BAG zu einem Klassiker: Anfechtung des Arbeitsvertrages

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 14.10.2014

Die Parteien streiten über den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses, nachdem der Arbeitgeber (das Land Nordrhein-Westfalen) das Arbeitsverhältnis gekündigt und die Anfechtung der auf den Vertragsabschluss gerichteten Willenserklärung erklärt hat.

Der Kläger, Jahrgang 1982, hatte sich Mitte Januar 2010 um eine Stelle im allgemeinen Vollzugsdienst beworben. Zu den angeforderten Bewerbungsunterlagen gehörte die formularmäßige „Erklärung über Straftaten". Der Kläger gab an, er sei nicht vorbestraft; gegen ihn sei auch kein gerichtliches Strafverfahren und kein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft anhängig oder innerhalb der letzten drei Jahre anhängig gewesen. Unmittelbar vor Unterzeichnung des Arbeitsvertrages am 1.6.2010 wurde dem Kläger eine „Erklärung über Vorstrafen und anhängige Strafverfahren bei Einstellungen durch eine Justizvollzugsbehörde" vorgelegt. Er versicherte mit seiner Unterschrift, dass er „nicht gerichtlich bestraft" und gegen ihn „ein gerichtliches Strafverfahren oder ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft nicht anhängig" sei.

Im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung nach § 9 SÜG NRW erfuhr das beklagte Land, dass der Kläger im Juli 2003 zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten wegen Körperverletzung und Betrugs verurteilt worden war. Die Vollstreckung der Strafe war zur Bewährung ausgesetzt worden. Zudem wurde bekannt, dass gegen ihn in den Jahren 2007 bis 2009 - teils aufgrund einer Selbstanzeige - acht Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Körperverletzung, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Betrug, Beleidigung und gefährliche Körperverletzung geführt worden waren. Sechs Verfahren waren gemäß § 170 Abs. 2 StPO (kein hinreichender Tatverdacht) eingestellt worden. In zwei Verfahren war eine Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO (mangelndes öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung) erfolgt; die Geschädigten waren auf den Privatklageweg verwiesen worden. Die letzte Einstellungsverfügung datiert vom 24.8.2009.

Daraufhin hat das beklagte Land das Arbeitsverhältnis zunächst fristgerecht gekündigt und einen Monat später auch die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) erklärt.

Das BAG hat sowohl die Anfechtung als auch die (wenige Tage nach Ablauf der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG erklärte) ordentliche Kündigung für unwirksam erklärt.

Verurteilungen, die im Bundeszentralregister getilgt sind, braucht ein Stellenbewerber auf die pauschale Frage nach dem Vorliegen von Vorstrafen auch dann nicht anzugeben, wenn er sich um eine Stelle im Justizvollzugsdienst bewirbt.

Der Arbeitgeber dürfe bei der Anbahnung des Arbeitsverhältnisses Informationen zu Vorstrafen des Bewerbers (nur) einholen, wenn und soweit die Art des zu besetzenden Arbeitsplatzes dies erfordere, d.h. bei objektiver Betrachtung berechtigt erscheinen lasse. Ein berechtigtes Informationsinteresse des Arbeitgebers bestehe grundsätzlich nicht hinsichtlich solcher Verurteilungen, die im Bundeszentralregister getilgt sind. Derartige Verurteilungen brauche der Bewerber bei unspezifizierter Frage nach Vorstrafen selbst dann nicht zu offenbaren, wenn er eine Tätigkeit im allgemeinen Justizvollzugsdienst anstrebe. Ebenso wenig habe der öffentliche Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran, Bewerber für eine solche Tätigkeit nach bereits eingestellten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu fragen.

BAG, Urt. vom 20.3.2014 - 2 AZR 1071/12, BeckRS 2014, 72525

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