OLG Hamm: Bewährungswiderruf wegen neuer Straftat auch schon ohne Rechtskraft möglich!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 12.06.2014
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Der Bewährungswiderruf nach neuer Straftat ist mittlerweile ein echter Rechtsprechungsklassiker. Wann darf widerrufen werden? Wie weit reicht die Unschuldsvermutung? Es gibt zahlreiche Aufsätze zu dem Thema - ich selbst hatte 2005 auch einen solchen für die  NJW verfasst (Krumm Bewährungswiderruf trotz Unschuldsvermutung? NJW 2005 1832). Das OLG Hamm hatte sich jetzt damit zu befassen und hat klargestellt: Auch vor rechtskraft einer neuen Verurteilung kann wegen der neuen Tat eine laufende Bewährung widerrufen werden:

Der Widerruf der Strafaussetzung ist in der Sache nicht zu beanstanden, da der Beschwerdeführer in der Bewährungszeit eine Straftat begangen und dadurch gezeigt hat, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB).

a) Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts war rechtsfehlerfrei, da zum Zeitpunkt der Entscheidung die erneute Verurteilung des Beschwerdeführers rechtskräftig war; denn er hatte gegen das Urteil des Landgerichts innerhalb der Rechtsmittelfrist keine Revision eingelegt und eine Wiedereinsetzung in die versäumte Frist war nicht gewährt. Unabhängig davon, dass der Senat dem Wiedereinsetzungsantrag inzwischen mit weiterer Entscheidung vom heutigen Tag stattgegeben hat und die ursprünglich eingetretene Rechtskraft mithin durchbrochen ist, kann der Senat seiner Entscheidung über die sofortige Beschwerde die durch die Urteile des Amtsgerichts Bielefeld vom 19. Juni 2013 und vom Landgericht Bielefeld vom 27. November 2013 festgestellte Straftat ebenfalls zugrunde legen.

aa) Zwar wird es häufig als sinnvoll erachtet, eine Strafaussetzung aufgrund einer neuen Tat erst nach deren rechtskräftiger Aburteilung zu widerrufen, weil es ansonsten zu dem unbilligen Ergebnis kommen kann, dass das über den Widerruf entscheidende Gericht von einer neuen Straftat ausgeht, während in dem entsprechenden Strafverfahren eine solche Tat letztlich nicht rechtskräftig festgestellt wird (vgl. dazu bereits OLG Hamm, Beschluss vom 13. November 1971 - 2 Ws 391/71, NJW 1972, 500; s. auch BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 1986 - 2 BvR 796/86, NStZ 1987, 118). Ein Grundsatz, stets die Rechtskraft abwarten zu müssen, ergibt sich daraus jedoch nicht. Zum einen kann die Rechtskraft – wie gerade die vorliegende Fallkonstellation zeigt – nachträglich entfallen, sei es infolge einer Wiedereinsetzung in eine versäumte Rechtsmittelfrist, sei es wegen eines erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens. Somit verhindert der Eintritt der Rechtskraft nicht ausnahmslos, dass die für den Widerruf herangezogene Straftat letztlich doch nicht rechtskräftig erwiesen wird. Zum anderen spricht eine Auslegung des § 56f Abs. 1 StGB dagegen, den Eintritt der Rechtskraft als zwingende Widerrufsvoraussetzung anzusehen.

Der Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB verlangt für den Widerruf nicht, dass der Betroffene wegen einer in der Bewährungszeit begangenen Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist. Die Gesetzgebungsgeschichte deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber davon auch nicht ausgegangen ist; denn bis zum Ersten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 645, 648) – dort § 25 Abs. 1 Nr. 1 StGB; in Kraft seit dem 1. April 1970 – sah § 25 Abs. 2 Nr. 2 StGB (in der Fassung des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4. August 1953) vor, dass ein Widerruf erfolge, wenn „der Verurteilte wegen eines innerhalb der Bewährungszeit begangenen Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens im Inland zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird“. Dass von dem Erfordernis einer Verurteilung abgesehen wurde, spricht dafür, dass der Gesetzgeber eine solche nicht für maßgeblich hielt (vgl. zur Gesetzesbegründung den Ersten Schriftlichen Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Drucks. V/4094 S. 13; s. auch Hans. OLG, Beschluss vom 15. Oktober 1991 - 2 Ws 296/91, NStZ 1992, 130; Neubacher, GA 2004, 402, 405 f.). Dementsprechend hat auch die Rechtsprechung zunächst weder eine Verurteilung noch deren Rechtskraft für erforderlich gehalten (vgl. beispielsweise BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 1986 - 2 BvR 796/86, NStZ 1987, 118 mwN).

Überdies spricht eine systematische Auslegung des § 56f Abs. 1 StGB dagegen, den Widerruf von dem rechtskräftigen Nachweise einer neuen Tat abhängig zu machen. So ist es Sache des über den Widerruf entscheidenden Gerichts, die weiteren möglichen Widerrufsgründe nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 StGB – einen gröblichen oder beharrlichen Weisungs- oder Auflagenverstoß oder das beharrliche Entziehen der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers – selbst festzustellen  (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 6. Mai 1991 - 1 Ws 63/91, juris Rn. 5).

Schließlich könnte es den Strafzwecken zuwiderlaufen, vor dem Widerruf den gegebenenfalls länger dauernden Zeitraum bis zum rechtskräftigen Abschluss des neuen Verfahrens abzuwarten (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Juni 1991 - 3 Ws 323-325/91, NStZ 1992, 131, 132).

bb) Bei der Anwendung des § 56f StGB ist indes die in Art. 6 Abs. 2 EMRK normierte Unschuldsvermutung zu beachten und die dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Hieraus ist zwar zu entnehmen, dass regelmäßig nicht das die Strafvollstreckung überwachende Gericht (im Rahmen der Widerrufsentscheidung) eine neue Straftat feststellen darf. Allerdings folgt daraus nicht, dass die Widerrufsentscheidung die Rechtskraft der eine neue Tat feststellenden Entscheidung voraussetzt (vgl. Schönke/Schröder-Stree/Kinzig, StGB, 28. Aufl., § 56f Rn. 3a mwN; Peglau, NStZ 2004, 248, 251; Seher, ZStW 118 [2006], 101, 152; aA Neubacher, GA 2004, 402, 405 ff.).

So ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von einer Verletzung der Unschuldsvermutung in einem Fall ausgegangen, in dem das die Strafvollstreckung überwachende Gericht die Aufgabe des zuständigen erkennenden Gerichts wahrgenommen und sich – an dessen Stelle – im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens von einer neuen Tat überzeugt hatte (vgl. EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2002 - 37568/97 – Böhmer/Deutschland –, NJW 2004, 43 ff. [in teils unzutreffender Übersetzung]). Hierbei hat sich der Gerichtshof nicht dazu verhalten, ob im Falle einer Verurteilung durch das zuständige Tatgericht diese zunächst rechtskräftig sein muss, bevor sie zur Begründung eines Widerrufs herangezogen werden kann.

Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EMRK nennt den Begriff der Rechtskraft ebenfalls nicht, sondern normiert, dass „jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, […] bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig“ gelte. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hat ausdrücklich die Auffassung vertreten (vgl. die später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgegriffene Entscheidung vom 9. Oktober 1991 - 17664/91 – C./Deutschland –), dass die Unschuldsvermutung nicht ein rechtskräftiges Urteil verlange, damit die aufgrund einer vollständigen Hauptverhandlung getroffenen Feststellungen für den Widerruf einer Bewährungsstrafe herangezogen werden könnten. Im dort zugrunde liegenden Fall bestand zwar die Besonderheit, dass das Tatgericht und das Vollstreckungsgericht personenidentisch waren. Dies kann aber für die maßgebliche Frage nach der Reichweite der Unschuldsvermutung nicht entscheidend sein: Gölte nämlich nach Auffassung der Kommission die Unschuldsvermutung bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss, so verstieße jede zuvor ergangene Widerrufsentscheidung dagegen. Gerade dies hat die Kommission aber nicht angenommen.

cc) Dass die Widerrufsentscheidung auf eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung abstellt, verstößt im Übrigen nicht gegen den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden verfassungsrechtlichen Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 20 Abs. 3 GG). So gebietet das Verfassungsrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. August 2008 - 2 BvR 1448/08, juris Rn. 15; s. im Anschluss daran VerfGH Berlin, Beschluss vom 25. April 2013 - 180/12, juris Rn. 13) nicht, dass eine Verurteilung wegen einer neuen Straftat durch das erkennende Gericht unter Beachtung der Förmlichkeiten einer Hauptverhandlung rechtskräftig ist, wenn das erkennende Gericht eine umfangreiche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung vorgenommen hat, seine darauf gestützte Entscheidung sachfremde Erwägungen und damit objektive Willkür nicht erkennen lässt und Anhaltspunkte hierfür auch nicht aufgezeigt werden.

dd) Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass der Widerruf der Strafaussetzung wegen einer neuen Straftat nicht stets eine rechtskräftige Verurteilung voraussetze (vgl. OLG Hamm, Beschlüsse vom 30. April 2012 - III-3 Ws 101/12, juris Rn. 9 ff. mwN; s. auch OLG Zweibrücken, Beschluss vom 15. September 2004 - 1 Ws 343/04, NStZ-RR 2005, 8 f.; Hans. OLG, Beschluss vom 29. September 2003 - 1 VAs 7/03, NJW 2003, 3574, 3575). Soweit oberlandesgerichtliche Entscheidungen andere Rechtsansichten vertreten (vgl. etwa OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13. Januar 2012 - 2 Ws 523/11, NStZ 2012, 702  mwN; OLG Oldenburg, Beschluss vom 14. Oktober 2009 - 1 Ws 548/09, juris Rn. 7), kann der Senat davon abweichen, da bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG nicht in Betracht kommt.

b) Nach den dargelegten Maßstäben reicht hier die Verurteilung durch das Amtsgericht Bielefeld, die das Landgericht Bielefeld durch Verwerfung der Berufung bestätigt hat, als Grundlage für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus.

Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer am frühen Morgen des 30. Dezember 2012 erheblich alkoholisiert in einer Gaststätte einen anderen Gast von hinten vom Hocker gerissen habe. Der Geschädigte habe sich eine blutende Gesichtsverletzung zugezogen. Anschließend habe der Beschwerdeführer mit einem Faustschlag eine Lampe zerstört und von anderen Personen davon abgehalten werden müssen, den Geschädigten weiter zu verletzen. Das Amtsgericht hat in der Beweiswürdigung überzeugend dargelegt, dass es die Feststellungen aufgrund der Aussage des Wirtes getroffen hat. Für die Richtigkeit des dem Beschwerdeführers gemachten Tatvorwurfs spricht zudem, dass das Landgericht die Berufung nach eigener (umfangreicherer) Beweisaufnahme verworfen und im Kern entsprechende Feststellungen zum Tathergang getroffen hat. Der Senat hat aus den Urteilsbegründungen und der weiteren Aktenlage keine Anhaltspunkte dafür, an der Richtigkeit der getroffenen Feststellungen zu zweifeln. Auch der Beschwerdeführer weist lediglich auf den gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in die Revisionseinlegungsfrist und eine angekündigte allgemeine Sachrüge hin, ohne aber Gesichtspunkte aufzuzeigen, aus denen sich die Unrichtigkeit der getroffenen Entscheidungen ergeben könnte. Der Senat hält daher nach eigener Prüfung den festgestellten Sachverhalt für zutreffend und geht von diesem aus. Er sieht mit Blick auf die konkreten Umstände und die ansonsten drohende weitere zeitliche Verzögerung sowie die dadurch beeinträchtigten Belange der Strafvollstreckung keinen Anlass, den rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens abzuwarten.

Die Tat vom 30. Dezember 2012 zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Da den zu vollstreckenden Strafen ebenfalls Körperverletzungsdelikte zugrunde lagen und die neue Tat damit nach Art sowie Schwere vergleichbar ist, ist die ursprünglich getroffene positive Prognose hinfällig. Hierzu trägt auch bei, dass es sich nicht um die erste Straftat des Beschwerdeführers nach der Strafaussetzung handelte. Vielmehr hatte er die gefährliche Körperverletzung, die zu der zweiten zur Bewährung ausgesetzten Strafe führte, in der die erste Strafe betreffenden Bewährungszeit begangen. Auch danach kam es – wenngleich auf anderem Gebiet und von geringerer Intensität – zu einer weiteren Tat, da er am 14. Mai 2012 die Beförderung durch ein Verkehrsmittel erschlich. Demnach kommt es für den Fortfall der günstigen Sozialprognose nicht mehr darauf an, dass der Beschwerdeführer überdies angeklagt (aber bislang nicht verurteilt) worden ist, am 24. Juli 2013 eine Frau gegen eine Zimmerwand gedrückt und mit einer Hand gewürgt sowie in der Nacht vom 31. August 2013 auf den 1. September 2013 zur Tötung eines „Nebenbuhlers“ einen brennenden Gegenstand in dessen Wohnhaus geworfen und durch den anschließenden Brand ein Zimmer unbewohnbar gemacht zu haben.

Oberlandesgericht Hamm, Beschl. v. 1.4.2014 - 3 Ws 67 und 68/14

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1 Kommentar

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In einer Klausur ware das "gerade noch so vertretbar".

Allein der Verweis auf die angebliche Normbegründung (V/4094) geht fehl. In den ursprünglichen Entwürfen heißt es noch "Das Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn ...der Verurteilte im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes wegen eines in der Bewährungszeit begangenen Verbrechensoder vorsätzlichen Vergehens zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird" (V/32) bzw. "Das erkennende Gericht widerruft die Strafaussetzung, wenn der Verurteilte wegen einer in der Bewährungszeit begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt worden ist" (V/2285). Es geht aus dem Kommissionsentwurf nicht hervor, dass bei der Umformulierung/Zusammenführung der beiden Entwürfe der Passus der Verurteilung absichtlich gestrichen wurde. Vielmehr stellt auch der Kommissionsentwurf auf die Begehung einer vorsätzlichen Straftat ab, deren Feststellung nach meinem Verständnis eines Schuldspruches bedarf.

 

Spätestens beim EGMR würde das OLG wohl auf ganzer Linie durchfallen.

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