheit) als richtig angesehen werden muss.

Für medizinische / psychiatrische Gutachten wie im vorliegenden Fall sollte nichts anderes gelten.

 

Wie die Wiederaufnahme gezeigt hat, waren die Beweise für die Täterschaft des Herrn M. bezüglich der Reifenstechereien sehr dünn. Zudem konnte nicht von einer besonders gefährlichen Art der Reifenstecherei ausgegangen werden. Es war kein Tötungsversuch.

Auch die Beweise hinsichtlich der gefährlichen Körperverletzung ("mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung") waren sehr dünn. Es gab lediglich die frühere Aussage der Frau M., die zudem jetzt nicht mehr für eine Befragung zur Verfügung stand. Das "Attest" des Herrn Dr. Reichel war für den Mülleimer. Das Gutachten des Forensikers war diesbezüglich zunächst eindeutig und völlig zutreffend (als Mediziner kann ich das beurteilen). Leider hat der Kollege sich dann durch gewisse Fragen aus dem Konzept bringen lassen, die Eindeutigkeit hinsichtlich der fehlenden / unzureichenden  Dokumentation von Würgemalen, petechialen Blutungen, Stauungszeichen etc. wurde leider verwässert.

Die Möglichkeit einer einmaligen einfachen Körperverletzung (ohne Würgen) war allerdings gegeben.

 

Somit ware es wäre m.E. deshalb sehr sinnvoll gewesen, dem Gutachter mehrere Alternativhypothesen vorzugeben:

1) Herr Mollath hat alle Taten begangen.

2) Herr Mollath hat Taten gegenüber seiner Ehefrau begangen, jedoch nicht gegen andere Menschen

3) Herr Mollath hat nur eine einfache Körperverletzung ohne Würgen begangen.

 

Der Gutachter hätte dann ein ganz anderes, differenzierteres Bild von Herrn Mollath zeichnen können. Hätte er natürlich auch von sich aus tun können / müssen, indem er von sich aus nicht einfach alle Vorgaben kritiklos übernimmt, sondern gerade hinsichtlich der Frage der Allgemeingefährlichkeit differenziert und dem Gericht klarmacht, dass die medizinische Diagnose eines allgemeingefährlichen Psychopathen steht und fällt mit der Frage, ob er auch Reifen "allgemeingefährlich" zerstochen hat.

 

Jedenfalls wäre es besser gewesen, das Gericht hätte von sich aus darauf hingewiesen, dass auch die Möglichkeit besteht, dass Herr Mollath nur einen Teil der Taten begangen hat. Dann wäre der Gutachter gezwungen gewesen, sorgfältiger und differenzierter zu arbeiten.

 

Für den Fall der Unschuld des Herrn Mollath hingegen braucht es natürlich auch keine gutachterliche Stellungnahme. Aber auch hier sollte das Vorgehen differenzierter sein und ggf. das Strafrecht geändert werden (falls notwendig). Völlig korrekt ist es, wenn ein Gutachter der Hauptverhandlung beiwohnt und auch ein Gutachten vorbereitet. Kritisch wird es ab dem Punkt, wo der Gutachter aufgefordert wird, sein Gutachten in die Hauptverhandlung einzuführen. Das bedeutet ja, dass das Gericht zu einem Punkt gekommen ist, den Angeklagten für schuldig zu halten. Andernfalls würde das Gericht ja auf den Vortrag des Gutachters verzichten können, ja verzichten müssen. So hat es auch Strate gesehen. Auch er meinte, dass zwar die Anwesenheit des Gutachters erforderlich sei, aber ein Gutachten nicht in die Hauptverhandlung eingeführt werden müsse (da Herr Mollath ja unschuldig sei).

Also bräuchte es vor dem Vortrag des Gutachters eine Zäsur. Es braucht eine Beratung des Gerichtes, in der zunächst nur über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten hinsichtlich der Tatbegehung beraten wird. Erst wenn das Gericht zur Überzeugung gelangt ist, dass der Angeklagte auch die Taten begangen hat, darf der Gutachter befragt werden. Das war im Fall Mollath m.W. so nicht der Fall. Das Gutachten wurde vor Beratung des Gerichtes abgerufen. Das war eine Vorverurteilung und zeigt eine Befangenheit der Vorsitzenden Richterin, die offenbar von der Schuld des Angeklagten bereits vor abschließender Beratung überzeugt war.

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Zunächst mal vielen Dank für den ausführlichen und interessanten Beitrag.

Gast2 schrieb:

Völlig korrekt ist es, wenn ein Gutachter der Hauptverhandlung beiwohnt[...].

Würden Sie das auch im Fall Mollath so sehen? Herr Mollath hatte aufgrund seiner vielfachen und andauernden negativen Erfahrungen mit der Psychiatrie verständlicherweise erhebliche Vorbehalte gegen die Anwesenheit eines Gutachters im Prozess. Es ist m.E. zumindest nicht auszuschließen, dass sein Verhalten im Prozess dadurch negativ beeinflusst wurde.

Können Sie Aussagen darüber treffen, was ein psychiatrischer Gutachter bestenfalls durch die Anwesenheit im Prozess über den Angeklagten erfahren kann? Hier im blog wird zum Teil vertreten, aufgrund der besonderen Stresssituation des Angeklagten könne man vom Verhalten im Prozess nicht auf den allgemeinen Geisteszustand schließen.

 

Quote:
Also bräuchte es vor dem Vortrag des Gutachters eine Zäsur. Es braucht eine Beratung des Gerichtes, in der zunächst nur über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten hinsichtlich der Tatbegehung beraten wird. Erst wenn das Gericht zur Überzeugung gelangt ist, dass der Angeklagte auch die Taten begangen hat, darf der Gutachter befragt werden. Das war im Fall Mollath m.W. so nicht der Fall. Das Gutachten wurde vor Beratung des Gerichtes abgerufen. Das war eine Vorverurteilung und zeigt eine Befangenheit der Vorsitzenden Richterin, die offenbar von der Schuld des Angeklagten bereits vor abschließender Beratung überzeugt war.

Was Sie ansprechen wird als sog. Tat-Schuld Interlokut in der Rechtswissenschaft diskutiert. So etwas ist im geltenden Recht aber nicht vorgesehen, so dass das Gericht keine Möglichkeit hatte, eine solche Zäsur einzufügen.

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Sehr geehrter Prof. Müller,

vielen Dank, dass Sie Ihre Sicht zur Diskussion dargestellt haben. Das es ein Spannungsfeld zwischen Tatverdacht und Unschuldsvermutung in Ermittlungsverfahren gibt, kann wohl niemand bestreiten. Sie tun es nicht und zeigen auch gewisse Sympathien mit der Kritik am Jetzt. Zum Teil versucht die Diskussion bisher die Grundlagen überhaupt greifbar zu machen. Insofern ist Ihr Verweis auf das weltweit Gängige und die praktischen Notwendigkeiten aus meiner Sicht unnötig vorgreifend. Denn man muss auch das weitergehende Hinterfragen aushalten können, um mal einen frischen Blick auf die Dinge zu bekommen. Meine Darstellung der 50%-Gegenhypothese war z.B. recht plakativ und nicht unbedingt auf Praxistauglichkeit geprüft. Es ist aber falsch, Grundsätzliches/Systematisches nur an Fallbeispielen mit nachfolgenden "das wollen wir doch auch nicht oder?" abzuklären und dann "das, was wir eben auch nicht wollen" mit ein wenig Kosmetik fortzuführen. Ich denke wir kommen nicht darum herum, die Aufklärung und Diskussion weiterzuführen. Ich denke, es ist auch nicht nur eine Frage des Prozessrechts, der Gesetzgebung oder der formalen Strukturen, sondern auch eine Frage des Selbstverständnisses und der Anspruchshaltung der Beteiligten. Wir haben bereits erlebt, dass teilweise ein Erledigungsniveau festzustellen ist, dass den Sinn von Rechtsprechung in Frage stellt. Genau das wollen wir hier alle nicht, davon bin ich überzeugt. Aber die Tendenz wird zunehmen, wenn man die Augen vor den grundlegenden Ursachen verschließt.

Herzlichen Gruss

Lutz Lippke

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Reihenfolge der Feststellungen

Die Schuldfrage (schuldig, nicht schuldig, nicht feststellbar) kann erst dann erörtert werden, wenn die Straftatsfrage geklärt ist. Ich hoffe, darüber herrscht Einigkeit. Ich möchte meine Fragen daher noch einmal klar stellen und wünsche mir klare Antworten, insbesondere von den juristisch Kompetenten:

1) Wann ist die Straftatsfrage geklärt?

1a) Am Ende der Beweisaufnahme?

1b) Mit Verkündung des Urteils?

1c) Mit der Rechtskraft des Urteils?

1d) Das kann man nicht klar sagen. Anmerkung1: Ich habe jetzt über 100 Seiten Material zur "Unschuldsvermutung" gesammelt und kann sagen: nichts ist (mir) klar.  Das scheint mir doch eine hochgradig konfuse Angelegenheit zu sein. Ordnung? Klarheit? Rechtsstaat? Wissenschaft? Gesunder Menschenverstand?

1e) Sonstiges (Rest- und Auffangkategorie)

Anmerkung2 zu Prof. Müller: Ihre Ausführung mit "hypothetisch" finde ich interessant und im Prinzip richtig, nur habe ich davon in meinen Texten und im Gesetz darüber noch nichts gelesen. Und in den Gutachten - Ausnahme Nedopil GA - ist in aller Regel davon auch nicht zu lesen. Das Gesetz verstehe ich so, dass bei 67e Entscheidungen der Tenor des rechtskräftigen Urteils als Anknüpfungstatsache berücksichtigt werden muss (bei Mollaths erster Verurteilung vor dem LG Nbg  erst 2007 und nach Wiederaufnahme gar nicht, da gabs ja nichts).

 

 

RSponsel schrieb:

Reihenfolge der Feststellungen

Die Schuldfrage (schuldig, nicht schuldig, nicht feststellbar) kann erst dann erörtert werden, wenn die Straftatsfrage geklärt ist. Ich hoffe, darüber herrscht Einigkeit. Ich möchte meine Fragen daher noch einmal klar stellen und wünsche mir klare Antworten, insbesondere von den juristisch Kompetenten:

1) Wann ist die Straftatsfrage geklärt?

1a) Am Ende der Beweisaufnahme?

1b) Mit Verkündung des Urteils?

1c) Mit der Rechtskraft des Urteils?

1d) Das kann man nicht klar sagen. Anmerkung1: Ich habe jetzt über 100 Seiten Material zur "Unschuldsvermutung" gesammelt und kann sagen: nichts ist (mir) klar.  Das scheint mir doch eine hochgradig konfuse Angelegenheit zu sein. Ordnung? Klarheit? Rechtsstaat? Wissenschaft? Gesunder Menschenverstand?

1e) Sonstiges (Rest- und Auffangkategorie)

Anmerkung2 zu Prof. Müller: Ihre Ausführung mit "hypothetisch" finde ich interessant und im Prinzip richtig, nur habe ich davon in meinen Texten und im Gesetz darüber noch nichts gelesen. Und in den Gutachten - Ausnahme Nedopil GA - ist in aller Regel davon auch nicht zu lesen. Das Gesetz verstehe ich so, dass bei 67e Entscheidungen der Tenor des rechtskräftigen Urteils als Anknüpfungstatsache berücksichtigt werden muss (bei Mollaths erster Verurteilung vor dem LG Nbg  erst 2007 und nach Wiederaufnahme gar nicht, da gabs ja nichts).

 

 

Vorläufig ist die Tatfrage mit Verkündung des erstinstanzlichen Urteils (1b) geklärt, § 260 Abs. 4 iVm Abs. 1 StPO. Das Tatgericht stellt darin fest, ob und ggf. welche Straftat der Angeklagte begangen hat.

Endgültig ist die Tatfrage erst geklärt, wenn das Urteil rechtskräftig wird (1c), da das Urteil sonst nicht vollstreckbar ist, § 449 StPO. Das geschieht nach einer Woche, wenn keine Berufung oder Revision eingereicht wird, §§ 314, 341 StPO. Ansonsten, wenn das Berufungs- oder Revisionsurteil rechtskräftig wird.

Die Unschuldsvermutung als übergeordnetes Verfassungsprinzip hat damit zunächst einmal nichts zu tun, weil die Gerichte an das Gesetz gebunden sind, Art. 20 Abs. 3 GG - es sei denn, das Gesetz ist verfassungswidrig.

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MT schrieb:

Die Unschuldsvermutung als übergeordnetes Verfassungsprinzip hat damit zunächst einmal nichts zu tun, weil die Gerichte an das Gesetz gebunden sind, Art. 20 Abs. 3 GG - es sei denn, das Gesetz ist verfassungswidrig.

 

Das verstehe ich nicht. Das kann nur ein Missverständnis sein. Ich bin sicher, dass Sie das nicht so meinen wie Sie das geschrieben haben. 

Die Gerichte sollen an die dem einfachen Gesetz übergeordnete Verfassungsprinzipien nicht gebunden sein, sondern nur an das Gesetz? Was ist dann mit Art. 1 Abs. 3 GG gemeint? Und was soll das dann mit der Verfassungsbeschwerde gegen richterliche Entscheidung auf sich haben, in der die Verletzung von Gesetzen an sich irrelevant ist?

WR Kolos schrieb:

MT schrieb:

Die Unschuldsvermutung als übergeordnetes Verfassungsprinzip hat damit zunächst einmal nichts zu tun, weil die Gerichte an das Gesetz gebunden sind, Art. 20 Abs. 3 GG - es sei denn, das Gesetz ist verfassungswidrig.

 

Das verstehe ich nicht. Das kann nur ein Missverständnis sein. Ich bin sicher, dass Sie das nicht so meinen wie Sie das geschrieben haben. 

Die Gerichte sollen an die dem einfachen Gesetz übergeordnete Verfassungsprinzipien nicht gebunden sein, sondern nur an das Gesetz? Was ist dann mit Art. 1 Abs. 3 GG gemeint? Und was soll das dann mit der Verfassungsbeschwerde gegen richterliche Entscheidung auf sich haben, in der die Verletzung von Gesetzen an sich irrelevant ist?

Ich vereinfache absichtlich teilweise erheblich. Natürlich ist jeder Akt öffentlicher Gewalt mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar, aber in meinem Beitrag zitiere ich nur Gesetze. Es ist schon so, dass die Gerichte erst einmal nur das Gesetz anwenden. Daran sind sie gebunden, und sie haben diesbezüglich auch keine eigene Verwerfungskompetenz - das darf nur das BVerfG. In der Anwendung der Gesetze haben die Gerichte natürlich Grundrechte und Prinzipien von Verfassungsrang von sich aus zu beachten. Das habe ich auch in #30 auch schon angesprochen:

Quote:

Dabei gilt wie immer, dass die Prozessordnung wie auch die jeweilige Maßnahme sich am Grundgesetz messen lassen müssen.

Aus Art. 1 Abs. 3 GG ergibt sich gerade kein unmittelbar anzuwendendes einfaches Gesetzesrecht. Das zeigt sich in der BVerfG Rechtsprechung zur Unschuldsvermutung, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Ausgestaltung in erster Linie dem Gesetzgeber obliegt (s. #30).

Ich habe aber das Gefühl, dass all das bei den Nichtjuristen eher zur Verwirrung als zur Klärung beiträgt, weswegen ich es erst einmal weggelassen habe. Mir ging es darum, das grundsätzliche System darzustellen: Erst einmal wenden die Gerichte das Gesetz an, es sei denn aus dem Grundgesetz ergibt sich etwas anderes.

5

Professor Müller schreibt:

Die Gutachtenerstattung in der Hauptverhandlung setzt aber nicht schon voraus (wie Herr Kolos zu Unrecht annimmt), dass die Richter schon in der Hauptverhandlung vor Erstattung des Gutachtens eine Einigung darüber erzielt und signalisiert haben, dass der Angeklagte die Tat begangen hat.  Wenn sich allerdings im Laufe einer Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte die Tat offenkundig nicht begangen hat, dann kann das Gericht auf das Gutachten verzichten, der Sachverständige geht dann mit seinem vorbereiteten Gutachten in der Tasche nach Hause, ohne es mitgeteilt zu haben.

Zu Unrecht? Wenn überhaupt, dann kommt der Sachverständige mit seinem Gutachten zur Schuldfähigkeit zum Schluss der Beweisaufnahme dran, nachdem die Beweise zur Täterschaft bereits erhoben wurden, und zwar nicht ganz ohne Grund. Sein Gutachten ist auch nicht ganz ohne. Zum einen beruht es auf der hypothetischen Annahme der Täterschaft. Zum anderen greift es in den besonders geschützten Bereich des Persönlichkeitsrechts des Angeklagten und bedarf einer Rechtfertigung. Wenn die Richter vor der Vernehmung des Sachverständigen an der Täterschaft zweifeln sollten und nach der Vernehmung dann aber nicht mehr, dann verstößt die Beweiswürdigung gegen die Unschuldsvermutung und gegen die Denkgesetze. Das Gutachten ist nicht dafür geeignet i.S.v. tauglich, um Zweifel an der Täterschaft zu überwinden.

@all:

Natürlch birgt es PER SE Probleme auf dem Hintergrund der Unschuldsvermutung zu ermitteln, einen Verdächtigen zu verhaften, in U-Haft zu nehmen etc. pp.

Wenn man mal die Möglchkeit der (Ver-) fälschung von Sachbeweisen außen vor lässt, ist es aber dennoch ein ganz grundsätzlicher Unterschied, ob ich vom Verdächtigen eine Blutprobe nehme, welche ich anschließend mit an der Leiche gefundenen DNA Spuren vergleiche, oder ob ich einen potentiellen Täter mittels vorgeblich wissenschaftlicher Methoden psychiatrisch untersuche.

Egal welche/r MTA wird existierende Blutproben mit dem selben Ergebnis untersuchen.

Während bei psychiatrischer Begutachtung ziemlich wahrscheinlich alle möglichen Ergebnisse "drin sind", was einfach der Unwissenschaftlichkeit dieser Zunft geschuldet ist.

Das ist wohl auf die Schnelle nicht zu ändern, daher sollte dem in der Abwicklung von Strafverfolgung vielleicht auch die nötige Aufmerksamkeit gezollt werden.

Um in dem Zusammehnag auf das Beispiel mit dem verwirrten jungen Mann zu sprechen zu kommen, JEDER, der diesen jungen Mann und die Gesamtumstände einigermaßen kennt, kann die Situation dahingehend ausnutzen, ein Tötungsdelikt zu begehen und es dem jungen Mann in die Schuhe schieben.

In einer "auf Sicht" orientierten Rechtsprechung hat der junge Mann von Beginn an verloren, es wird ja gar nicht mehr im Sinne der Unschuldsvermutung ausreichend massiv ermittelt, zu erdrückend, zu sicher SCHEINEN die "Beweise" zu sein.

Kann man so akzeptieren, in einer freiheitlichen Demokratie, muss man aber nicht ;-)

3

Es gibt in der Diskussion hier offensichtlich mehrere Problemebenen.

Nimmt man Kommentare von Nichtjuristen zur Unschuldsvermutung, beispielhaft Dr. Sponsel, dann sind diese nicht unbedingt juristisch ausgearbeitet, aber setzen bereits im Bereich der Definition an. Denn ein Problem, das man nicht definieren kann, kann man auch nicht ordnen.

Jede Wissenschaft muss solche Konzepte oder Methoden zur Definition und Ordnung haben. Auch Widersprüche müssen erkannt und geordnet werden. Alles andere ist willkürlich oder Glauben.

Mein Problem mit den Darstellungen der Juristen ist, bei aller Hochachtung für das Fachwissen und die Bereitschaft zur Aufklärung, dass sie hin und her schwanken/switchen zwischen grundsätzlichen Überlegungen, nichthinterfragte Akzeptanz des Status Quo und der gleichzeitigen Kritik daran. Zudem wird das Juristische wie selbstverständlich als etwas Eigenständiges, nur mit juristischen Kenntnissen Verständliches und zu Regelndem wahrgenommen.

In der Technik verwendet man oft Zustandsautomaten, Ablaufdiagramme o.ä. um z.B. Zustände und Aktionen zu definieren. Auch nichtdeterministische Abläufe können so analytisch bewältigt oder zumindest erfasst werden. In anderen Wissenschaften gibt es ähnliche Konzepte. I.d.R. kann man diese ineinander überführen. Die Fähigkeit dazu nennt man Abstraktionsvermögen, interdisziplinäres Denken. Das ist Wissenschaft.

Ich könnte die Fragen/Anmerkungen von Dr. Sponsel und f&f zu den Zuständen je nach Verfahrenszeitpunkt wiederholen, aber diese sind doch klar. A kann nicht ermittelter Täter und gleichzeitig potenzieller Nichttäter sein. B kann nicht von der Täterschaft des A überzeugt sein, aber trotzdem offen für die Ermittlung und Wahrnehmung des Gegenteils. Und der Beauftragte von B, der das Verhalten von A mit der Überzeugung von dessen Täterschaft begutachten soll, kann nicht das gleiche Verhalten von A bei möglicher Nichttäterschaft richtig wahrnehmen. Das ist doch noch gar eine Wissenschaft, sondern der gesunde Menschenverstand (Dr. Sponsel). In diesem Zusammenhang ist es zunächst egal, ob Gerichte erst das Gesetz und dann die Verfassung oder erst die Verfassung und dann das Gesetz beachten sollten.

Wenn die Juristen zunächst nur zu den Fragen der juristischen Definition von Schuld, Unschuld, Unschuldsvermutung, Schuldunfähigkeit, Tat und Täterschaft Einigung erzielen könnten, dann könnte man daran ansetzen und weiterkommen. Man könnte momentan schon fast denken, dass Alles unklar ist, wie es Dr. Sponsel andeutet.

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Wenn die Frage lautet, wann die Tatfrage geklärt ist, können Sie nicht kritisieren, dass die Frage nach dem juristischen status quo beantwortet wird. Juristisch gesehen ist die Kiste klar, man muss nur auch bereit sein, das nachvollziehen zu wollen.

Man kann natürlich der Meinung sein, dass es nicht reicht zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft zu trennen, zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht zu trennen, dass das Gericht nochmal die Anklageentscheidung der Staatsanwaltschaft überprüft, dass das Gericht im Urteil nicht den Verdacht als Begründung anführen darf, um der Unschuldsvermutung zur Geltung zu verhelfen. Man kann natürlich anführen, dass das abgestufte System der Verdachtsgrade reiche nicht aus, um die Unschuldsvermutung zu wahren. Nur dann muss man irgendwann auch mal aufhören, das Problem zu bewundern, und zumindest einen Lösungsansatz präsentieren.

Das Problem ist uns Juristen durchaus bewusst, nur haben wir noch keine bessere Lösung gefunden, als gegen den (Anfangs-)Verdächtigen zu ermitteln und gegen den (hinreichend) Verdächtigen Klage zu erheben, aber gleichzeitig den Verdacht nicht als Begründung im Urteil zuzulassen.

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MT schrieb:

Wenn die Frage lautet, wann die Tatfrage geklärt ist, können Sie nicht kritisieren, dass die Frage nach dem juristischen status quo beantwortet wird. Juristisch gesehen ist die Kiste klar, man muss nur auch bereit sein, das nachvollziehen zu wollen.

Man kann natürlich der Meinung sein, dass es nicht reicht zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft zu trennen, zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht zu trennen, dass das Gericht nochmal die Anklageentscheidung der Staatsanwaltschaft überprüft, dass das Gericht im Urteil nicht den Verdacht als Begründung anführen darf, um der Unschuldsvermutung zur Geltung zu verhelfen. Man kann natürlich anführen, dass das abgestufte System der Verdachtsgrade reiche nicht aus, um die Unschuldsvermutung zu wahren. Nur dann muss man irgendwann auch mal aufhören, das Problem zu bewundern, und zumindest einen Lösungsansatz präsentieren.

Das Problem ist uns Juristen durchaus bewusst, nur haben wir noch keine bessere Lösung gefunden, als gegen den (Anfangs-)Verdächtigen zu ermitteln und gegen den (hinreichend) Verdächtigen Klage zu erheben, aber gleichzeitig den Verdacht nicht als Begründung im Urteil zuzulassen.

Sehr geehrter MT,

meine Kritik sollte gar nicht persönlich treffen, sondern das Problem zum Problem beschreiben. Nun sind wir uns offensichtlich einig, dass es ein Problem gibt und dieses derzeit nur bedingt gelöst ist. Es stimmt also demnach nicht, wenn Sie dann trotzdem behaupten

Juristisch gesehen ist die Kiste klar, man muss nur auch bereit sein, das nachvollziehen zu wollen.

Wenn Sie mit Juristisch auf einen Definitionskonflikt (juristisch/nichtjuristisch) deuten, möglicherweise der Art, dass "Jemand als Täter festgestellt wird" (juristisch) vs. "DER Täter festgestellt wird" (nichtjuristisch), dann ist für mich schon zum Ziel des Strafrechts eigentlich nichts klar.

Ich würde eher denken, dass man vom offenen Problem ausgehend den (theoretischen) Lösungsraum mit den jeweiligen Einschränkungen beschreibt und erst dann mit einem Ausschlussverfahren die gangbaren Wege selektiert. Noch ganz ohne Diktat der Praxis. Denn wir sind hier ja nicht die Ermittler oder Richter, die gerade den nächsten Fall nur bedingt tauglich oder sogar untauglich, aber eben umgehend abarbeiten müssen.

Diese vermutlich nicht so sehr komplexe Dokumentation des Lösungsraums kann man jederzeit wieder aufrufen, damit gefundene Entscheidungen begründen und ggf. auch neu überprüfen. Wenn Sie diese Prozedur als "Bewundern" markieren, dann ist das in der Tat die notwendige Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit, nämlich das Interesse ungelösten Wundern wirklich auf den Grund zu gehen. Die allgegenwärtigen juristischen Fallbeispielsammlungen können das nicht ersetzen, allenfalls bereichern.

Nun hört sich das vielleicht alles so unpraktikabel und aufwändig an, aber in Wirklichkeit weisen gerade die Gesellschaftsbereiche, in denen solche Methoden systematisch angewandt werden, eine hohe Dynamik, Effizienz und Lösungskompetenz auf. Sogar systematisch bis in Bereiche hinein, die sich unserem normalen Vorstellungsvermögen entziehen. Dafür muss man sich allerdings vorstellen wollen, dass das möglich ist.

Mit freundlichen Grüssen

Lutz Lippke

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Lutz Lippke schrieb:

MT schrieb:

Wenn die Frage lautet, wann die Tatfrage geklärt ist, können Sie nicht kritisieren, dass die Frage nach dem juristischen status quo beantwortet wird. Juristisch gesehen ist die Kiste klar, man muss nur auch bereit sein, das nachvollziehen zu wollen.

Man kann natürlich der Meinung sein, dass es nicht reicht zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft zu trennen, zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht zu trennen, dass das Gericht nochmal die Anklageentscheidung der Staatsanwaltschaft überprüft, dass das Gericht im Urteil nicht den Verdacht als Begründung anführen darf, um der Unschuldsvermutung zur Geltung zu verhelfen. Man kann natürlich anführen, dass das abgestufte System der Verdachtsgrade reiche nicht aus, um die Unschuldsvermutung zu wahren. Nur dann muss man irgendwann auch mal aufhören, das Problem zu bewundern, und zumindest einen Lösungsansatz präsentieren.

Das Problem ist uns Juristen durchaus bewusst, nur haben wir noch keine bessere Lösung gefunden, als gegen den (Anfangs-)Verdächtigen zu ermitteln und gegen den (hinreichend) Verdächtigen Klage zu erheben, aber gleichzeitig den Verdacht nicht als Begründung im Urteil zuzulassen.

Sehr geehrter MT,

meine Kritik sollte gar nicht persönlich treffen, sondern das Problem zum Problem beschreiben. Nun sind wir uns offensichtlich einig, dass es ein Problem gibt und dieses derzeit nur bedingt gelöst ist. Es stimmt also demnach nicht, wenn Sie dann trotzdem behaupten

Juristisch gesehen ist die Kiste klar, man muss nur auch bereit sein, das nachvollziehen zu wollen.

Sie übersehen den Kontext. Das von Ihnen angeführte Zitat betrifft die Beantwortung der Frage, ab wann die Tatfrage geklärt ist. Die Antwort ergibt sich aus der Strafprozessordnung, siehe meine #41. Nach dem BVerfG verstößt die StPO insoweit auch nicht gegen die Unschuldsvermutung (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv074358.html#Opinion Rn. 43). Damit ist die Sache rechtlich gesehen abschließend geklärt und eindeutig. Nichts anders habe ich dort geschrieben.

Quote:

Wenn Sie mit Juristisch auf einen Definitionskonflikt (juristisch/nichtjuristisch) deuten, möglicherweise der Art, dass "Jemand als Täter festgestellt wird" (juristisch) vs. "DER Täter festgestellt wird" (nichtjuristisch), dann ist für mich schon zum Ziel des Strafrechts eigentlich nichts klar.

Ich würde eher denken, dass man vom offenen Problem ausgehend den (theoretischen) Lösungsraum mit den jeweiligen Einschränkungen beschreibt und erst dann mit einem Ausschlussverfahren die gangbaren Wege selektiert. Noch ganz ohne Diktat der Praxis. Denn wir sind hier ja nicht die Ermittler oder Richter, die gerade den nächsten Fall nur bedingt tauglich oder sogar untauglich, aber eben umgehend abarbeiten müssen.

Diese vermutlich nicht so sehr komplexe Dokumentation des Lösungsraums kann man jederzeit wieder aufrufen, damit gefundene Entscheidungen begründen und ggf. auch neu überprüfen. Wenn Sie diese Prozedur als "Bewundern" markieren, dann ist das in der Tat die notwendige Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit, nämlich das Interesse ungelösten Wundern wirklich auf den Grund zu gehen. Die allgegenwärtigen juristischen Fallbeispielsammlungen können das nicht ersetzen, allenfalls bereichern.

Nun hört sich das vielleicht alles so unpraktikabel und aufwändig an, aber in Wirklichkeit weisen gerade die Gesellschaftsbereiche, in denen solche Methoden systematisch angewandt werden, eine hohe Dynamik, Effizienz und Lösungskompetenz auf. Sogar systematisch bis in Bereiche hinein, die sich unserem normalen Vorstellungsvermögen entziehen. Dafür muss man sich allerdings vorstellen wollen, dass das möglich ist.

Mit freundlichen Grüssen

Lutz Lippke

Einig sind wir uns nur insoweit, als theoretisch eine Verbesserung des status quo nicht auszuschließen ist. Im Übrigen vereinzeln Sie bitte mal die "nicht so sehr komplexe Dokumentation des Lösungsraums" mit Bezug zur Unschuldsvermutung. Bis jetzt kann ich nicht erkennen, wie Ihre  Definition der Unschuldsvermutung dazu führen kann, das derzeitige System der Verdachtsgrade durch ein besseres zu ersetzen.

 

3

Eine praktische Frage zum Fall Mollath.

 

Wie ist das eigentlich wenn sich im Laufe des Verfahrens herausstellt, dass der Beschuldigte nach „Überzeugung“ des Gerichts eine Tat begangen haben soll (gefährliche KV), sich aber gleichzeitig herauskristallisiert, dass es keinerlei Anhaltspunkte für eine Geistesstörung gibt, noch nicht einmal eine für „eine vorübergehende Geistesstörung“ zum Tatzeitpunkt, die ja dann auch noch unabdingbar für die Tat gewesen sein müsste?

 

Das einzige was es gibt ist eine „nicht ausschließbare“, geistige Störung, nur und ausschließlich zum Tatzeitpunkt. „Nicht ausschließbar“ alleine deshalb weil niemand dabei war.

 

Was wir hier im negativsten Fall zu Lasten von Mollath haben ist folgendes:

 

  • Der Angriff soll unvermittelt erfolgt sein.
  • Der Täter soll das Opfer gebissen haben (skurriler Tatumstand).
  • Die Aussage von Mollaths Ex gegenüber seinem Freund Braun:

 

(„Wenn Gustl meine Bank und mich anzeigt, mache ich ihn fertig. Dann zeige ich ihn auch an, das kannst Du ihm sagen. Der ist doch irre, den lasse ich auf seinen Geisteszustand überprüfen, dann hänge ich ihm was an, ich weiß auch wie“).

  • Die restlichen Aktivitäten von Mollaths Ex um ihn zu psychiatrisieren, insbesonders die Gespräche mit der von ihr betreuten Bankkundin Frau Dr. K.

 

 

Was wir nicht haben ist folgendes:

 

  • Einen einzigen Zeugen, der Mollath in seinem bis zum Tatzeitpunkt geführten Leben als „verwirrt“ oder geistesgestört angesehen hat.
  • Einen Täter, der auch nur ein einziges Mal in seinem Leben die Hilfe eines Psychiaters, oder auch nur Psychologen in Anspruch nehmen musste.
  • Einen Mann, der nicht in der Lage gewesen wäre sein Leben zu führen, inclusive Abitur, der anspruchsvollen Arbeit im Bereich des Sportwagenaufbaus und einer langjährigen Ehe.
  • Noch nicht einmal die Exfrau lässt sich darüber aus, dass ihr Mollath beim angeblichen Angriff vom 12.08.01 irgendwie seltsam, skurril, abartig, ferngesteuert, halluzinierend, unrealistisch, weggetreten, phantasierend, abartig, vollkommen in Rage oder Panik vorgekommen sei. Es gibt keine seltsamen Tatbeschreibungsumstände, beispielsweise des Inhalts, dass Mollath sich nicht mehr darüber bewusst gewesen sei, seine Frau vor sich zu haben, dass er sich verbal wirr, oder auch nur aggressiv geäußert habe.
  • Einen Menschen, der unter folterähnlichen und entwürdigenden Umständen in jahrelanger Forensikunterbringung, davon lange Zeit in der Hochsicherheitsforensik, und zwar grundlos, wie das WAG festgestellt hat, auch nur ein einziges Mal durchgedreht, oder ausgeflippt wäre, noch nicht einmal verbal. Mollath ist also außerordentlich belastbar, im Vergleich mit seinen Mitmenschen und nicht unterdurchschnittlich.
  • Im Schwarzgeldwahn kann er auch nicht gewesen sein, weil er ja damals bereits wusste, dass es sich hier um die Wahrheit handelt.

 

Warum durfte also in dieser Situation Professor Nedopil überhaupt seine psychiatrische Stellungnahme verlesen, vor der bundesdeutschen Öffentlichkeit?

 

Für mich ergibt sich hier nur die Schlussfolgerung, dass man die psychiatrisch begründete Schuldunfähigkeit unbedingt herbeizaubern musste, um den Vorgaben zu genügen.

 

Dazu passt, dass das WAG den einzigen skurrilen Tatumstand, nämlich die angebliche Bissnarbe so darstellt, als hätte der aktuelle Ehemann von P3M deren Existenz bestätigt, was er aber gerade nicht getan hat.

 

 

 

 

 

5

@#48

Nach dem BVerfG verstößt die StPO insoweit auch nicht gegen die Unschuldsvermutung (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv074358.html#Opinion Rn. 43).

Das BVerfG nennt unter Rn.45 zum § 153 StPO (Einstellung wegen geringer Schuld) die hypothetische Schuldbeurteilung als konform mit der Unschuldsvermutung. Was heißt also hypothetische Schuldbeurteilung? Z.B. "Angenommen der Verdächtige ist wirklich der Täter, dann ist die Schuld so gering, dass das Verfahren trotz Täterschaft vor Feststellung der Schuld eingestellt werden kann". Der Verdächtige könnte aber eben auch nicht der Täter sein, deswegen nur hypothetische Schuld. Es wird dann in Anwendung § 153 StPO gerade KEINE Tat und Schuld festgestellt, oder nun doch wieder?

Wenn in ähnlicher Situation der forensische Gutachter den Angeklagten begutachtet, ausschließlich in der Annahme, die Tatbegehung stehe tatsächlich fest, dann ignoriert er alle denkbaren Verhaltensweisen, die ein Nichttäter bei einer falschen Beschuldigung zeigt. Dazu gehört  auch die Verweigerung gegenüber Institutionen, die der Wahrheit schon vorsorglich keinen Glauben schenken wollen oder diese sogar bewusst verleugnen. Eine praktisch im Strafverfahren oft nicht hilfreiche, aber zutiefst würdevolle und menschliche Reaktion. Wer rechtfertigt sich schon gern gegenüber vermutlichen Tätern?

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Lutz Lippke schrieb:

@#48

Nach dem BVerfG verstößt die StPO insoweit auch nicht gegen die Unschuldsvermutung (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv074358.html#Opinion Rn. 43).

Das BVerfG nennt unter Rn.45 zum § 153 StPO (Einstellung wegen geringer Schuld) die hypothetische Schuldbeurteilung als konform mit der Unschuldsvermutung. Was heißt also hypothetische Schuldbeurteilung? Z.B. "Angenommen der Verdächtige ist wirklich der Täter, dann ist die Schuld so gering, dass das Verfahren trotz Täterschaft vor Feststellung der Schuld eingestellt werden kann". Der Verdächtige könnte aber eben auch nicht der Täter sein, deswegen nur hypothetische Schuld. Es wird dann in Anwendung § 153 StPO gerade KEINE Tat und Schuld festgestellt, oder nun doch wieder?

Wenn in ähnlicher Situation der forensische Gutachter den Angeklagten begutachtet, ausschließlich in der Annahme, die Tatbegehung stehe tatsächlich fest, dann ignoriert er alle denkbaren Verhaltensweisen, die ein Nichttäter bei einer falschen Beschuldigung zeigt. Dazu gehört  auch die Verweigerung gegenüber Institutionen, die der Wahrheit schon vorsorglich keinen Glauben schenken wollen oder diese sogar bewusst verleugnen. Eine praktisch im Strafverfahren oft nicht hilfreiche, aber zutiefst würdevolle und menschliche Reaktion. Wer rechtfertigt sich schon gern gegenüber vermutlichen Tätern?

Erstens das und zweitens, der Punkt war glaub ich schonmal hier "auf dem Tisch", aber ehrlich gesagt wurde er, glaube ich, nicht hieb- und stichfest geklärt:

Wie löst man eigentlich das Problem, dass der Angeklagte sich ja a) nicht selbst belasten muss, b) die Möglichkeit haben muss, selbst per Fragen in den Prozess einzugreifen und c) dabei (also im Prozessverlauf) unter Zwangsbeobachtung durch einen Psychiater steht?

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Lutz Lippke schrieb:

@#48

Nach dem BVerfG verstößt die StPO insoweit auch nicht gegen die Unschuldsvermutung (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv074358.html#Opinion Rn. 43).

Das BVerfG nennt unter Rn.45 zum § 153 StPO (Einstellung wegen geringer Schuld) die hypothetische Schuldbeurteilung als konform mit der Unschuldsvermutung. Was heißt also hypothetische Schuldbeurteilung? Z.B. "Angenommen der Verdächtige ist wirklich der Täter, dann ist die Schuld so gering, dass das Verfahren trotz Täterschaft vor Feststellung der Schuld eingestellt werden kann". Der Verdächtige könnte aber eben auch nicht der Täter sein, deswegen nur hypothetische Schuld. Es wird dann in Anwendung § 153 StPO gerade KEINE Tat und Schuld festgestellt, oder nun doch wieder?

Der BVerfG-Entscheidung lag die besondere Konstellation zugrunde, dass die Verfahren zwar eingestellt wurden. Weil die Richter von der Schuld der Angeklagten aber überzeugt waren, mussten die Angeklagten die Kosten und Auslagen tragen. Das sind die "Maßnahmen [...], die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen" (Rn. 40), von der das BVerfG spricht, da Kosten und Auslagen vergleichbar sind mit einer Geldstrafe. Nach dem BVerfG geht das dann in Ordnung, wenn das Verfahren bis zur Schuldspruchreife - nach dem letzten Wort des Angeklagten - durchgeführt wurde (Rn. 47). Das Gericht hätte an dem Punkt ja genauso gut ein Urteil fällen können. Deswegen haben zwei Beschwerdeführer Recht gekriegt und einer nicht.

 

Quote:
Wenn in ähnlicher Situation der forensische Gutachter den Angeklagten begutachtet, ausschließlich in der Annahme, die Tatbegehung stehe tatsächlich fest, dann ignoriert er alle denkbaren Verhaltensweisen, die ein Nichttäter bei einer falschen Beschuldigung zeigt. Dazu gehört  auch die Verweigerung gegenüber Institutionen, die der Wahrheit schon vorsorglich keinen Glauben schenken wollen oder diese sogar bewusst verleugnen. Eine praktisch im Strafverfahren oft nicht hilfreiche, aber zutiefst würdevolle und menschliche Reaktion. Wer rechtfertigt sich schon gern gegenüber vermutlichen Tätern?

Soweit ich Prof. Müller verstanden habe, geht der Gutachter zwar hypothetisch von der Täterschaft aus, darf aber auch nicht alles unkritisch als wahr unterstellen.

Henning Ernst Müller schrieb:
Der psychiatrische Sachverständige wird also beauftragt, den Tatverdächtigen zu untersuchen und hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit zu begutachten - und zwar hypothetisch davon ausgehend, dass der Untersuchte  die Tat begangen hat. Für diese Begutachtung kann es auch wichtig sein, den vermuteten Tatablauf zu kennen, nach den bis dahin aufgezeichneten Ermittlungen (freilich sind die Akten vom Psychiater auch kritisch zu sehen, nicht alles darf einfach wahr unterstellt werden, insbesondere wenn erkennbar ist, dass das Material Lücken aufweist, die Quellen unzuverlässig sind etc.).

Woraus sich das ergibt, würde auch mich mal interessieren. Ich habe zugegebenermaßen aber auch noch nicht intensiv in die Richtung recherchiert. Das einzige, was ich bis jetzt gefunden habe, ist eine EGMR (hat nichts mit der EU zu tun) Entscheidung aus 1998 (Bernard v. France). Dort werden sogar einzelne Passagen im Gutachten, die von der Tatschuld ausgehen, nicht für problematisch gehalten, solange das Verfahren insgesamt fair war. Das kann aber m.E. nicht das Ende der Weisheit sein, das abweichende Votum weist da schon eher den richtigen Weg.

https://books.google.de/books?id=y14VFbQfq3YC&lpg=PA705&ots=USPEzf_4zG&h... (deutsche Zusammenfassung unter 6.)

http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-58161 (englische Originalentscheidung)

 

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Glückwunsch zu diesem verbalen Fund: "hypothetisch"

Lutz Lippke schrieb:

Das BVerfG nennt unter Rn.45 zum § 153 StPO (Einstellung wegen geringer Schuld) die hypothetische Schuldbeurteilung als konform mit der Unschuldsvermutung. Was heißt also hypothetische Schuldbeurteilung? Z.B. "Angenommen der Verdächtige ist wirklich der Täter, dann ist die Schuld so gering, dass das Verfahren trotz Täterschaft vor Feststellung der Schuld eingestellt werden kann". Der Verdächtige könnte aber eben auch nicht der Täter sein, deswegen nur hypothetische Schuld. Es wird dann in Anwendung § 153 StPO gerade KEINE Tat und Schuld festgestellt, oder nun doch wieder?

Gute Frage: was heißt das: hypothetische Schuldbeurteilung? Ich interpretiere mal das schwache Extrem: die Unschuldsvermutung wird nicht in Frage gestellt, wenn eine hypothetische Schuldzuweisung als möglich erörtert wird. Das starke Extrem: .. wenn eine Schuldzuweisung in einem Hypothesenzweig als real unterstellt wird.

Für das Anknüpfungstatsachenproblem beim Sachverständigen ist das aber unerheblich, da er ja die Schuldfähigkeitsfrage nicht zu entscheiden hat. Was er genau zu entscheiden hat, kann dieses Rechtssystem allerdings nicht klar formulieren, und deshalb ist es auch kein richtiges. Damit sind wir wieder beim Rechtsbegriff- und Sachbegriff-Wirrwarr oder meinem alten Kauderwelsch-Vorwurf. Unerträglich. Es wird allerhöchste Zeit, dass dieses Inzuchtsystem neue Impulse von außen bekommt.

 

 

Sehr geehrter Herr Lippke,

Sie schreiben:

Es wird im Zitat eigentlich nur die notwendige prozessuale Folge beschrieben und die Tatfrage ausgeklammmert. Herr Kolos, vielleicht können Sie gerade deshalb meinen Denkfehler oder die Wissenslücke füllen.

Das muss ein Missverständnis sein. Keinesfalls habe ich für die Unschuldsvermutung die Tatfrage ausgeklammert. Im Grunde verstehe ich unter Unschuldsvermutung genau das, was das BVerfG darunter versteht. Allerdings ist meine Auffassung inzwischen wegen der Entscheidung des EGMR in Sachen Cleve gegen Deutschland etwas modifiziert. Auf die Verhängung von (Straf-)Maßnahmen kommt es nicht an. Sie verbietet auch Schuldsprüche ohne Schuldnachweis, dabei muss es nicht zwingen zu einem Strafausspruch kommen. Ohne Beweise verbietet sie sogar Ausführungen zur Täterschaft in Urteilsgründen freisprechender Urteile. 

BVerfG - 2 BvR 366/10, Rdnr.6 (die Gliederung ist von mir): 

Die Unschuldsvermutung ist eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips und hat damit Verfassungsrang (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>). 

1. Sie verbietet zum einen, im konkreten Strafverfahren 

1.1. ohne gesetzlichen, prozessordnungsgemäßen - nicht notwendiger Weise rechtskräftigen - Schuldnachweis Maßnahmen gegen den Beschuldigten zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Strafe gleichkommen 

1.2. und ihn verfahrensbezogen als schuldig zu behandeln; 

2. zum anderen verlangt sie den rechtskräftigen Nachweis der Schuld, bevor dem Verurteilten diese im Rechtsverkehr allgemein vorgehalten werden darf (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 35, 311 <320>; 74, 358 <371> ). 

Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der grundgesetzlichen Unschuldsvermutung sind Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe heranzuziehen (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 111, 307 <322 ff.>).

 

Nach dem Einwand von Professor Müller sehe ich zu Unschuldsvermutung und Vernehmung des psychiatrischen Sachverständigen folgendes Problem:

Wie lässt sich sicherstellen, dass das Gericht seine Überzeugung zur Täterschaft des Angeklagten nicht aus dem psychiatrischen Gutachten bildet, das die Täterschaft hypothetisch und ohne Beweis (entgegen der Unschuldsvermutung) unterstellt? Und wie lässt sich das (in der Revision) überprüfen? Ist diesbezüglich nicht eine Darstellung in den Urteilsgründen zu verlangen?

Grundsätzlich stellt sich mir aber noch folgende Frage:

Schuld kann der Angeklagte gestehen, im Ganzen und in Teilen. Warum soll es ihm aber grundsätzlich nicht möglich sein, isoliert ohne Tatgeständnis seine Schuldfähigkeit zu gestehen in etwa mit dem Inhalt: Was auch immer ich nach Überzeugung des Gerichts getan oder unterlassen habe, ich habe es in eigener Verantwortung getan und stehe dafür ein. Diese Würde möchte ich mir nicht nehmen lassen. 

WR Kolos schrieb:

Grundsätzlich stellt sich mir aber noch folgende Frage:

Schuld kann der Angeklagte gestehen, im Ganzen und in Teilen. Warum soll es ihm aber grundsätzlich nicht möglich sein, isoliert ohne Tatgeständnis seine Schuldfähigkeit zu gestehen in etwa mit dem Inhalt: Was auch immer ich nach Überzeugung des Gerichts getan oder unterlassen habe, ich habe es in eigener Verantwortung getan und stehe dafür ein. Diese Würde möchte ich mir nicht nehmen lassen. 

Das ist auch ein Aspekt der von mir oben (nochmal) aufgeworfenen Fragestellung der Zwangsbeobachtung während des Prozesses, denn es stellt sich ja auch umgekehrt folgende Frage:

Es kann ja im Verlauf einer solchen Verhandlung dann rauskommen, dass der Angeklagte zwar bzgl der angeklagten Tat tatsächlich schuldlos ist (im Sinne von sie NICHT begangen hat) aber psychisch so neben der Spur, dass er möglicherweise zwangsweise eingewiesen werden "muss".

Oder unschuldig, aber ein bissl seltsam, mit welchem Recht durfte das in öffentlicher Verhandlung über ihn verbreitet werden?

Und mit welcher Begründung findet denn dann überhaupt irgendeine Verhandlung OHNE psychiatrischen Gutachter statt?

Also ich persönlich finde es nicht "normal", welches Verbrechen auch immer zu begehen.

Wendet man die gerichtliche Vorgehensweise im Fall Mollath generell an, kann man niemanden mehr schuldig sprechen, weil man für NIEMANDEN ausschließen kann, dass er schuldunfähig war.

Über DIESE Konsequenz aus DIESEM Urteil wird, gerade aus sachlich-wissenschaftlicher Sicht immer wieder hinweggegangen.

Und wenn man das schon bei faktisch , wie von Atropa eben erst wieder aufgelistet, dermaßen psychiatrisch unauffälligen, stabilen und extrem belastbaren Menschen wie Mollath nicht ausschließen kann, dann ja wohl erst Recht nicht beim Rest der Welt.

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Sehr geehrter Herr Kolos,

ich hatte mich missverständlich ausgedrückt. Ich meinte damit nicht das Sie die Tatfrage aus der Unschuldsvermutung ausschließen, sondern nur, dass Sie in dem Kommentar/Zitat dazu nichts mitgeteilt hatten. So hatte ich das wahrgenommen.

Leider versäumt auch das BVerfG eine klare Definition von Tat, Schuld, Unschuldsvermutung, Schuldfähigkeit. Ihre Idee zum Recht auf Geständnis der Schuldfähigkeit gefällt mir. Ich dachte früher immer, dass es für Angeklagte vorteilhaft ist, als schuldunfähig zu gelten. Entweder war das von vornherein ein Irrtum oder es muss mittlerweile eine grandiose Entwicklung Richtung "Maßnahmen für die Stärkung der seelischen Volksgesundheit" gegeben haben.

Ich muss zugeben, dass mir die Definition des BVerfG zur Unschuldsvermutung einerseits zu sperrig formuliert und andererseits zu geschmeidig in der möglichen Anwendung und Auslegung ist. Es scheint dem Juristischen schon immanent zu sein, überall Spielräume zur Auslegung vorzuhalten. In der oft sehr stringenten Technik kann man das auch machen, muss dann aber rückgekoppelte Regelkreise einsetzen. Alles andere ist kaum zu kontrollieren. Das BVerfG soll ja so etwas wie eine Rückkopplung sein. Wenn man aber die veröffentlichten Zahlen nimmt, dann wandern deutlich mehr als die Hälfte der Beschwerden, vollkommen unabhängig von Relevanz und Qualität, ungelesen in den Müll. Begründungslos. Ein echtes Problem. Da versagt die Rückkopplung gewiss. Zumindest in der Technik.

Das von Ihnen aufgeworfene Problem der Abfolge: Gutachten beeinflusst das Gericht bei der Überzeugungsbildung zur Tatfrage, ist im Prinzip ein Folgeproblem der Festlegung des Gutachters auf die (hypothetisch) nachgewiesene Tat. Dies wird dann später bei der Unterbringung weiter fortgeführt. Es ist unverständlich und hier im Blog auch noch nicht ansatzweise diskutiert worden, warum es nicht möglich sein sollte, dass Gutachter zweigleisig fahren müssen und zur Tathypothese auch die Gegenhypothese darstellen. Das ist sogar für jede wissenschaftliche Ausarbeitung/Untersuchung Konsens, dass die Kausalitäten und Nebeneffekte geprüft werden müssen. Es bleibt dabei im Wesentlichen der gleiche Untersuchungsaufwand nur mit einem entgegengesetzten und dokumentierten Prüfblick. Das erhöht die Qualität enorm. Damit wäre dann auch die notwendige Auseinandersetzung des Gerichts mit der Unschuldsvermutung gesichert und Revisionsfähigkeit gewährleistet. Insbesondere deshalb, weil natürlich StA und Gericht die mindestens 2 Hypothesen bereits im Auftrag an den Gutachter vorgeben bzw. skizzieren müssten. Das dürfte denen aufgrund ihrer Unvoreingenommenheit und der Gewährleistung der Unschuldsvermutung nicht schwer fallen ;-) Also warum diese Scheuklappen? Weil es der Gesetzgeber verbietet? Nein, wohl kaum. Weil es der Gesetzgeber nicht explizit verlangt? Na und, das ergibt sich doch schon aus den allgemeinen Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens. Das muss man nicht erst durch mühevolle Auslegung finden.

 

   

4

@Dr. Sponsel #4

Das BVerfG nennt an der von Lutz Lippke zitierten Randnummer die Voraussetzungen, die es an eine hypothetische Schuldbeurteilung im Rahmen einer Einstellung stellt.

Quote:

Das Gericht hat den Sachverhalt, so wie er sich im jeweiligen Verfahrensstadium abzeichnet, daraufhin zu prüfen, ob die Schuld des Beschuldigten gering wäre, wenn die Feststellungen in einer Hauptverhandlung diesem Bild entsprächen. Es darf die strafrechtliche Relevanz nicht nach Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld feststellen; es darf sie lediglich unterstellen (vgl. Wendisch in: Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 383 Rdnr. 23).

Das gilt ausdrücklich nicht, wenn strafähnliche Maßnahmen trotz Einstellung verhängt werden, siehe meine #1.

Ihre Wortwahl weckt bei mir keine Hoffnung, dass von Ihnen konstruktive Impulse zu erwarten sind.

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Sehr geehrter Herr Lippke,

Sie schreiben:

Das von Ihnen aufgeworfene Problem der Abfolge: Gutachten beeinflusst das Gericht bei der Überzeugungsbildung zur Tatfrage, ist im Prinzip ein Folgeproblem der Festlegung des Gutachters auf die (hypothetisch) nachgewiesene Tat. Dies wird dann später bei der Unterbringung weiter fortgeführt.

Ich teile Ihre Einschätzung zum größten Teil. Diese ist freilich nicht neu, sondern von mir (konkret im Fal Mollath hier im Beck-Blog) und auch abstrakt schon mehrfach dargestellt worden: Die Wahrnehmung, Herr Mollath sei ein "Spinner" und die haltlosen Diagnosen der ersten Gutachten  führten dazu, dass man sich über die Tatbegehung weniger Gedanken machte und Staatsanwaltschaft wie Gerichte den ganzen Fall schlampig und rechtsfehlerhaft bearbeitet haben. Die Zusammenarbeit zwischen Justiz und Psychiatrie ist an dieser Stelle fragwürdig und reformbedürftig. Dass die psychiatrische Einschätzung nur auf der (hypothetischen) Unterstellung einer noch nicht gerichtlich festgestellten Tat beruht, muss im Gutachten viel deutlicher gemacht werden. Sonst kann es vorkommen, dass der Tatnachweis nicht korrekt erfolgt, weil die Justiz den Tatnachweis bei einem als psychisch krank begutachteten Beschuldigten nicht mehr so ernst nimmt. Ihre "Lösung" dieses Problems erscheint mir aber wenig sinnvoll.

Es ist unverständlich und hier im Blog auch noch nicht ansatzweise diskutiert worden, warum es nicht möglich sein sollte, dass Gutachter zweigleisig fahren müssen und zur Tathypothese auch die Gegenhypothese darstellen.

 "Noch nicht ansatzweise diskutiert" - ernsthaft? Da ich den Grund dafür in meinem letzten Kommentar angesprochen habe, und Sie darauf ja auch schon geantwortet haben (allerdings ohne auf die Sache und meine Argumente einzugehen), bin ich doch sehr erstaunt. "Zweigleisiges Fahren" würde genau das Gegenteil von dem bewirken, was Sie sich (denke ich) wünschen: Eine Begutachtung jenseits der Hypothese, dass der Untersuchte die Straftat begangen hat, wäre im Strafprozess sogar schädlich. Es würde dann Fälle geben, in denen die Krankheit und Gefährlichkeit unabhängig von der Tatbegehung festgestellt wird. Das liegt außerhalb der Aufgabe des Strafprozesses.

Das ist sogar für jede wissenschaftliche Ausarbeitung/Untersuchung Konsens, dass die Kausalitäten und Nebeneffekte geprüft werden müssen.

Sie unterstellen, dass  der Strafprozess eine wissenschaftliche Untersuchung sei. Daraus ergeben sich falsche Schlussfolgerungen. Der Strafprozess hat ein begrenztes Programm, bezieht sich nur auf einen konkreten Einzelfall und will nur die Voraussetzungen ganz bestimmter Rechtsfolgen klären.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Prof. Müller,

vielen Dank für Ihre Erwiderung. Es gibt neben Übereinstimmung in wesentlichen Punkten und offensichtlichen Missverständnissen, bei mir noch offenen Erkenntnis- und Diskussionsbedarf.
Zunächst zu den Missverständnissen.
Unbenommen ist Ihre kritische Haltung zu den tatsächlichen Verfahrensweisen und auch Ihre Unterstützung von Reformen. Das hatte ich auch mehrfach gewürdigt und sollte mit meinem letzten Kommentar auch nicht relativiert werden.

Sie beziehen sich zur Idee der Zweigleisigkeit des Gutachtens auf Ihren Kommentar #36 vom 18.03.2015. Darin verwiesen Sie auf Fehlvorstellungen über die Funktion des Strafprozesses und die Verkennung des Unterschieds zwischen prozessualem und materiellen Recht. Im aktuellen Kommentar verstehen Sie mich so, dass ich den Strafprozess als wissenschaftliche Untersuchung verstehe.

Zunächst sehe ich nicht den Strafprozess selbst als wissenschaftliche Untersuchung. Allerdings sollten auch die mit weitreichenden Rechten ausgestatteten Staatsanwälte und Richter ihre wissenschaftliche Ausbildung nicht durch (ggf. routiniertes) Meinen ersetzen und sich bei Entscheidungen all zu sehr von persönlichen Lebensvorstellungen leiten lassen. Aber das ist an dieser Stelle nicht mein unmittelbares Thema.

Mein Bezug auf die erforderliche Wissenschaftlichkeit betraf nicht das Gerichtsverfahren sondern das Gutachten des Sachverständigen. Denn der Gutachter kann nur im wissenschaftlichen Sinne Sachverständiger sein.  Er soll ja gerade die fehlenden Kenntnisse der Richter auf einem speziellen Gebiet ausgleichen und fundierte Entscheidungsmittel an die Hand geben. Dass das nicht in Form einer ausgereiften wissenschaftlichen Studie mit Kontrollgruppen etc. erfolgt, ist klar. Aber es muss ebenso klar sein, dass nicht der (gute) Ruf, die Position im gesellschaftlichen Gefüge oder die persönliche Vorliebe des Sachverständigen an die Stelle des wissenschaftlichen Sachverstandes tritt. Ob ein psychologisches Gutachten mit einseitiger Ausrichtung (hypothetische Tat als gegeben unterstellt) überhaupt sachverständig möglich ist, könnte Dr. Sponsel sicherlich viel besser bewerten als ich. Ich hege jedenfalls Zweifel daran.
Ihr Einwand zur Rechteverletzung durch ein zweigleisiges Gutachten muss ich erst noch durchdenken. Im Moment sperrt sich da noch mein Hirn.

Klar ist auch, der Strafprozess soll (tatsächliche) Täter dingfest machen. Insofern kann ich auch die Unterscheidung in materielles Recht (Unschuld bis zur rechtskräftigen Verurteilung) und Prozessrecht (Hinnahme des Verdachts, der U-Haft, der miserablen Entschädigung? etc.) zumindest ansatzweise nachvollziehen.
Schwierigkeiten habe offensichtlich nicht nur ich, wenn es darum geht, nachzuvollziehen wie das Strafverfahren und die Strafjustiz allgemein diese Rechte sicherstellt. Betrachtet man das Strafverfahren oder die Strafjustiz als Blackbox, dann fehlt es mir an fundierten Hinweisen, dass mit diesen Blackboxen die tatsächlichen Täter gefasst werden und verdächtigte Nichttäter entlastet werden. Dies könnte man durch Evaluation oder durch theoretische Modellbildung herausfinden. Die letzte mir in Ansätzen bekannte Evaluation von Peters ist einige Jahrzehnte alt. Theoretische Modelle zur Funktionsfähigkeit sind mir gänzlich unbekannt. Das kann und wird an mir liegen. Ebenso kann man sich natürlich auch Einzelfunktionen des Strafprozesses ansehen und daraus Schlüsse zu Fehlerwahrscheinlichkeiten ziehen. Der Zweifel gilt sicherlich nicht für jede Art von Strafverfahren. Vermutlich geht es mir da wie Anderen auch, die Offenbarungen dieses WAV lassen mich gerade an der Tauglichkeit der Prozessregeln in unklaren Fällen z.B. bei Aussage gegen Aussage-Situationen zweifeln. Vor allem mit dem Fokus auf einen verdächtigten Nichttäter, der möglicherweise schicksalhaft unter die Räder gerät. Ich finde daher Zweifel an den juristischen Gewohnheiten gerechtfertigt und der Fokus auf Lösungen für den Schutz Verdächtigter soll ja nicht die (nachfolgende) Prüfung im Hinblick auf den notwendigen Tatnachweis ausschließen. Beides gehört am Ende zusammen. Wird ohne Tat verurteilt oder bei vorliegender Tat nicht der Täter, dann trifft es Jemanden wie "mich und dich", unvermittelt und unwiederbringlich aus seinem halbwegs selbstbestimmten Leben gerissen. Eine recht gruselige Vorstellung. Ist das den Strafrechtlern wirklich bewusst? Sie sprechen dieses Thema an, aber glauben Sie wirklich an einen freiwilligen Ehrenkodex, der solche Exzesse vermeiden könnte? Fall Arnold, Wörz ...?

Mit freundlichen Grüssen

Lutz Lippke

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Sehr geehrter Gast2,

Ihre Ausführungen halte ich für überwiegend treffend und weiterführend. Soweit darin Kritik an meiner Darstellung enthalten ist, lässt sich möglicherweise einiges auf ein Missverständnis zurückführen: Ich habe ja mit meinem Kommentar auf die hier vorgetragenen Thesen geantwortet, ein psychiatrisches Gutachten dürfe nicht schon erstellt werden, wenn noch kein Tatnachweis vorliegt und es müsse, wenn überhaupt, unter zwei gegenläufigen Hypothesen erstattet werden (Tat begangen, nicht begangen).

Bei der Frage der Schuld(un)fähigkeit geht es immer tatbezogen darum, ob für eine bestimmte Tat die Schuldfähigkeit gegeben war oder nicht. Diese Frage kann (und sollte) der Psychiater nicht "zweigleisig" beantworten. M. E. gebieten weder Unschuldsvermutung noch Logik, dass der Psychiater die Schuldfähigkeit zu einer Tat beurteilt unter der Hypothese, diese habe nicht stattgefunden. Das hielte ich für gefährlich. Aber Sie haben Recht: Für die Beurteilung jeder einzelnen der vorgeworfenen Taten dürfen nicht zugleich alle anderen vorgeworfenen Taten als stattgefunden unterstellt werden. Hier drängen sich, insbesondere wenn es sich nicht um gleichgeartete und/oder zeitlich weit auseinanderliegende Taten handelt,  Alternativhypothesen an, so, wie Sie es dargestellt haben. Und am besten wäre es, wenn das Gericht dies gleich im Auftrag an den Gutachter klarstellen würde.

Hinsichtlich der Gefährlichkeitsprognose, die ja meist auch vom SV verlangt wird, kann natürlich auch mitentscheidend sein, wie oft und welche Taten (Plural) begangen wurden. Auch hierfür ist im Rahmen der Hauptverhandlung, in der der Tatnachweis erst noch erbracht werden muss, bei mehreren Taten alternativ abgestuft vorzugehen.

Zu Ihrem Vorschlag eines Tatschuldinterlokuts, also der Vorberatung über die Tatbegehung, bevor das Gutachten in der Hauptverhandlung erstattet wird. M.E. spricht - andrs als MT es sagt - grds. keine geltende  Vorschrift dagegen, den Beweis der Tatbegehung vorzuberaten. Das Gericht ist frei darin, sich auch während der Verhandlung ein Bild zu machen und darüber vorab zu beraten.  Es wird - jedenfalls derzeit herrschend - aber auch keine Pflicht des Gerichts angenommen, die Verhandlung zu unterbrechen. Das Gericht kann nach derzeitiger Rechtslage durchaus  alles "sammeln", um dann in einer Beratung sowohl Tatbegehung als auch ggf. über Schuldfähigkeit zu beraten. Die Abrufung des Gutachtens kann grds. nicht für sich schon die Besorgnis der Befangenheit des Gerichts  begründen. Da es ein Kollegialgericht ist, genügt es zudem ja schon, wenn einzelne Richter anderer Meinung sind, oder sich noch kein endgültiges Bild gemacht haben. Im Fall Mollath wäre ein solches Interlokut m.E. wünschenswert, vielleicht sogar geboten  gewesen. Es kam allerdings die Problematik hinzu, dass Herr Mollath, nachdem der SV vernommen worden war, sich noch zur Sache äußern wollte (das hätte er freilich auch schon vorher getan, wenn nicht der Psychiater auf ständiger Anwesenheit im Gerichtssaal beharrt hätte). Wenn aber die Ausführungen Herrn Mollaths zur Sache noch berücksichtigt werden sollten bei der Frage der Tatbegehung (und das wurden sie, allerdings wie bekannt nicht nur zum Vorteil Herrn Mollaths), konnte man damals noch keine vollständige Vorberatung durchführen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

 

zu Ihrem oben genannten Beispiel ist anzumerken, dass bei einem verwirrten Menschen immer Hilfeleistung geboten ist, egal, ob nebendran eine Leiche liegt und der Mensch ein blutiges Messer in der Hand hat.

Ohne Leiche darf der Mensch sobald er wieder zurechnungsfähig ist, die Klinik wieder verlassen, mit Leiche kann durch ein Gericht eine "Aufenthaltsbestimmung" (JVA oder Forensik) erfolgen.

In beiden Fällen wird alles daran gesetzt werden, um den verwirrten Menschen wieder zurechnungsfähig zu machen.

Grund für die Aktivität und Anlass für die "Datenerhebung über den Gesundheitszustand" ist die Verwirrtheit, mit oder ohne Leiche, die daneben liegt, können hier Daten erhoben werden, um der Person Hilfe zu leisten.

 

Ist ein zurechnungsfähiger Mensch neben einer Leiche mit blutigem Messer, dann gibt es erst mal keinen Grund, irgendwelche Gesundheitsdaten über diesen Menschen zu erheben, es kann nur ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, ob und wie der Mensch zu bestrafen ist. Erst wenn es Indizien gibt, dass der Mensch psychisch krank sein könnte, dann stellt sich die Frage eines Gutachtens ...

Der Mensch darf sein, wie er ist. Art. 2 GG billigt jedem Menschen eine allgemeine Handlungsfreiheit zu. Diese Handlungsfreiheit findet ihre Grenze allerdings an den Rechten von anderen ...

 

Übertragen auf den Fall Mollath gab es somit hier einen Angeklagten, über den es - basierend auf Angaben der Ehefrau - mangelhafte Gutachten über die psychische Erkrankung gab. Der Herr mag noch etwas schrullig sein, aber Art. 2. GG. Aufgrund der Gutachten, basierend auf den Angaben der Ehefrau, sei es angeblich zwingend notwendig, dass ein Gutachter im Prozess anwesend ist, um die Schuldfähigkeit zu beurteilen?

 

Das bedeutet anders herum, sobald aufgrund von Angaben eines Dritten eine Verdachtsdiagnose entsteht, ohne dass die Angaben des Dritten kritisch geprüft wurden, muss die betroffene Person sich von der Verdachtsdiagnose aktiv "reinwaschen"? Wollen wir wirklich in so einer Gesellschaft leben? Oder wollen wir, dass vorher die Angaben der dritten Person erst mal kritisch hinterfragt werden, bevor ein Apparat in Gang gesetzt wird?

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Welche Tathandlungen dürfen, sollen oder müssen  Sv als Anknüpfungstatsachen verwenden?

Machen wir es ganz konkret. Dr. Leipziger fragt am 4.5.2005 bei der Staatsanwaltschaft nach, ob gegen GM noch etwas vorliege, woraus dann die Reifenstechereivorhalte hervorgingen.

Wenn ich das richtig sehe, befinden wir zu diesem Zeitpunkt noch im Ermittlungsverfahren. Jedenfalls bei einem Zeitpunkt, wo keinerlei diesbezügliche Täterschaft nachgewiesen ist.

Dr. Leipziger bringt damit ersten klar und deutlich zum Ausdruck, dass er gewillt ist, neue Tatvorwürfe als vollendet nachgewiesene Taten zu behandeln - m.E. eine schwere Überschreitung seiner Sv-Kompetenz und Ausdruck von willfähriger Befangenheit und Belastungseifer.

Zweitens deutet er damit implizit an, wenn es nichts Neues Relevantes gibt, reicht es nicht für das gewünschte Ergebnis.

Dass so ein Sv-Verhalten überhaupt unbeanstandet und ungeahndet möglich ist, zeigt mir, dass das System faul sein muss

Meine Frage an die Juristen: Wie ist das geregelt - falls es denn klar geregelt ist. Und wie ist das Vorgehen Dr. Leipziger juristisch zu bewerten. Meine eigene Sv-Wertung habe ich schon gegeben.

 

 

@ Dipl.-Psych. Dr. phil Rudolf Sponsel

Einige Ergänzungen zu Ihrem Kommentar #13, die möglicherweise für die Einschätzung der Vorgehensweise des Gutachters Dr. Leipziger relevant sein mögen: (Diesmal mit - hoffentlich funktionierenden - Links.)

Dr. Leipziger rief in dieser Sache bereits in der 13. KW 2005 (= 28.3. bis 1.4.2005) bei Amtsrichter Eberl an. Dabei legte der Gutachter dem Richter dar, dass es für die Begutachtung Mollaths relevant sei, „Ermittlungsergebnisse jüngeren Datums über bekannt gewordene, möglicherweise auch strafrechtlich relevante Verhaltensweisen des Beschuldigten in die aktuelle Begutachtung mit einbeziehen zu können." [Am 21.3.2005 war Mollath übrigens aus seiner vorübergehenden Unterbringung zur Begutachtung im BKH Bayreuth entlassen worden.] Siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIII.html und http://www.erwanson.de/Mollath/Jpg/2005-04-26%adLeipziger-StA_1.jpg .

Zum Zeitpunkt des Telefonats Dr. Leipziger/Richter Eberl waren die polizeilichen „Ermittlungen“ noch lange nicht abgeschlossen. Unmittelbar nach diesem Anruf ist aber eine markante Forcierung einschlägiger Aktivitäten festzustellen. Nachzulesen http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIII.html .

Am 26.4.2005 erinnerte Dr. Leipziger die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth dann schriftlich daran, dass ihm Richter Eberl die Zurverfügungstellung weiterer Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft in Aussicht gestellt habe (siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIII.html#Zeile6... u. http://www.erwanson.de/Mollath/Jpg/2005-04-26%adLeipziger-StA_1.jpg ). Als dieses Schreiben am 28.4.2005 bei der Staatsanwaltschaft einging, lag dieser der polizeiliche Ermittlungsvorgang zu den Sachbeschädigungen noch gar nicht vor.

Am 4.5.2005 fertigt ein Staatsanwalt eine Aktennotiz: "Von Dr. Leipziger wurde nach Rücksprache mit Richter Eberl zur Begutachtung um neue, weitere Vorgänge gegen Herrn Mollath gebeten." Siehe http://www.erwanson.de/default.html#Z65bStANotiz .

Ihren eigentlichen Abschluss fanden die polizeilichen „Ermittlungen“ erst mit dem Schlussbericht vom 12.5.2005, welcher am 19.5.2005, zusammen mit dem kompletten Ermittlungsvorgang zu den Sachbeschädigungen, bei der Staatsanwaltschaft einging (siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteV.html#Z67EEVSBStA ).

Am 2.6.2005 faxt die Staatsanwaltschaft den Schlussbericht vom 12.5.2005 an den Gutachter Dr. Leipziger (siehe http://www.erwanson.de/default.html#Z71FaxStADrL ). Jedoch lag dem Gutachter zu diesem Zeitpunkt bereits der komplette polizeiliche Ermittlungsvorgang zum Tatvorwurf Sachbeschädigungen vor. Näheres dazu siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIV.html#Z66aHin... .

Am 25.7.2005 unterschreibt Dr. Leipziger sein Gutachten, und zwar in Kenntnis des Tatvorwurfs 20 Sachbeschädigungen. Er gutachtet darin u.a.: "Aufgrund der dargelegten Progredienz der paranoiden Symptomatik des Angeklagten und des Umstandes, dass er – wie sich aus den nachträglich vorgelegten, dem Angeklagten neuerlich vorgeworfenen strafbaren Handlungen ergibt – immer mehr Personen in das bei ihm bestehende Wahnsystem einbezieht,…“. Siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteV.html#Z72GAUS .

Am 11.8.2005 wird das Strafverfahren zum Tatvorwurf Sachbeschädigungen von der Staatsanwaltschaft eingestellt (siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteV.html#Z73Einst... ). Dr. Leipzigers Gutachten gerät damit – vorübergehend – zur Makulatur.

Wochen später, nach einer Beschwerde des Geschädigten Greger, wird die Einstellung des Strafverfahrens aufgehoben. Der Staatsanwalt unterstellt dem „Serientäter Mollath“ ein gezieltes Vorgehen gegen Personen, die „von ihm aufgrund ihrer Beteiligung an der Scheidung von seiner Ehefrau oder anderer gegen ihn gerichteten, legitimen Handlungen als Ziel ausgewählt worden waren" und klagt 9 von ursprünglich 20 Sachbeschädigungen an, und zwar jene, bei denen sich die Geschädigten mehr oder weniger der definierten Zielgruppe zuordnen lassen. Näheres http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteVI.html .

Danke für die wertvollen Ergänzungen an Herrn Bixler

Ihre Ausführungen sind weitere wichtige und wertvolle Belege für die Befangenheit, den Belastungseifer Dr. Leipzigers. 

Meine spezielle Frage an die JuristInnen hier war aber:

1) ab wann genau dürfen, sollen oder müssen Sachverständige aufgebrachte Taten als Anknüpfungstatsachen einbeziehen?

2) Gibt es hierzu klare Regeln (Gesetze, Rechtsprechung) oder ist das ungeregelt?

3) Falls das ungeregelt ist: was hat das mit Rechtsstaat oder Rechtssicherheit zu tun?

4) Es gibt Reformbestrebungen zum 63er Komplex. Falls das noch ungeregelt ist, sollte es nicht klar geregelt werden - gibt es dazu Anstalten?

5) Bezieht man Taten, sofern sie denn "feststehen" - wann stehen sie denn fest? - in ein Sachverständigengutachten mit ein, ergibt sich die große Gefahr eines Zirkelschlusses. Als Beispiel nenne ich die Idiotenbeweisfrage, ob ein Täter aggressiv sei, der jemand umgebracht hat. Sie hätte nur dann einen Sinn und eine Berechtigung, wenn die Beurteilung ohne Einbeziehung Tat erfolgte. Im Falle Mollath wurden die Tatvorwürfe von den Schlechtachtern ebenfalls psychopathologisch verwertet, was ebenfalls höchst zirkulär anmutet.

 

 

winler schrieb:
@ Dipl.-Psych. Dr. phil Rudolf Sponsel

Einige Ergänzungen zu Ihrem Kommentar #13, die möglicherweise für die Einschätzung der Vorgehensweise des Gutachters Dr. Leipziger relevant sein mögen: (Diesmal mit - hoffentlich funktionierenden - Links.)

Dr. Leipziger rief in dieser Sache bereits in der 13. KW 2005 (= 28.3. bis 1.4.2005) bei Amtsrichter Eberl an. Dabei legte der Gutachter dem Richter dar, dass es für die Begutachtung Mollaths relevant sei, „Ermittlungsergebnisse jüngeren Datums über bekannt gewordene, möglicherweise auch strafrechtlich relevante Verhaltensweisen des Beschuldigten in die aktuelle Begutachtung mit einbeziehen zu können." [Am 21.3.2005 war Mollath übrigens aus seiner vorübergehenden Unterbringung zur Begutachtung im BKH Bayreuth entlassen worden.] Siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIII.html und http://www.erwanson.de/Mollath/Jpg/2005-04-26%adLeipziger-StA_1.jpg .

Zum Zeitpunkt des Telefonats Dr. Leipziger/Richter Eberl waren die polizeilichen „Ermittlungen“ noch lange nicht abgeschlossen. Unmittelbar nach diesem Anruf ist aber eine markante Forcierung einschlägiger Aktivitäten festzustellen. Nachzulesen http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIII.html .

Am 26.4.2005 erinnerte Dr. Leipziger die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth dann schriftlich daran, dass ihm Richter Eberl die Zurverfügungstellung weiterer Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft in Aussicht gestellt habe (siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIII.html#Zeile6... u. http://www.erwanson.de/Mollath/Jpg/2005-04-26%adLeipziger-StA_1.jpg ). Als dieses Schreiben am 28.4.2005 bei der Staatsanwaltschaft einging, lag dieser der polizeiliche Ermittlungsvorgang zu den Sachbeschädigungen noch gar nicht vor.

Am 4.5.2005 fertigt ein Staatsanwalt eine Aktennotiz: "Von Dr. Leipziger wurde nach Rücksprache mit Richter Eberl zur Begutachtung um neue, weitere Vorgänge gegen Herrn Mollath gebeten." Siehe http://www.erwanson.de/default.html#Z65bStANotiz .

Ihren eigentlichen Abschluss fanden die polizeilichen „Ermittlungen“ erst mit dem Schlussbericht vom 12.5.2005, welcher am 19.5.2005, zusammen mit dem kompletten Ermittlungsvorgang zu den Sachbeschädigungen, bei der Staatsanwaltschaft einging (siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteV.html#Z67EEVSBStA ).

Am 2.6.2005 faxt die Staatsanwaltschaft den Schlussbericht vom 12.5.2005 an den Gutachter Dr. Leipziger (siehe http://www.erwanson.de/default.html#Z71FaxStADrL ). Jedoch lag dem Gutachter zu diesem Zeitpunkt bereits der komplette polizeiliche Ermittlungsvorgang zum Tatvorwurf Sachbeschädigungen vor. Näheres dazu siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteIV.html#Z66aHin... .

Am 25.7.2005 unterschreibt Dr. Leipziger sein Gutachten, und zwar in Kenntnis des Tatvorwurfs 20 Sachbeschädigungen. Er gutachtet darin u.a.: "Aufgrund der dargelegten Progredienz der paranoiden Symptomatik des Angeklagten und des Umstandes, dass er – wie sich aus den nachträglich vorgelegten, dem Angeklagten neuerlich vorgeworfenen strafbaren Handlungen ergibt – immer mehr Personen in das bei ihm bestehende Wahnsystem einbezieht,…“. Siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteV.html#Z72GAUS .

Am 11.8.2005 wird das Strafverfahren zum Tatvorwurf Sachbeschädigungen von der Staatsanwaltschaft eingestellt (siehe http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteV.html#Z73Einst... ). Dr. Leipzigers Gutachten gerät damit – vorübergehend – zur Makulatur.

Wochen später, nach einer Beschwerde des Geschädigten Greger, wird die Einstellung des Strafverfahrens aufgehoben. Der Staatsanwalt unterstellt dem „Serientäter Mollath“ ein gezieltes Vorgehen gegen Personen, die „von ihm aufgrund ihrer Beteiligung an der Scheidung von seiner Ehefrau oder anderer gegen ihn gerichteten, legitimen Handlungen als Ziel ausgewählt worden waren" und klagt 9 von ursprünglich 20 Sachbeschädigungen an, und zwar jene, bei denen sich die Geschädigten mehr oder weniger der definierten Zielgruppe zuordnen lassen. Näheres http://www.erwanson.de/Mollath/Mollath_TatvorwurfSB_SeiteVI.html .

Vielen Dank für diese sehr anschauliche Darstellung / Darlegung der, zur nachhaltigen Verräumung Mollaths nötigen, juristisch-psychiatrischen Choreographie.

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Gibt es eigentlich keine Vorschriften zum einigermaßen fundierten Begründungsnachweis einer geistigen Störung, die dann wiederum zur Schuldunfähigkeit führt?

 

Hinzu kommt, dass m. M. nach auch noch ein einigermaßen plausibler und fundierter Nachweis darüber geführt werden müsste inwieweit sich die geistige Störung (und sei sie auch nur vorübergehend zum Tatzeitpunkt) die Ursache für die Tatbegehung war, bzw. dass die Tat nur wegen der vorübergehenden geistigen Umnachtung begangen worden ist.

 

Wenn man sich überlegt, dass ein Tatverdächtiger im Nachhinein behauptet, er hätte beispielsweise an einer Alkoholpsychose gelitten und nur auf Grund dieses Zustands hätte er eine Tat begangen, reicht es da auch aus, dass der Gerichtsgutachter lediglich feststellt, dass man eine Alkoholpsychose nicht ausschließen könne, beispielsweise weil seinerzeit kein Test gemacht worden ist.

 

So eine nicht ausschließbare Alkoholpsychose wäre beispielsweise eine ganz feine Sache, auf der einen Seite hätte man damit Schuldunfähigkeit und auf der anderen Seite keinen Unterbringungsgrund, da einmalig und erstmalig und steuerbar, sofern es sich nicht um einen chronischen Alkoholiker handelt.

 

Können jetzt alle Tatverdächtigen auf diesen Zug aufspringen mit der „vorübergehenden und nicht ausschließbaren Schuldunfähigkeit“? Ist das jetzt ein Präzedenzfall?

 

Hat jetzt jeder potentielle Täter die Möglichkeit eines "Freischusses" mit der Behauptung einer nicht ausschließbaren, vorübergehenden Störung?

 

Und im anderen Fall:

 

Kann es in Zukunft für eine anstehende Zwangspsychiatrisierung ausreichen, dass ein Gutachter mitteilt eine geistige Störung zum Tatzeitpunkt, die auch noch ursächlich für die Tat gewesen sei könne nicht ausgeschlossen werden?

 

Hinzu bräuchten ja dann nur noch die Gemeingefährlichkeit, plus die schlechte Prognose kommen, die beide auch gleich der Gutachter feststellt, und man könnte jeden betroffenen Täter, mit der entsprechenden Straftat, beliebig statt in die Strafanstalt in die Zwangspsychiatrie schaffen.

 

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Im deutschen Strafverfahren gilt der Inquisitionsgrundsatz des 244 II StPO. Der deutsche Strafrichter ist der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet. Von Amts wegen entscheidet er nach pflichtgemäßen Ermessen, welche Beweismittel erhoben werden und für die Entscheidung von Bedeutung sind. Ergänzend entscheidet er darüber auf Antrag. 

Es wurde Kritik an der Bestellung des psychiatrischen Sachverständigen geübt, an seiner Anwesenheit in der HV und an seiner Vernehmung. Die Einwände lassen sich m.E. als überschießende Aufklärung zusammenfassen. 

Bevor man der Frage nachgeht, ob und wie die STA und der Angeklagte sich gegen überschießende Aufklärung des Gerichts zur Wehr setzten können, muss es sich zunächst um eine solche überschießende Aufklärung bei der Bestellung des Sachverständigen zum Zustand des Angeklagten, bei Zulassung seiner ständigen Anwesenheit in der HV und bei seiner Vernehmung handeln. Das Problem ist, dass die Sachentscheidung, die Ermittlungen und die Entscheidung über die Erhebung von Beweismittel als Mehrfachentscheider in Personalunion von dem Gericht getroffen werden. So ist das halt in einem Inquisitionsprozess. 

Viele werden sich vermutlich - wie üblich - an dem Begriff "Inquisition" stören, weil der Begriff rechtsgeschichtlich für die Einheit von Richter und Staatsanwalt und Folter steht. Fakt ist aber, dass durch die preußischen Justizreformen von 1879, die im Wesentlichen noch heute gelten, der Strafprozess nicht völlig neu erfunden wurde. Zudem ist die Rotation von Richtern und Staatsanwälten in Bayern dafür da, um die Trennung von Richter und Staatsanwalt zu verwischen. Und dass die Folter verboten ist, das heißt nicht, dass sie niemals stattfindet. Im Übrigen wird der historische Inqusitionsprozess heute oft verfälscht dargestellt. Auch damals gab es faire Verfahren und ohne Folter, die mit Freisprüchen endeten. Damals wie heute war das Verfahren von der Person des Richters und von seiner Bindung an Recht und Gesetz abhängig.

Was die Einholung des psychiatrischen Gutachtens durch das LG Regensburg angeht, kann ich keinen überschießenden Aufklärungseifer der Kammer erkennen. Man kann doch nicht sagen, dass die Erforschung des geistigen Zustands des Angeklagten von vorn herein unerheblich für die Entscheidung war und völlig ins Blaue hinein. Auch ist es möglich, dass die Kammer aufgrund der Beweisaufnahme von der Täterschaft des Angeklagten bereits überzeugt war, bevor der Sachverständige zu seinem mündlichen Gutachten vernommen wurde. Möglich ist also, dass die Kammer von dem Tatinterlokut Gebrauch gemacht hat. Möglich ist aber auch, dass die Kammer ihre Überzeugung erst in den Schussberatungen gebildet hat. Wie Professor Müller geschrieben hatte, ist nach der Strafprozessordnung grundsätzlich beides möglich. Ich denke, dass die Strafprozessordnung aber durch die grundgesetzliche Unschuldsvermutung insoweit eingeschränkt sein könnte und die Unschuldsvermutung den Gebrauch von dem Tatinterlokut gebietet. Um das aber überprüfen zu können, müsste eine entsprechende Dokumentation verlangt werden, entweder im Protokoll oder Urteil. Das ist aber Neuland.

Was die Einholung des Erstgutachtens (Leipziger) und die Zusammenarbeit von Gutachter, Richter und Staatsanwaltschaft damals angeht, so dürfte damals eine überschießende Aufklärung vorgelegen haben, weil der Verfahrensgegenstand auf die angeklagte KV (möglicherweise auch auf den Briefdiebstahl (?))und der Auftrag an den Sachverständigen entsprechend auf die KV und den Briefdiebstahl (Strafbefehl) beschränkt waren. Die Einbeziehung neuen Prozessstoffs bedarf der Nachtragsanklage. Die Sachbeschädigungen waren aber nicht angeklagt. Aber, was hat das mit dem Verfahren vor dem LG Regensburg zu tun?

WR Kolos schrieb:

Im deutschen Strafverfahren gilt der Inquisitionsgrundsatz des 244 II StPO. Der deutsche Strafrichter ist der Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet. Von Amts wegen entscheidet er nach pflichtgemäßen Ermessen, welche Beweismittel erhoben werden und für die Entscheidung von Bedeutung sind. Ergänzend entscheidet er darüber auf Antrag. 

Bedeutet, mal etwas volkstümlich nachgefragt, "pflichtgemäßes Ermessen" dann eigentlich: So, wie der zufällig zuständige Richter das eben meint?

Oder ist das durch nachvollziehbare rechtliche Vorschriften in Bahnen gelenkt?

Ums mal etwas zu abstrahieren, Wissenschaftlichkeit zeichnet sich ja per se durch Reproduzierbarkeit aus.

Wie und wodurch ist geregelt, dass ein und der selbe Täter bei ein und derselben Tat durch Mitwirkung völlig unterschiedlicher Richter/Staatsanwälte/Verteidiger gleich be- und verurteilt wird?

WR Kolos schrieb:

Es wurde Kritik an der Bestellung des psychiatrischen Sachverständigen geübt, an seiner Anwesenheit in der HV und an seiner Vernehmung. Die Einwände lassen sich m.E. als überschießende Aufklärung zusammenfassen. 

.........Man kann doch nicht sagen, dass die Erforschung des geistigen Zustands des Angeklagten von vorn herein unerheblich für die Entscheidung war und völlig ins Blaue hinein. ...........

Also, allgemein bekannt war, sicher auch der Kammer in Regensburg, dass GMs "Schwarzgeldwahn" keineswegs wahnhafter Natur war, sondern sich seine diesbezüglichen Aussagen im Wesentlichen durch den HVB-Bericht verifzieren haben lassen.

Auch waren die letzten Unterbringungsbeschlüsse (bzw. die Fortschreibung der bisherigen) zu diesem Zeitpunkt bereits durch das Bundesverfassungsgericht kassiert worden.

Also, WORAUF begründete sich, SACHLICH und JURISTISCH e i n w a n d f r e i zum Zeitpunkt der WAV der Verdacht, GM sei möglicherweise 13 Jahre vorher an einem ganz bestimmten Tag möglicherweise seelisch nicht ganz zurechnungsfähig gewesen? (Da er ja weder vorher noch nachher juristisch und medizinisch einschlägig auffällig gewesen war (zumindest nicht belegbar, außer durch Hörensagen und nicht belegte/belegbare Behauptungen)

Denn mindestens einmal der Verdacht darauf sollte doch n a c h v o l l z i e h b a r begründbar vorhanden gewesen sein, um die Anwesenheit eines Gutachters zu rechtfertigen (sieht man mal von der oben geschilderten katastrophalen Unwissenschaftlichkeit eines solch retrospektiven "Gutachtens" noch völlig ab.)

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Kennt eigentlich jemand den Wortlaut des Beschlusses, in dem festgelegt wurde, zu welchen Fragen Herr Professor Nedopil eine Stellungnahme/Gutachten abgeben soll?

Es muss doch irgendeine (odper mehrere) Entscheidung(en) geben, in der drin steht, dass der Sachverständige da sein soll und zu was er befragt wird. Auch zu den anderen Sachverständigen, die da waren ...

Die Diskussion ist doch eine sehr theoretische, so lange unklar ist, was angeordnet wurde ... Wie ist der Wortlaut?

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Gast schrieb:

 

Kennt eigentlich jemand den Wortlaut des Beschlusses, in dem festgelegt wurde, zu welchen Fragen Herr Professor Nedopil eine Stellungnahme/Gutachten abgeben soll?

Es muss doch irgendeine (odper mehrere) Entscheidung(en) geben, in der drin steht, dass der Sachverständige da sein soll und zu was er befragt wird. Auch zu den anderen Sachverständigen, die da waren ...

Die Diskussion ist doch eine sehr theoretische, so lange unklar ist, was angeordnet wurde ... Wie ist der Wortlaut?

SEHR wichtiger Punkt!

Vielleicht existiert der Beschluss ja aber auch gar nicht? Also schriftlich, meine ich, vielleicht ist das ja gelebtes pflichtgemäßes Ermessen?

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Es handelt sich um den 246a StPO, nicht um den 247a !!

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Retrospektiv betrachtet war die Entscheidung zur Einholung des psychiatrischen Gutachtens auf 244 II StPO gestützt und nicht auf 246a StPO. Denn die Unterbringung wurde schließlich nicht angeordnet. 246a StPO ist aber nur dann relevant, wenn es dazu kommt. 

Die Entscheidung über die Schuldfähigkeit steht natürlich nur dann an, wenn der Richter von der Täterschaft überzeugt ist (um die Frage zu beantworten, wann sie "feststeht" bzw. "geklärt" ist). Davon zu trennen ist aber die Entscheidung des Gerichts über die Beweisaufnahme, die bezüglich der Bedeutung von den zu erhebenden Beweisen für die Sachentscheidung stets eine Prognoseentscheidung ist. 

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