OLG Frankfurt: So (!) wird eine Zeugenaussage beim Verkehrsunfall gewürdigt!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 06.12.2012
Rechtsgebiete: OLG FrankfurtZeugeVerkehrsrecht1|17327 Aufrufe

Eine mustergültige Anleitung, wie eine Zeugenaussage bei einem Verkehrsunfall (es ging um sog. "feindliches Grün") zu würdigen ist, findet sich bei OLG Frankfurt, Urteil vom 09.10.2012 - 22 U 109/11:

 

 

 

Wie die Wahrnehmungspsychologie durch zahlreiche Experimente herausgefunden hat, gibt es von der Wahrnehmung eines Sachverhalts bis hin zur Wiedergabe der Erinnerung viele Fehlermöglichkeiten, die zu einer Veränderung des erinnerten Geschehens führen und in weiten Teilen kognitiv nicht beeinflussbar sind. Dies beginnt bei einfachen Wahrnehmungsfehlern, die daraus resultieren, dass jeder Mensch nur einen Bruchteil von dem wahrnimmt, was an Informationen auf ihn einströmt, und die Auswahl der wahrzunehmenden Signale völlig unbewusst nach individuellen Kriterien erfolgt. Im Langzeitgedächtnis wird wiederum nur ein geringer Prozentsatz dessen gespeichert und bleibt während der Erinnerung auch nicht unverändert.

Spätere Ereignisse oder auch Assoziationen und Neubewertungen haben starken Einfluss auf den erinnerten Sachverhalt, ohne dass dies durch die Person bemerkt wird (vgl. nur Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007; Sporer/Meurer, Die Beeinflussbarkeit von Zeugenaussagen, 1987; Kotre, Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, 1996; Scholz, StV 2004, 104, Kühne, NStZ 1985, 252).
 
Gerade bei schnell ablaufenden Vorgängen, deren Grundmuster, wie beim Verkehrsunfall bestimmte Fahrsituationen, häufig erlebt werden, gibt es zahlreiche Fehlerquellen, die der Vernehmungsperson regelmäßig nicht bewusst sind. Dies haben auch Experimente mit Richtern bewiesen (Kirchhoff MDR 2001, 661). Deshalb kann auch bei noch so wahrheitsliebenden und objektiven Zeugen - wie z.B. auch Polizeibeamten - nicht von vornherein davon ausgegangen werden, dass der bekundete Sachverhalt mit der Realität übereinstimmt. Auch ist die Sicherheit der Aussage kein ausreichender Indikator dafür, dass ihr Inhalt objektiv richtig ist.

Es ist deshalb erforderlich (BGH v. 30.7.1999 - 1 StR 618/98, NJW 1999, 2746; BVerfG v. 30.4.2003 - 2 BvR 2045/02, NJW 2003, 2444), in erster Linie Anhaltspunkte zu finden, die dafür sprechen, dass die Auskunftsperson die Wahrheit sagt (BGH v. 29.4.2003 - 1 StR 88/2003, NStZ-RR 2003, 245). Dabei nimmt man zunächst an, die Aussage sei unwahr (sog. „Nullhypothese“ - BGH, a.a.O.). Diese Annahme überprüft man anhand verschiedener Hypothesen. Ergibt sich, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt. Dies bedeutet, dass jede Zeugenaussage solange als unzuverlässig gilt, als die Nullhypothese nicht eindeutig widerlegt ist.

Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man bei der Bewertung von Aussagen von einer neutralen Anfangswahrscheinlichkeit für deren Zuverlässigkeit ausgeht und sodann überprüft, ob anhand von Qualitätsmerkmalen, sog. Realkennzeichen oder Realitätskriterien, eine (ausreichend) hohe Wahrscheinlichkeit für die Zuverlässigkeit der Aussage erreicht werden kann.

Als Realitätskriterien gelten beispielsweise der Detailreichtum einer Aussage, die Schilderung von Komplikationen, deliktstypische Einzelheiten, individuelle Prägung, Schilderung von gefühlsmäßigen Reaktionen; psychische Folgewirkungen, Verflechtung der Angaben mit anderen Geschehnissen und das Nichtsteuerungskriterium (inhaltlich und chronologisch nicht geordnete, sprunghafte Wiedergabe; vgl. zu allem die ausführlichen Darstellungen bei BGH v. 30.7.1999 - 1 StR 618/98, NJW 1999, 2746; Wendler/Hoffmann, Technik und Taktik der Befragung im Gerichtsverfahren, 2009; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007; Nack, JA 1993, 161; Wendler, ZfS 2003, 529; Kirchhoff, MDR 1999, 1473; Rüssmann, DRiZ 85, 41).

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1 Kommentar

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Schade, daß fast nur Zivilgerichte so ein Tamtam um die Würdigung von Zeugenaussagen macht. Im Strafrecht, wo es oftmals um Freiheit oder Unfreiheit geht, ist man nicht so kleinlich.

 

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