Komische Entscheidung: OLG Stuttgart zu qualifiziertem Rotlichtverstoß

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 18.01.2014

Hmmm - was man von der nachfolgenden Entscheidung des OLG Stuttgart halten soll, ist mir nicht ganz klar. Da begeht eine ortskiundige Betroffene einen qualifizierten Rotlichtverstoß (scheinbar nicht einmal nachts), den das AG aus Sicht des OLG richtigerweise sogar als vorsätzlich eingestuft hat. Trotzdem hält das OLG wegen fehlender abstrakter Gefährdung den Regeltatbestand nicht erfüllt, sondern greift zu der Ahndung eines normalen Rotlichtverstoßes. M.E. unverständlich, zumal das OLG abstrakte und konkrete Gefährdung zu vermischen scheint.

Hier die Entscheidung:

Das Amtsgericht Reutlingen hat gegen die Betroffene wegen einer vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit der Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage, wobei die Rotphase bereits länger als eine Sekunde andauerte, gem. § 37 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 7, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO, § 24 StVG eine Geldbuße von 200,00 € festge­setzt und nach § 25 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2a Satz 1 StVG ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.

Mit ihrer gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt die Betroffene das Verfahren und die Verletzung sachlichen Rechts.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde gemäß § 349 Abs. 2 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 OWiG als unbegründet zu verwerfen.

Das Rechtsmittel der Betroffenen hat lediglich hinsichtlich des Rechtsfolgenaus­spruchs teilweise Erfolg. Darüber hinaus hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Begründung der Rechtsbeschwerde keine Rechtsfehler zum Nachteil der Be­troffenen erkennen lassen.


IL

Die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht. Auch die Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden.

1. Soweit die Betroffene mit der Verfahrensrüge die Verletzung der gerichtlichen Hinweispflicht gem. § 265 Abs. 2 StPO i. V. m. § 71 OWiG rügt, ist diese Rüge nicht zulässig erhoben. Gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG müssen, um die Zulässigkeit der Rüge zu begründen, die den Mangel ent­haltenen Tatschen so genau bezeichnet und vollständig angegeben werden, dass das Beschwerdegericht schon anhand der Beschwerdeschrift ohne Rückgriff auf die Akte prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, falls die behaupteten Tatsa­chen zutreffen. Bezugnahmen auf den Akteninhalt, dass Protokoll oder Schriftstü­cke sind dabei nicht zulässig (Göhler, OWiG, 16. Auflage, § 79 Rn. 27 mwN). Vor­liegend nimmt der Beschwerdeführer zur Begründung der Verfahrensrüge auf den Bußgeldbescheid und die Sitzungsniederschrift Bezug, ohne jeweils Kopien dieser Aktenbestandteile beizufügen. Eine Prüfung der Rüge allein anhand der Beschwer­debegründung ist deshalb nicht möglich, weshalb die Verfahrensrüge insgesamt unzulässig ist. Sie ist jedoch darüber hinaus auch unbegründet. Der Beschwerde­führer führt zwar zutreffend aus, dass in der Regel bei einer fehlenden Angabe der Schuldform im Bußgeldbescheid vom Vorwurf fahrlässigen Handels auszugehen ist, weshalb es bei einer Verurteilung im gerichtlichen Verfahren wegen vorsätzli­chen Handelns regelmäßig eines Hinweises der Veränderung des rechtlichen Ge­sichtspunktes bedarf (Göhler, aaO, § 66 Rn. 14). Der Senat geht im Einvernehmen mit der Generalstaatsanwaltschaft davon aus, dass der unterlassene gerichtliche Hinweis vorliegend die Rüge ausnahmsweise nicht begründet, da es sich mit Si­cherheit ausschließen lässt, dass sich die Betroffene bei einem erteilten Hinweis anders als geschehen hätte verteidigen können (Meyer-Goßner, StPO, 56. Auflage, § 265 Rn. 48 mwN). Nach den Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils ent­schloss sich die Betroffene nach eigenen Angaben zum Spurwechsel, nachdem sie an der Haltelinie der Rotlicht anzeigenden Lichtzeichenanlage zunächst gewartet hatte. Die Rechtsbeschwerdebegründung in diesem Punkt enthält deshalb auch keine Ausführungen zu einem hypothetischen Verteidigungsverhalten der Betroffe­nen im Falle eines Hinweises, sondern bezweifelt vielmehr die Tatbestandsmäßig­keit eines Rotlichtverstoßes durch den festgestellten Spurwechsel.

2. Auch die erhobene Aufklärungsrüge des Beschwerdeführers ist unbegründet. Das Amtsgericht hat nach den Urteilsfeststellungen sowohl die amtlichen Lichtbilder der beiden Kreuzungskameras als auch die vom Sachverständigen als Anlage zu seinem Gutachten vorgelegten 17 Lichtbilder, u. a. vom Kreuzungsbereich, in Au­genschein genommen. Daneben hat der Sachverständige in der Hauptverhandlung ein mündliches Gutachten erstattet, das die örtlichen Verhältnisse der fraglichen Kreuzung zum Gegenstand hatte. Der Beschwerdeführer hat nicht dargelegt, wel­che weiteren Erkenntnisse durch eine Inaugenscheinnahme der Kreuzung oder eine über das mündliche Gutachten hinausgehende Befragung des Sachverständi­gen hätten gewonnen werden sollen. Die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Frage des Einfahrens der Betroffenen in den geschützten Kreuzungsbereich und zur Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer beziehen sich vielmehr auf die vom Gericht vorgenommene rechtliche Bewertung des festgestellten Sachverhalts, auf die im Rahmen der Sachrüge einzugehen sein wird und nicht auf einen unzurei­chend aufgeklärten Sachverhalt.

3. Zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass die Betroffene das für ihre Fahrspur geltende rote Wechsellichtzeichen bei einer schon länger als 1 Se­kunde andauernden Rotphase (39,02 Sekunden) vorsätzlich missachtet hat.

Nach den vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen ordnete sich die ortskundige Betroffene in Reutlingen von Richtung Tübingen kommend mit ihrem PKW auf der rechten von zwei Linksabbiegerspuren der Konrad-Adenauer-Straße in Richtung Eberhardstraße bei der Annäherung an die durch eine Lichtzeichenanlage geregel­te Kreuzung ein, wobei diese für sie Rotlicht zeigte, während sie für eine rechts da­neben befindliche Spur, die geradeaus in Richtung Pfullingen führt, Grünlicht zeig­te. Obgleich sie dies erkannt hatte, überfuhr die Betroffene zunächst die Haltelinie ihrer Linksabbiegerspur sowie die unmittelbar dahinter liegende ampelgesicherte Fußgänger- und Fahrradfurt und zog dabei auf einer Strecke von ca. 16 m nach der Haltelinie ihr Fahrzeug auf die sich rechts neben ihr verlaufende Geradeausspur, wo sie ihre Fahrt fortsetzte.

Die Feststellungen des Amtsgerichts sind lediglich insoweit widersprüchlich, als dort festgestellt wird (UA S. 3), dass die Betroffene im Einmündungsbereich der Kreu­zung ca. 16 m nach der Haltelinie auf die sich rechts neben ihr befindliche Gerade­ausspur herüberzog, wohingegen aus den Lichtbildern, auf die wegen der Einzel­heiten gem. § 46 Abs. 1 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO ausdrücklich Bezug ge­nommen wurde, ersichtlich wird, dass an diesem Ort der unmittelbare Einmün-

dungsbereich der Konrad-Adenauer-Straße in die Eberhard Straße, d. h. der Bereich der sich jeweils kreuzenden Fluchtlinien beider Straßen, noch nicht erreicht war.

Die Betroffene hat dennoch einen vorsätzlichen Rotlichtverstoß gem. §§ 37 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Satz 7, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO i. V. m. § 24 StVG begangen. Dieser war bereits mit der Einfahrt in die hinter der Haltelinie liegende Fußgänger- und Fahr­radfurt vollendet. Diese gehört ebenfalls zu dem durch das von der Betroffenen missachtete Lichtzeichen geschützten Verkehrsbereich. Dies gilt auch dann, wenn die dazu gehörige Lichtzeichenanlage für Fußgänger und Radfahrer wegen der Grünphase der für einen Teil der Fahrspur (hier der Geradeausspur) geltenden Ampel Rotlicht zeigt. Sinn und Zweck des Rotlichts einer Lichtzeichenregelung ist es, dass der gesamte berechtigt im Kreuzungsbereich einmündende Verkehr ge­schützt wird. Hierzu zählt auch der gerade im innerörtlichen Bereich häufig an durch Ampeln geregelten Kreuzungen und Einmündungen verlaufende Fahrrad-und Fußgängerverkehr, der die durch Rotlicht gesperrte Straße überquert. Die Fluchtlinie, die den Beginn des geschützten Bereichs markiert, ist daher nicht auf den Fahrbahnbereich allein für Kraftfahrzeuge bezogen, sondern wird auch durch Fußgängerüberwege und -fürten sowie Fahrradwege, die regelmäßig vor der ein­mündenden Kraftfahrbahn liegen, bestimmt (KG Berlin VRS 119, 48-51; OLG Hamm, 3 Ss OWi 310/03 - zitiert nach juris; OLG Celle, Beschluss vom 01.02.2005 unter Aufgabe seiner entgegenstehenden Rechtsprechung, 22 Ss 261/04 (OWi); König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage, § 37 Rn. 41). Der Rotlichtverstoß der Betroffenen war daher bereits beim Überfahren der Halteli­nie der auf Rot geschalteten Lichtzeichenanlage verbunden mit dem Einfahren in die Fußgängerfurt ungeachtet aller weiterführenden Schutzzweckerwägungen er­füllt. Es kann in Fällen wie im Vorliegenden nicht darauf ankommen, ob ein Ver­kehrsteilnehmer, der die Haltelinie bei Rotlicht überfahren hat, noch im Bereich ei­ner Fußgänger- oder Fahrradfurt oder erst kurz hinter einer solchen auf die freige­gebene Fahrspur wechselt. Die Verkehrssicherheit verlangt gerade in Kreuzungs­und Einmündungsbereichen eindeutige, von allen betroffenen Verkehrsteilnehmern schnell erfassbare und nicht erst nach Maßgabe von Schutzzweckerwägungen in­haltlich zu bestimmende Regeln (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Oktober 1997 - 4 StR 647/96 -, Rn. 26 - zitiert nach juris).


Dagegen hält der Rechtsfolgenausspruch rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Das Amtsgericht hat ausgehend von der Regelbuße für Rotlichtmissachtungen bei länger als einer Sekunde andauernder Rotphase (qualifizierter Rotlichtverstoß) nach Nr. 132.3 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV und dem gem. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BKatV - in der bis zum 31. März 2013 geltenden Fassung - eine Geldbuße von 200,00 € und ein einmonatiges Regelfahrverbot verhängt. Zwar liegt ein solcher Sachverhalt - sogar als vorsätzliche Tat - nach den Feststellungen vor, die dafür vorgesehene Regelahndung ist aber nicht bei jedem Verstoß, der länger als eine Sekunde nach Beginn der Rotphase begangen wird, indiziert (vgl. König in Hent-schel/König/Dauer, aaO Rn. 54 mwN). Vielmehr soll Nr. 132.3 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV eine schärfere Ahnung besonders schwerwiegender Verstöße erlau­ben, da die Missachtung eines Wechsellichtzeichens bei länger als einer Sekunde andauernder Rotlichtphase nach der amtlichen Begründung (VkBI. 1991, 702, 704) als besonders gefährlich anzusehen ist, weil sich der Querverkehr, insbesondere auch Fußgänger, nach dieser Zeit im Bereich der durch Rotlicht gesperrten Fahr­bahn befinden können. Von einem derart gravierenden Rotlichtverstoß seitens der Betroffenen kann jedoch jedenfalls im vorliegenden Fall nicht ausgegangen wer­den, da zu diesem Zeitpunkt andere Verkehrsteilnehmer, die durch das missachte­te Lichtzeichen geschützt werden sollen (Fußgänger und Fahrradfahrer, die die unmittelbar hinter der Haltelinie liegende Fußgänger - und Fahrradfurt überqueren wollen), nicht in den geschützten Bereich eindringen durften, da die Fahrspuren für sie ebenfalls gesperrt war, wovon nach den Feststellungen des Amtsgerichts aus­zugehen ist (UA S. 3). Weiter ist zu berücksichtigen, dass zum Zeitpunkt des Über­querens der Haltelinie bei Rotlicht durch die Betroffene Fußgänger oder Fahrrad­fahrer weder abstrakt noch konkret gefährdet wurden. Dasselbe gilt für Fahrzeuge auf der rechts neben der Fahrspur der Betroffenen verlaufenden Geradeausspur, da auf dieser Spur - wie aus den in Bezug genommenen Lichtbildern ersichtlich -im Ampelbereich kein Fahrzeugverkehr herrschte. Aufgrund der besonderen örtli­chen Verhältnisse im Kreuzungsbereich, insbesondere der Entfernung der Einmün­dung der Geradeausspur der Konrad - Adenauer - Straße in die Eberhardstraße, kann auch eine nur abstrakte Gefährdung des durch das Rotlicht der Lichtzeichen­anlage geschützten Gegenverkehrs auf der Konrad-Adenauer-Straße ausgeschlos­sen werden, nachdem sich die Betroffene nach den Feststellungen des Urteils (UA S. 3) mit ihrem Fahrzeug bereits 16 m nach der Haltelinie auf der sich rechts neben ihr befindlichen Geradeausspur befand. Zwar hat die Betroffene eingeräumt, die Fahrspur willentlich gewechselt zu haben, als sie sich beim Warten an der Ampel dazu entschloss, das von ihr angestrebte Fahrziel auf anderem Weg zu erreichen. Angesichts der Tatsache, dass durch ihre Fahrweise keine auch nur abstrakte Ge­fährdung anderer, durch das Rotlicht der Lichtzeichenanlage geschützter Verkehrs­teilnehmer festgestellt werden konnte und die Betroffene nicht im Verkehrszentral­register eingetragen ist, ist angesichts dieser besonderen Umstände für die An­wendung des erhöhten Sanktionsrahmens kein Raum (vgl. zum Ganzen auch OLG Stuttgart, DAR 2003, 574-575). Danach ist die Regelrechtsfolge der Nr. 132 des Bußgeldkatalogs in der Fassung vom 1. November 2012 zu entnehmen. Die Re­gelgeldbuße beträgt dabei für einen vorsätzlichen Verstoß nach § 3 Abs. 4a Satz 1 BKatV 180,00 €, ein Regelfahrverbot ist nicht vorgesehen.


Auf diesem Fehler beruht das Urteil.


III.

Die fehlerhafte Rechtsfolgenentscheidung führt nicht zur Zurückweisung der Sache an das Amtsgericht.

Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass weitere, für die Höhe der Geld­buße oder die Anordnung eines Fahrverbots bedeutsame Feststellungen, insbe­sondere was die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer betrifft, getroffen werden können. Der Senat macht daher von der Befugnis zur eigenen Sachentscheidung nach § 79 Abs. 6 OWiG Gebrauch.

OLG Stuttgart, Beschl. v. 26.11. 2013 - 4Ss 601/13

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