Loveparade 2010 - Anklageerhebung nach fast vier Jahren

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 11.02.2014

Soeben wurde mitgeteilt (Quelle-Der Westen), dass die Staatsanwaltschaft Duisburg Anklage erhoben hat. Nicht nur die lange Dauer dieses Ermittlungsverfahrens - trotz des außergewöhnlichen Umfangs erscheinen mehr als dreieinhalb Jahre sehr lang, sondern auch die Frage, wer von den zunächst 16 Beschuldigten nun angeklagt wird, hat in jüngster Zeit die Öffentlichkeit stark beschäftigt (Artikel aus der SZ).

UPDATE 12.02.2014:

Soweit die heutige Pressekonferenz in n-tv übertragen wurde, gibt es wenig Neues. Natürlich wurde dort ja auch nicht die Anklageschrift (556 Seiten) vorgelesen. Hier ein

Ticker-Protokoll der Pressekonferenz bei "Der Westen". Hier der Link zu der gleichzeitig verbreiteteten Pressemitteilung der StA Duisburg.

Einige kurze Überlegungen im Sinne einer ersten Einschätzung dazu:

1. Es wird von der StA maßgeblich darauf abgestellt, dass Planung und Genehmigung der Loveparade die wesentlichen Fehler enthielten, die quasi "notwendig" und entscheidend zu der Katastrophe führten. Dies entspricht einer Überlegung, die in diesem Blog schon kurz nach der Katastrophe angestellt wurde und dem Gutachten von Keith Still (unten verlinkt): Die erwartete Menschenmenge konnte nicht in beiden Richtungen durch Tunnel und über die Rampe geführt werden, ohne dass es im Nadelöhr zu einem gefährlichen Gedränge kommen musste. Diese in der Planung und Genehmigungsphase vorhersehbare (tödliche) Gefahr hat sich in den Todesfällen und Verletzungen realisiert. Insofern können nach Ansicht der StA die Sorgfaltspflichtverletzungen kausal mit den tatbestandlichen Erfolgen verknüpft werden und letztere sind auch objektiv zurechenbar. Die StA geht davon aus, dass die vor diesem Hintergrund beschuldigten Personen die Gefahren nicht nur erkennen mussten, sondern sie auch hätten verhindern können (durch andere Planung bzw. Nichtgenehmigung des geplanten Ablaufs).

Diejenigen Vorgesetzten, die keinen konkreten Einblick in die Planungsunterlagen hatten, oder denen das nicht nachweisbar ist, wurden deshalb nicht angeklagt. Auch daran ist (zumindest bei einigen der Beteiligten) Kritik möglich. Vielleicht gibt es ja auch ein Klageerzwingungsverfahren aus den Reihen der Nebenkläger/Verletzten. Allerdings sind solche Verfahren (schon rein statistisch betrachtet) nicht sehr erfolgsträchtig.

2. Man kann ein bisschen spekulieren, was die Verteidigungslinie der nun angeklagten Mitarbeiter der Stadt Duisburg und Lopavent sein wird. Ich schätze aus den frühzeitigen Erklärungen und späteren (spärlichen) Äußerungen der jetzt beschuldigten Ebenen, man wird sich auf Folgendes berufen: Jeweils der "anderen" Seite wird man die Hauptverantwortung zuzuweisen versuchen, d.h. die planenden Mitarbeiter von Lopavent  werden den genehmigenden der Stadt Duisburg vorhalten, sie hätten sich auf letztere "verlassen" können und dürfen. Die Mitarbeiter der Stadt werden sich darauf berufen, dass die Pläne entscheidende Gefahren außen vor gelassen hätten bzw. dass man sich darauf hätte verlassen dürfen, dass Lopavent wesentliche Gefahren durch zugesagte (aber dann nicht eingehaltene) Sicherungsmaßnahmen hätten begrenzen sollen: Lautsprecher, Rampe ohne Zäune, viel mehr Ordner, effektives Crowd-Management. Zusätzlich werden beide jetzt angeklagten Ebenen sich dadurch zu entlasten suchen, dass sie der dritten Ebene, der Polizei, eine entscheidende Rolle zuweisen: Die Polizei habe am Veranstaltungstag zu einer Zeit, zu der man die schlimmste Gefahr noch hätte abwenden können, falsch reagiert (an den falsche Stellen Sperren errichtet bzw. die Vereinzelungsanlagen zur Unzeit geöffnet). Zudem habe die Polizei auch im Genehmigungsverfahren nicht eingegriffen, sondern sogar ihr Einvernehmen erklärt, ohne das die Veranstaltung nicht hätte stattfinden dürfen.

3. Folgt man dem Gutachten von Still (wie die StA), dann können diese Entlastungsstrategien nicht erfolgreich sein.

Allerdings ist die Stärke dieses Gutachtens zugleich seine Schwäche: Es ist - mit der Aussage, dass die Veranstaltungsplanung im Grunde schon die Katstrophe "beinhaltete" - stark, weil es auf die Details (wo und  wann genau kommt es zu der tödlichen Massenturbulenz?) dann nicht mehr ankommt. Aber wenn entscheidend für die "Tödlichkeit" der Massenturbulenz gewesen sein solte, dass sie an genau dieser Stelle auf der Rampe auftrat, dann können die Details des Ablaufs doch nicht mehr ganz außer Betracht bleiben. Und die Erklärung dafür ist im Gutachten m.E.  zu knapp geraten (siehe schon hier).

Die StA beruft sich in Ihrer Pressemitteilung allein auf das Gutachten Still, wenn sie begründet, warum die polizeilichen Maßnahmen nicht strafrechtlich relevant seien, Zitat:

"Andere Ereignisse am Veranstaltungstag sind strafrechtlich nicht relevant geworden. Insbesondere die polizeilichen Maßnahmen waren nach den Feststellungen eines international anerkannten Sachverständigen weder für sich genommen noch insgesamt ursächlich für den tragischen Ausgang der Loveparade."

Still hatte allerdings die entsprechende Frage der StA anders beantwortet. Auf die Frage, ob das Gedränge auch (teilweise) auf Polizeisperren zurückgeführt werden könne, antwortete Still, dass diese Sperren (in den Tunneln) auch eine Folge des Eingangssystems gewesen seien und insofern auch von der (fehlerhaften) Planung verursacht wurden. Er wolle aber nicht darüber spekulieren, warum die Polizeisperren an diesen Positionen errichtet worden seien. Da es hauptsächlich um die Polizeisperre AUF der Rampe geht, die nach meiner Meinung durchaus zur Massenturbulenz an der konkreten Stelle beigetragen hat, ist m.E. die Schlussfolgerung der Staatsanwaltschaft in der Pressemitteilung nicht ganz schlüssig. Möglicherweise ist aber die Anklageschrift hier überzeugender. 

Man muss also abwarten, wie diese konkreten Umstände in der Anklageschrift bewertet werden, und (natürlich entscheidend) wie das Gericht sie wertet.

Zusammen mit vielen Kommentatoren hier und anderswo haben viele Menschen im Internet bereits im September 2010 unabhängig von polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermitlungen die wesentlichen Ursachen benennen können. Damals fasste ich dies in einem Beitrag für den Beck-Blog zusammen:

Zwei Monaten nach den tragischen Ereignissen - im Internet weitgehend aufgeklärt

Zitate aus der damaligen Zusammenfassung:

Schon bei der Planung der LoPa hat man nicht beachtet, dass der ohnehin problematische gemeinsame Ein- und Ausgang zwischen den Tunneleingängen und der oberen Rampe zwar knapp die erwarteten Besucherströme in einer Richtung verkraften konnte, aber nicht die (vorab angenommenen) Besuchermengen in beiden Richtungen. Durch Ein- und Ausgang hätten über mehrere Stunden hinweg laut Planung in der Summe hundertausend und mehr Personen pro Stunde geschleust werden sollen. Trotz des erkennbaren Widerspruchs (60.000 Personen/Stunde  maximaler Durchgangsstrom in einer Richtung unter optimalen Bedingungen, 100.000 Personen/Stunde in gegenläufigen (...)

(...)
Die Auflagen der Genehmigung, die u.a. beinhalteten, die Zuwege und Fluchtwege von Hindernissen frei zu halten, wurden in eklatanter und gefährlicher Weise missachtet. Die Zu- und Abgangsrampe wies am Veranstaltungstag noch etliche Hindernisse auf (...)

Als es dennoch zu Stauungen (wie nach der Entfluchtungsanalyse vorhersehbar und unvermeidlich zunächst  am oberen Rampenende) kam, fehlte das Konzept für diesen Fall. (...)


Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.

Mai 2013 (130 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)

Juli 2012 (68 Kommentare, ca. 6500 Abrufe)

Dezember 2011 (169 Kommentare, ca. 7700 Abrufe)

Juli 2011 (249 Kommentare, ca. 13000 Abrufe)

Mai 2011 (1100 Kommentare, ca. 12000 Abrufe)

Dezember 2010 (537 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)

September 2010 (788 Kommentare, ca. 19000 Abrufe)

Juli 2010 (465 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Loveparade Selbsthilfe

Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

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155 Kommentare

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ImDellviertel schrieb:

http://www.sueddeutsche.de/panorama/katastrophe-in-duisburg-zweifel-an-z...

 

Tja, in der Tat unglaublich, diese ganze Loveparade Geschichte, das ist ja ein Eile mit Weile.

 

Ich selbst fand das Gutachten von Still gut gemacht, aber in der Tat, zu den Polizeiketten hätte mehr kommen können. Trotzdem sehe auch ich diese als Folgefehler einer unbeherrschbaren Situation, die durch die Planung verursacht worden ist. Zur Katastrophe wäre es auch ohne Polizeiketten gekommen.

 

Trotzdem, ein ungutes Gefühl bleibt und allmählich frage ich mich, ob man nicht einfach auf den Prozess verzichtet und Stadt, Land und Veranstalter statt Unsummen in Untersuchungen und Prozesse auszugeben, alle Ressourcen in die Entschädigung der Opfer zu investieren.

 

Naja, das ist wohl Utopie und ohnehin (zu?) spät.

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