OLG Schleswig, der Fahrradhelm ... und ein Kommentar des Bloglesers Dr. Bokelmann

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 21.06.2013
Rechtsgebiete: Dr. BokelmannHelmpflichtVerkehrsrecht26|8584 Aufrufe

Blogleser wird die Entscheidung des Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 05.06.2013 - 7 U 11/12 nicht allzu überrascht haben. Die Öffentlichkeit, namentlich die Tagespresse hat die Sache aber ausgeschlachtet: Welche Bedeutung hat das Nichttragen des Fahrradhelms im Falle eines Unfalls? Eigentlich wollte ich dazu gar nichts bringen,  dann bekam ich aber diese Zuschrift des Bloglesers Dr. Frank Bokelmann, die ich den anderen Bloglesern mit Einverständnis des Autors bekanntmachen möchte:

Sehr geehrter Herr Krumm,

Sie haben erstaunlicherweise noch nicht über das Urteil des OLG Schleswig-Holstein vom. 05.06.2013 - 7 U 11/12 berichtet, das seit Tagen den Blätterwald rauschen läßt.

Wenn Sie jetzt berichten, empfehle ich einen Hinweis auf den Kommentar von Prof. Dr. Dieter Müller von heute auf LTO "Helmpflicht durch die Hintertür":

http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/olg-schleswig-holstein-urteil-7-...

Das Urteil wird von Prof. Dr. Müller zutreffend kritisiert, wobei er aus juristischer Sicht noch nicht einmal Rückgriff darauf nimmt, dass die Helmpflicht neben dem direkten (wahrscheinlich positiven) Einfluß auf die Unfallfolgen erhebliche bedenkliche Folgen für die Volksgesundheit hätte.

Es ist aber unwahrscheinlich, daß die 90% Radfahrer, die bisher keinen Helm trugen, jetzt damit anfangen. Sie werden wahrscheinlich aufhören, das Fahrrad zu benutzen. Damit würde einer ohnehin bewegungsarmen Gesellschaft ein weiterer Zugang zur "Bewegung nebenbei" versperrt. Aus diesem Grund verzichtet die Politik bisher trotz mehrerer entsprechender Vorschläge ausdrücklich auf die Einführung einer Helmpflicht und wartet ab, ob die Tragequote sich von alleine erhöht, so daß eine später eingeführte Helmpflicht geringere Nebenwirkungen hätte. Nun schwingen sich ein paar Richter zum Hilfsverordnungsgeber auf.

Deutlich heftiger zu kritisieren ist die beklagte Versicherung, die ausweislich des Urteils eine Mitverschuldensquote von 50% forderte. Das ist schon vor dem Hintergrund eines eindeutigen Verstoßes gegen § 14 StVO durch den ebenfalls verklagten Versicherungsnehmer im Urteilsfall eine Frechheit.

Aber das wundert mich nicht wirklich. Schon vor zwanzig Jahren wurde die Regulierung eines gebrochenen Arms erst nach der Beantwortung der Frage vorgenommen, ob ich denn einen Helm getragen hätte. Was für einen Zusammenhang die Versicherung in diesem Fall wohl gesehen hat?

Ach so - aus der Pressemitteilung des OLG Schleswig:

Kollidiert ein Radfahrer im öffentlichen Straßenverkehr mit einem anderen - sich verkehrswidrig verhaltenden - Verkehrsteilnehmer (Kfz; Radfahrer usw.) und erleidet er infolge des unfallbedingten Sturzes Kopfverletzungen, die ein Fahrradhelm verhindert oder gemindert hätte, muss er sich grundsätzlich ein Mitverschulden wegen Nichttragens eines Fahrradhelms anrechnen lassen. Dies hat der 7. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vergangene Woche entschieden und im konkreten Fall den Mitverschuldensanteil mit 20 % bemessen.

Zum Sachverhalt: Die Klägerin fuhr mit ihrem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit auf einer Straße. Sie trug keinen Fahrradhelm. Am rechten Fahrbahnrand parkte ein PKW. Die Halterin des PKW öffnete unmittelbar vor der sich nähernden Fahrradfahrerin von innen die Fahrertür, so dass die Radfahrerin nicht mehr ausweichen konnte, gegen die Fahrertür fuhr und zu Boden stürzte. Sie fiel auf den Hinterkopf und zog sich schwere Schädel-Hirnverletzungen zu, die einen zweimonatigen Krankenhausaufenthalt erforderten und anschließend eine ambulante Weiterbehandlung. Da die ärztliche Behandlung und die berufliche Wiedereingliederung noch nicht abgeschlossen waren, verlangte die Fahrradfahrerin vor Gericht zunächst die Feststellung, dass die Halterin des PKW und deren KFZ- Haftpflichtversicherung verpflichtet sind, ihr alle aus dem Unfall entstandenen und zukünftig entstehenden Schäden zu ersetzen, insbesondere auch ein Schmerzensgeld zu zahlen. Die Halterin des PKW und ihre Versicherung verteidigten sich damit, dass die Fahrradfahrerin ein Mitverschulden an den Kopfverletzungen treffe, weil sie keinen Helm getragen habe.

Aus den Gründen: Die Fahrradfahrerin trifft ein Mitverschulden an den erlittenen Schädelverletzungen, weil sie keinen Helm getragen und damit Schutzmaßnahmen zu ihrer eigenen Sicherheit unterlassen hat (sogenanntes Verschulden gegen sich selbst). Der Mitverschuldensanteil wird im konkreten Fall mit 20% bemessen. Hierbei berücksichtigt das Gericht zum einen, dass ein Helm nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen die Kopfverletzung der Fahrradfahrerin zwar in einem gewissen Umfang hätte verringern, aber nicht verhindern können, und zum anderen, dass das grob fahrlässige Verhalten der Halterin des PKW den Mitverschuldensanteil der Fahrradfahrerin deutlich überwiegt.

Zwar besteht für Fahrradfahrer nach dem Gesetz keine allgemeine Helmpflicht. "Fahrradfahrer sind heutzutage jedoch im täglichen Straßenverkehr einem besonderen Verletzungsrisiko ausgesetzt. Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden. Aufgrund der Fallhöhe, der fehlenden Möglichkeit, sich abzustützen (die Hände stützen sich auf den Lenker, der keinen Halt bietet) und ihrer höheren Geschwindigkeit, z.B. gegenüber Fußgängern, sind Radfahrer besonders gefährdet, Kopfverletzungen zu erleiden. Gerade dagegen soll der Helm schützen. Dass der Helm diesen Schutz auch bewirkt, entspricht der einmütigen Einschätzung der Sicherheitsexperten und wird auch nicht ernsthaft angezweifelt. Die Anschaffung eines Schutzhelms ist darüber hinaus wirtschaftlich zumutbar. Daher kann nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim Radfahren einen Helm tragen wird, soweit er sich in den öffentlichen Straßenverkehr mit dem dargestellten besonderen Verletzungsrisiko begibt."

Vielen Dank, Herr Dr. Bokelmann!!!

Hinweis: Vielleicht finden ja auch andere Blogleser Themen oder Entscheidungen, auf die sie hinweisen oder die sie besprechen wollen. Nur Mut!  

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26 Kommentare

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Wie lange wird es dauern, bis der erste Fußgänger ein Mitverschulden angerechnet bekommt, weil er keinen Helm getragen hat? Die Begründung liefere ich hier schon mal:

 

Zwar besteht für Fußgänger nach dem Gesetz keine allgemeine Helmpflicht. "Fußgänger sind heutzutage jedoch im täglichen Straßenverkehr einem besonderen Verletzungsrisiko ausgesetzt. Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Fußgänger von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden. Aufgrund der Fallhöhe, der fehlenden Möglichkeit, sich abzustützen (die Hände tragen Einkaufstaschen und Aktenkoffer) und ihrer höheren Geschwindigkeit, z.B. gegenüber Schaufensterbetrachtern, sind Fußgänger besonders gefährdet, Kopfverletzungen zu erleiden. Gerade dagegen soll der Helm schützen. Dass der Helm diesen Schutz auch bewirkt, entspricht der einmütigen Einschätzung der Sicherheitsexperten und wird auch nicht ernsthaft angezweifelt. Die Anschaffung eines Schutzhelms ist darüberhinaus wirtschaftlich zumutbar. Daher kann nach dem heutigen Erkenntnisstand grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass ein verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens beim zu Fuß gehen einen Helm tragen wird, soweit er sich in den öffentlichen Straßenverkehr mit dem dargestellten besonderen Verletzungsrisiko begibt."

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Ich kann die Kritik hier nicht nachvollziehen.

 

1. Es ist keinesfalls bewiesen, dass eine hier vorgeworfene Helmpflicht "durch die Hintertür" zu geringerer Bewegung führen wird. Woher nimmt der Kritiker diese "Tatsache"? Es ist viel wahrscheinlicher, dass 90% dieser Radfahrer das Urteil wieder vergessen und weiter ohne Helm fahren. 

 

2. Es ist unstreitig, dass der Schaden ohne Helm in den meisten Fällen höher ist, als mit Helm. Warum soll der Radfahrer für diesen vermeidbaren Mehrschaden nicht einstehen müssen? Warum soll der Fahrradfahrer profitieren, obgleich er leichtsinnig handelt und die Mehrverletzung hätte verhindern können?

 

Zu Dr. Pfannschmidt:

 

Fußgänger sind eben nicht einem höhren Risiko ausgesetzt, da sie sich regelmäßig nicht auf der Fahrbahn sondern auf dem Gehweg aufhalten. Auch treffen die sonstigen Merkmale (höhere Geschwindigkeit etc.) nicht zu.

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Mike Bauer schrieb:

Warum soll der Fahrradfahrer profitieren...?

 

 

Klare Aussage: der (verletzte) Radfahrer profitiert!

Es ist doch wohl eher die KFZ-Haftpflichtversicherung, die hier profitiert!!!

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Zu 1:

In Ländern, in denen eine Helmpflicht eingeführt wurde, konnte ein signifikanter Rückgang des Radverkehrs festgestellt werden. Insoweit ist natürlich dieses Argument nicht ganz von der Hand zu weisen.

 

Zu 2:

Das ist es gerade nicht. Es gibt Situationen, in denen ein Fahrradhelm die Verletzungen sogar noch verschlimmern kann. Zudem wurde in verschiedenen Studien nachgewiesen, dass Autofahrer zu Fahrradfahrern mit Helm einen geringeren Abstand halten.

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Konsequenterweise muss sich demnächst auch Mitverschulden anrechnen lassen, wer sein 100000-Euro-Auto beschädigen lässt, wenn er auch ein 20000-Euro-Auto hätte nutzen können.

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Ein guter Einwand. 

 

Dennoch, hier geht es um die Frage der Sicherungsmöglichkeiten (oder "mittelbare Pflichten") nicht um den Schadenswert allein. Das wäre zu einfach. Wenn in einem KfZ Sicherungsmechanismen, welche standardmäßig eingebaut sind, fehlen, würde auch hier eine Minderung annehmen. 

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Mike Bauer schrieb:
Wenn in einem KfZ Sicherungsmechanismen, welche standardmäßig eingebaut sind, fehlen, würde auch hier eine Minderung annehmen. 

 

Wer also bspw. ein altes Kfz fährt, weil er sich kein neues leisten kann oder will, trägt allein dadurch ein Mitverschulden? Das erscheint mir nicht ganz angemessen.

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Gast schrieb:

Mike Bauer schrieb:
Wenn in einem KfZ Sicherungsmechanismen, welche standardmäßig eingebaut sind, fehlen, würde auch hier eine Minderung annehmen. 

 

Wer also bspw. ein altes Kfz fährt, weil er sich kein neues leisten kann oder will, trägt allein dadurch ein Mitverschulden? Das erscheint mir nicht ganz angemessen.

 

Nur wenn dieses KfZ nicht den vorgegebenen Sicherheitsstandards entspricht, welche der TÜV vorgibt. Hier wurde widerum der Fehler gemacht, dass einfach nur auf die Schadenshöhe abgestellt und offensichtliche, einfache und für jeden begreifliche Schadesminderungsmöglichkeiten außer Acht gelassen wurden. 

 

In Frage kommen würde dies wohl nur bei Airbags. Ich meine diese sind nicht Voraussetzung um durch die HU zu kommen. Hier könnte man ein Mitverschulden dann ebenfalls annehmen, jedenfalls wäre das die logische Konsequenz. Man könnte an dieser Stelle aber auch argumentieren, dass es unverhältnismäßig wäre, den Einbau eines Airbags zu verlangen. 

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Der "reasonable man" ist eindeutig meine Lieblingsrechtsfigur. Da dies "die" tragende Säule des Urteils darstellt: Ich habe mir den Großteil der wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema durchgelesen und bin für mich persönlich zu dem Schluß gekommen, dass eine Schutzwirkung von Fahrradhelmen, die über die Verhinderung vn Platzwunden oder leichten Gehirnerschütterungen hinausgeht, mehr als fraglich ist und trage daher keinen Helm. Bin ich daher im Sinne des Urteils ein "ordentlicher und verständiger Mensch", obwohl ich keinen Fahrradhelm beim Radfahren trage?

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ZBsp bei der Nichtverwendung von Gurten in damit nicht ausgerüsteten Oldtimern sieht die Rechtsprechung überwiegend kein Mitverschulden. Was aber von der Literatur mehrheitlich -und für mich nachvollziehbar- kritisiert wird.

 

Andere Sicherheitsfeatures wie ABS und Airbag sind jedoch nur schwierig bis gar nicht nachzurüsten. Und es dürfte im Kreise der Alt- und Billigautofahrer auch am allgemeinen Bewusstsein mangeln, dass man mit diesen Fahrzeugen lieber nicht am Verkehr teilnehmen sollte.

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Also ich halte es für scheinheilig, mit der besonderen Gefährdung der Radfahrer im Straßenverkehr zu argumentieren. Wordurch wird denn diese Gefährdung verursacht? In der Regel - wie auch im konkreten Sachverhalt - durch unachtsame, zum Teil nur auf das eigene Fortkommen bedachte Autofahrer.

Dies sah im Grundsatz auch das Gericht so, da es ja "nur" um den Mitverschuldensanteil der Radfahrerin ging. Zieht man aber die Parallele zu ABS, Airbag, etc. müsste m.E. ohne Weiteres bei Unfällen in die Fahrzeuge verwickelt sind, die diese Schadensminderungsmöglichkeiten nicht aufweisen, ebenfalls ein Mitverschuldensanteil angerechnet werden. Gleichfalls könnte man argumentieren, dass ein Helm auch Autofahrern vor schweren Kopfverletzungen bei Unfällen helfen könnte ("gesunder Menschenverstand")

Aber das dürfte selbst das OLG wohl nicht so sehen...

 

 

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Die Argumentation des OLG ist absurd. Es gibt keine Pflicht, sich selbst gegen rechtswidrige Eingriffe anderer zu schützen. Das nächste Mal könnte das OLG auch einem Ausländer Mitschuld an den Folgen eines fremdenfeindlichen Übergriffs geben oder ebenso einem Vergewaltigungsopfer: Beide sind tatsächlich einem besonderen Risiko ausgesetzt, das ich als deutschstämmiger Mann nämlich nicht habe. Und wenn diese Personen sich nicht durch "vernünftige" Kleidung, Begleitung, (Schutz-)Bewaffung usw. schützen, sind sie eben selber (mit-)schuld. Oder wann wird's zu absurd? Und warum beim Radfahrer gerade noch nicht? Eben doch!

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Eine sehr interessante Diskussion wie ich finde.

 

Wobei die Argumente für das Urteil hinsichtlich ihrere Vergleichabrkeit etwas hinken. Mitverschulden wegen fehlendem TÜV? Keine Frage, eindeutig (+), immerhin ist eine gültige TÜV-Plakette Pflicht, ganz im Gegensatz zum Fahrradhelm, der eben grade keine Pflicht ist.

 

Mitverschulden bei sicherheitstechnisch hinterher hinkenden Oldtimern (-)? Schwierig, da einziges ABgrenzungskritierium eigentlich sein kann, dass es nicht zumutbar ist. ABS in einen Oldtimer einsetzen klingt vermutlich für die meisten H-Kennzeichen Besitzer wie Techketzerei aber es ist genau wie das Fahrradfahren eine bewusste Entscheidung für eine spezifische verkehrsbedingte Risikoerhöhung. Also Oldtimerfahrer weiß ich, das mangels technischen Sicherheitsupgrades im Falle eines Unfalls für mich und andere ein erhöhtes Schadenspotential droht. Ebenso wie der Fahrradfahrer weiß, dass er sich den Kopf stark beschädigen kann, wenns ohne Sturzhelm kracht. Folglich bleibt, wie eingangs erwähnt, nurnoch das Merkmal der Zumutbarkeit übrig. Das ist dann eben erheblich Einzelfallabhängig. Wer knapp bei Kasse ist und aus diesen Gründen ein veraltetes Auto fährt, für den ist eine Aufrüstung wohl eher unzumutbar und damit trifft ihn kein erhöhter Verursachungsbeitrag. Wer trotz ordentlich Asche auf dem Konto aus Prinzip einen "echten" Oldtimer fährt, der wird sich die fehlende Sicherheitsausstattung negativ zurechnen lassen müssen. Um dann die Offenlegung der wirtschaftlichen Lage zu veranlassen könnte man durch die Hintertür annehmen, dass jeder erstmal genug Geld hat um sein Fahrzeug nachzurüsten, immerhin ist Autofahren immer teuer.

 

Letztendlich halte ich dieses Urteil (gleichviel ich es rechtspolitisch begrüße) für arg bedenklich. Immerhin werden hier Quasipflichten im extrem durchregulierten Straßenverkehr nach eigenem Ermessen begründet und verteilt. Insbesondere lässt sich aus dem Urteil rauslesen, das bei einem Unfall mit einem Kind kein Mitverursachungsbeitrag angenommen werden würde. Was bedeutet das nun für den Kfz-Fahrer? Kann er sich in einem gegen die Eltern gerichteten Prozess in Höhe eines 20%-igen Schadensanteils schadloshalten wegen mittelbarer Schadensverursachung infolge verletzter Überwachungspflichten aus §823 BGB? Wäre nur konsequent.

 

 

Zitat aus der Urteilsbegründung:

Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden.

Damit schafft das Gericht de facto §1 StVO ab und behauptet einfach mal so, in Städten würde der Autoverkehr dominieren, ja gar "frei fließen" anstatt sich im Stau dahinzuquälen. Einen irgendwie geartenen Nachweis für diese abenteuerliche Behauptung braucht es nicht, wir Juristen sind ja qua Amt mit höherer Weisheit gesegnet, generell erleuchtet und brauchen uns mit solchen niederen Themen wie der Wirklichkeit nicht auseinanderzusetzen. Sind da wohl ein paar Robenträger neidisch geworden auf die Radler, die sich an der Ampel rechts neben ihren dicken Dienstwägen vorbeigeschlängelt haben?

Und bevor unpassende Vergleiche kommen: Alpinski sind kein Verkehrsmittel auf dem Weg zur täglichen Arbeit, die durchschnittliche Geschwindigkeit auf der Skipiste beträgt über 45 km/h und auf Skipisten ist jederzeit mit natürlichen Hindernissen wie Eisplatten, Unebenheiten usw. zu rechnen, so dass die Gefahr für nicht durch Fremdverschulden verursachte Stürze um ein vielfaches höher ist als beim Stadtradeln mit ca. 15 km/h. Bei dieser "selbst gesuchten" Gefahr sind die Maßstäbe für Eigenschutz ganz anders anzusetzen.

Diese "selber schuld Radfahrer, du müsstest doch wissen, dass du von den Autofahrern als störendes Hindernis gesehen wirst"-Argumentation ist von genau derselben "Qualität" wie Äußerungen, das Mädel sei ja selber schuld an ihrer Vergewaltigung, wenn sie so aufreizend angezogen herumlaufe.

Was kommt als nächstes? Freisprüche für Lastwagenfahrer, die beim Rechtsabbiegen Fahrradfahrer und  Fußgänger übersehen, denn Fahrradfahrer müssten ja wissen, dass die Brummilenker in dieser Situation besonders gerne die StVO missachten?

Mein Name schrieb:

Zitat aus der Urteilsbegründung:

Der gegenwärtige Straßenverkehr ist besonders dicht, wobei motorisierte Fahrzeuge dominieren und Radfahrer von Kraftfahrern oftmals nur als störende Hindernisse im frei fließenden Verkehr empfunden werden.

Damit schafft das Gericht de facto §1 StVO ab und behauptet einfach mal so, in Städten würde der Autoverkehr dominieren, ja gar "frei fließen" anstatt sich im Stau dahinzuquälen. Einen irgendwie geartenen Nachweis für diese abenteuerliche Behauptung braucht es nicht, wir Juristen sind ja qua Amt mit höherer Weisheit gesegnet, generell erleuchtet und brauchen uns mit solchen niederen Themen wie der Wirklichkeit nicht auseinanderzusetzen. ...

Korrekt. Entsprechend wird auch in Fragen der Radwegbenutzungspflicht gerne der Autofahrer als dummer Büffel in der von Wölfen erschreckten Herde dargestellt. Wenn es so wäre, müßte die Ausbildung aber dringendst reformiert werden. Nur so ist es ja - anders als noch vor rund 50 bis 60 Jahren - zum Glück nicht mehr. Deutschland hat verkehrsmäßig seine Fegeljahre weitgehend hinter sich. Einzelne Ausnahmen bestätigen da nur noch die Regel.

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@Mein Name:

Sie leben offenbar ebenso fern jeder Realität wie die von Ihnen kritisierten Richter,  wenn Sie im Zusammenhang mit "Robenträgern" von deren "dicken Dienstwägen" schwadronieren....Wenn ein Gerichtspräsident einen hat, ist das schon das höchste der Gefühle.

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@ klabauter: dann ersetzen Sie einfach Dienstwagen durch Privatwagen.

Da Sie zur Sache nichts beigetragen haben und nur ad hominem argumentieren, scheint der angesprochene Verstoß gegen Art. 20 (3) GG auch Ihnen aufgefallen zu sein.

Kein Mitverschulden wegen Nichttragens eines Fahrradhelms

"Das Nichttragen eines Fahrradhelms führt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht zu einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens. Für Radfahrer ist das Tragen eines Schutzhelms nicht vorgeschrieben. Zwar kann einem Geschädigten auch ohne einen Verstoß gegen Vorschriften haftungsrechtlich ein Mitverschulden anzulasten sein, wenn er diejenige Sorgfalt außer acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Dies wäre hier zu bejahen, wenn das Tragen von Schutzhelmen zur Unfallzeit nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich und zumutbar gewesen wäre. Ein solches Verkehrsbewusstsein hat es jedoch zum Zeitpunkt des Unfalls der Klägerin noch nicht gegeben. So trugen nach repräsentativen Verkehrsbeobachtungen der Bundesanstalt für Straßenwesen im Jahr 2011 innerorts nur elf Prozent der Fahrradfahrer einen Schutzhelm. Inwieweit in Fällen sportlicher Betätigung des Radfahrers das Nichtragen eines Schutzhelms ein Mitverschulden begründen kann, war nicht zu entscheiden."

Macht der BGH damit den Weg frei für eine Schadensminderung für Autofahrer, die sich einen Neuwagen ohne ESP zulegen oder einen, der mehr als 20.000 Euro kostet?

Auch bei Motorradfahrern ist Schutzkleidung an den Beinen nicht gesetzlich vorgeschrieben und trotzdem wird von der überwiegenden Rechtsprechung ein Mitverschulden bejaht, wenn der Geschädigte nur eine normale Hose getragen hat. (vgl. z.B. OLG Brandenburg. NJW-RR 2010,538) 

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@ RA Dr. Thomas Wedel:

1. in 12 U 29/09 ging es "nur" um Schmerzensgeld, nicht um den tatsächlichen eigenen Schaden in Form von Behandlungskosten wie beim hier debattierten Urteil.

2. steht das Urteil mMn auf wackligen Füßen. Der BGH hat zutreffenderweise den allgemeinen (Nicht-) Gebrauch von Fahrradhelmen als Maßstab dafür genommen, was  "nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich und zumutbar gewesen wäre". Das OLG BRB behauptet zwar, "die meisten Motorradfahrer empfinden es heutzutage als eine persönliche Verpflichtung, mit Schutzkleidung zu fahren", nennt aber keine Belege dafür, dass dies so weit verbreitet sei, um die Bedingung "Sorgfalt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt" zu erfüllen. Auch im September ist es warm genug, um gerade im Stadtverkehr genügend Motorradfahrer in Jeans o.ä. beobachten zu können und die Behauptung für keineswegs fundiert zu halten (übrigens: Tageshöchsttemperatur in Neuruppin am Unfalltag 22.09.05: 20,5 Grad, wolkenlos, 11 Sonnenstunden). Auf Grundlage einer unbewiesenen Behauptung ein Urteil zu fällen ist nicht lege artis und m. E. hat der Kläger nur aus Kosten-Nutzen-Erwägungen (Zivilprozess; zu erwartendes, deutlich geringer als die Forderung ausfallendes Schmerzensgeld) nicht Revision eingelegt.

Aber es ging auch um Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB und es hat z.B. auch OLG Düsseldorf,NZV 2006,415 ebenso entschieden.

Nach ständiger Rechtsprechung des BGH versteht § 254 BGB unter dem Begriff des Mitverschuldens nicht die vorwerfbare Verletzung einer Rechtspflicht, sondern die Außerachtlassung derjenigen Sorgfalt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. (vgl. z.B. BGH, NJW 2001,149) 

Hierunter kann man meiner Auffassung nach auch ohne weiteres Motorradfahren ohne Schutzkleidung an den Beinen und Fahrradfahren ohne Helm subsumieren.

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Leider geht auch dieses Urteil nicht darauf ein, inwieweit das Tragen einer Lederkombi "nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz" üblich ist. Dies scheint mir der (neu eingeführte?) Maßstab zu sein, der für den BGH hier maßgeblich war.

Wie man am Beispiel der Skihelme gut sehen kann, kann sich das "allgemeine Verkehrsbewusstsein" durchaus in überschaubaren Zeiträumen wandeln. Aber nicht jede denkbare Schutzmaßnahme (Helm und HANS-Halsschutzsystem beim Autofahren, Rücken- und Beckenprotektor beim Motorrad- und Skifahren, Schutzbrille beim Squash usw. und nun eben auch Fahrradhelme) ist im allgemeinen Verkehrsbewusstsein breit genug verankert, um deren Nichtanwendung zu einer Vernachlässigung der Sorgfalt zu machen. Kennen Sie ein Urteil, nach dem ein Hobbyfußballer einen Teil der Behandlungskosten für seinen Unterschenkelbruch selbst zahlen musste, weil er keine Schienbeinschoner getragen hat? 

Genaueres kann man natürlich erst nach der Veröffentlichung sagen, aber ich vermute (und hoffe), dass bei zukünftigen Urteilen genauer ermittelt werden muss, welche konkrete Selbstschutzmaßnahme "nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein erforderlich und zumutbar" ist. Die Argumentation "jeder weiß doch, dass ABC vor XYZ schützt" wird m.E. nicht mehr ausreichen.

Ich bin der Meinung, dass im Rahmen des 254 BGB der ordentliche und verständige Mensch der richtige Maßstab ist und nicht das allgemeine Verkehrsbewusstsein. Der ordentliche und verständige Mensch fährt aber weder ohne Helm Fahrrad noch ohne Schutzkleidung an den Beinen Motorrad. Wer trotzdem dieses erhöhte Risiko eingeht muss eben auch mit den haftungsrechtlichen Folgen leben.

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RA Dr. Thomas Wedel schrieb:
 Der ordentliche und verständige Mensch fährt aber weder ohne Helm Fahrrad
Genau das hat der BGH nun anders gesehen. Dass Sie anderer Meinung sind, ist hinreichend deutlich geworden.

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