Die Grenzen der Fiktion (II)

von Hans-Otto Burschel, veröffentlicht am 09.07.2012
Rechtsgebiete: fiktives EinkommenFamilienrecht5|4581 Aufrufe

Bereits hier hatte ich davon berichtet, dass das Bundesverfassungsgericht den Familiengerichten die Grenzen bei der Annahme eines fiktiven Einkommens aufgezeigt hat.

Nun war erneut Analss dafür. Die nachfolgende Pressemitteilung des BVerfG vom 06.07.2012 berichtet von drei erfolgreichen Verfassungsbeschwerden. Die vollständigen Entscheidungen finden sich hier, da und dort.

 

In den vorliegenden Verfahren hat sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit den Voraussetzungen befasst, die an die Feststellung der Erwerbsfähigkeit und Erwerbsmöglichkeiten eines Unterhaltspflichtigen zu stellen sind. Reicht das Einkommen eines Unterhaltspflichtigen unter Wahrung seines Selbstbehalts nicht aus, um seine Unterhaltspflicht gegenüber einem minderjährigen Kind in vollem Umfang zu erfüllen, können ihm grundsätzlich fiktiv die Einkünfte zugerechnet werden, die er erzielen könnte, wenn er eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit ausüben würde. Der Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 774/10 stammt aus Ghana und ist der deutschen Sprache nur begrenzt mächtig. Als Küchenhilfe bezieht er einen Nettoverdienst von rund 1.027 € monatlich. Das Amtsgericht verurteilte ihn, an seinen minderjährigen Sohn den Mindestunterhalt von damals 199 € im Monat zu zahlen. Es sei davon auszugehen, dass er als ungelernte Arbeitskraft bei entsprechenden Bemühungen eine Erwerbstätigkeit finden könne, die mit einem Bruttostundenlohn von 10 € vergütet werde, sodass er von dem sich ergebenden Nettoeinkommen unter Berücksichtigung des Selbstbehalts in Höhe von 900 € den Mindestunterhalt in Höhe von 176 € decken könne. Den Fehlbetrag von 23 € müsse er mit einer Nebentätigkeit erwirtschaften. Der 1953 geborene Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 1530/11, gelernter Baumaschinist und Betonfacharbeiter, ist körperlich behindert und lebt von Sozialleistungen. Das Amtsgericht verurteilte ihn zur Zahlung des Mindestunterhalts in Höhe von damals 285 € im Monat, wobei es unterstellte, dass der Beschwerdeführer bei überregionalen Bemühungen eine Arbeit, beispielsweise als Nachtportier oder Pförtner, finden könne, durch die er ein bereinigtes Nettoeinkommen von 1.235 € monatlich erzielen könne. Der körperlich behinderte Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 2867/11 lebt ebenfalls von Sozialleistungen. Er wurde vom Amtsgericht zur Zahlung eines Unterhalts von 225 € monatlich verpflichtet. Seine körperlichen Einschränkungen entbänden ihn nicht davon, alles ihm Mögliche zur Sicherung des Unterhalts seines minderjährigen Kindes zu unternehmen. Da er keine Angaben zu seinen Bemühungen um eine Arbeit gemacht habe, sei fiktiv von seiner Fähigkeit zur Zahlung des Mindestunterhalts auszugehen. Die von den Beschwerdeführern jeweils eingelegten Rechtsmittel hatten vor den Oberlandesgerichten keinen Erfolg. Die 2. Kammer des Ersten Senats hat die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, weil sie die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzen, und die Sachen jeweils an das zuständige Oberlandesgericht zur Entscheidung zurückverwiesen. Den Beschlüssen liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: Eltern haben gegenüber ihren minderjährigen Kindern eine gesteigerte Erwerbsobliegenheit. Es ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte. Gleichwohl bleibt Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Auch im Rahmen der gegenüber minderjährigen Kindern gesteigerten Erwerbsobliegenheit haben die Gerichte dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen und im Einzelfall zu prüfen, ob der Unterhaltspflichtige in der Lage ist, den beanspruchten Unterhalt zu zahlen. Wird die Grenze des Zumutbaren eines Unterhaltsanspruchs überschritten, ist die Beschränkung der finanziellen Dispositionsfreiheit des Verpflichteten als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen. Die Zurechnung fiktiver Einkünfte zur Begründung der Leistungsfähigkeit setzt zweierlei voraus: Zum einen muss feststehen, dass subjektiv Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners fehlen. Zum anderen müssen die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sein, was von seinen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiographie und Gesundheitszustand und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängt. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht, weil sie keine tragfähige Begründung für die Annahme enthalten, der Beschwerdeführer könnte bei einem Arbeitsplatzwechsel bzw. bei ausreichenden, ihm zumutbaren Bemühungen um einen Arbeitsplatz ein Einkommen in der zur Zahlung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe erzielen. 1. Im Verfahren 1 BvR 774/10 hat das Oberlandesgericht ohne nähere Begründung und ohne seine eigene Sachkunde näher darzulegen festgestellt, einem ungelernten Mann sei es möglich, einen Bruttostundenlohn von 10 € zu erzielen. Dass es sich dabei an den persönlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Beschwerdeführers und an den tatsächlichen Gegebenheiten am Arbeitsmarkt orientiert hat, ist der angegriffenen Entscheidung nicht zu entnehmen. Das Oberlandesgericht hat sich insbesondere nicht mit dem derzeit für eine ungelernte Kraft erzielbaren Lohn bzw. den aktuellen Mindestlöhnen der verschiedenen Branchen auseinandergesetzt. Soweit sich der Beschwerdeführer zusätzlich gegen die Anrechnung fiktiver Einkünfte aus einer geringfügigen Nebentätigkeit wendet, ist seine Verfassungsbeschwerde dagegen unzulässig, weil er eine Verletzung seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit nicht dargetan hat. Eine Obliegenheit zur Erzielung von Nebeneinkünften, die dem Unterhaltspflichtigen bei der Unterhaltsberechnung fiktiv zugerechnet werden können, ist nur dann anzunehmen, wenn und soweit ihm die Aufnahme einer weiteren Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbar ist und ihn nicht unverhältnismäßig belastet. Danach ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es ihm unter Abwägung seiner besonderen Lebens- und Arbeitssituation sowie seiner gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben, und ob der Arbeitsmarkt entsprechende Nebentätigkeiten für den Betreffenden bietet. Die Darlegungs- und Beweislast liegt insoweit beim Unterhaltsverpflichteten. Der Beschwerdeführer hat nicht dargetan, dass und aus welchen Gründen ihm die Aufnahme einer Nebentätigkeit nicht möglich bzw. nicht zumutbar ist. 2. In den Verfahren 1 BvR 1530/11 und 1 BvR 2867/11 haben die Gerichte zwar zutreffend festgestellt, dass die Beschwerdeführer sich nicht ausreichend um eine Erwerbstätigkeit bemüht haben. Sie haben jedoch ebenfalls keine Feststellung dazu getroffen, auf welcher Grundlage sie zu der Auffassung gelangt sind, dass die Beschwerdeführer bei Einsatz ihrer vollen Arbeitskraft und bei Aufnahme einer ihren persönlichen Voraussetzungen entsprechenden Arbeit objektiv in der Lage wären, ein Einkommen in der zur Leistung des titulierten Unterhalts erforderlichen Höhe zu erzielen. Zu dieser Feststellung hätte es einer konkreten Prüfung unter Berücksichtigung der beruflichen Ausbildung der Beschwerdeführer, ihres Alters und ihrer krankheitsbedingten Einschränkungen sowie der tatsächlichen Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt bedurft. Ohne diese konkrete Prüfung hätten die Gerichte nicht auf die volle Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführer in Höhe des titulierten Kindesunterhalts schließen dürfen.

 

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5 Kommentare

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Diesmal hat das BVerfG sich etwas lauter als sonst zu Wort gemeldet, da die Gerichte bisher nicht zugehört haben, wenn das BVerfG ihnen ihr Lieblingsspielzeug wegnehmen wollte.

Jetzt knallen die Ohrfeigen schon etwas lauter durch den Pressewald und das gleich dreifach um gleich auch die übliche Schutzbehauptung "bedauerlicher Einzelfall" zu entkäften.

 

Aber solange Richter für Rechtsverstöße nicht persönlich zur Rechenschaft gezogen werden, wird es auch diesmal nicht lange dauern, bis weiter, wie bisher, das Recht gebeugt wird.

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Was ich nicht verstehe: Die Beschlüsse des BVerfG zu fiktivem Einkommen sind in den letzten Jahren eine Massenangelegenheit geworden, teils basierend auf sehr ähnlichen Sachverhalten. Entscheidungen dazu waren z.B.:

 

1 BvR 2076/03 vom 29.12.2005 - 1 BvR 2253/07 vom 16.4.2008 - 1 BvR 125/06 vom 18.3.2008 - 1 BvR 443/09 vom 29.10.2009 - 1 BvR 2236/09 vom 15.2.2010 - 1 BvR 3031/08 vom 11.3.2010       Wird die Rechtsprechung der BVerfG von Amts- und Oberlandesgerichten einfach ignoriert? Einer der Beschlüsse jetzt (4 UF 248/09, die kaum deutsch sprechende Küchenhilfe aus Ghana, der die Richter 1739 EUR fiktives Einkomen angedichtet haben) lag vorher immerhin beim OLG Düsseldorf, dieselben Richter die auch die Düsseldorfer Tabelle erstellen. Mir und dem BVerfG scheint, dort hat man sich selbst zitiert, ohne es für nötig befinden sich den konkreten Fall überhaupt anzusehen. Höflicher in den Worten des BVerfG: Man hat "keine Feststellung dazu getroffen, auf welcher Grundlage es zu der Auffassung gelangt ist, der Beschwerdeführer könne einen Bruttostundenlohn von 10 € und damit das seiner Verurteilung zugrunde liegende Einkommen erzielen."

 

Eric Untermann schrieb:

Wird die Rechtsprechung der BVerfG von Amts- und Oberlandesgerichten einfach ignoriert?
Dies könnte man mit richterlicher Unabhängigkeit kommentieren.   Allerdings muss das konsequentzlose ignorieren von solchen Sachverhalten auch sehr stark bemängeln. Dies ist ja auch einer der Gründe, warum ein noch so gutes Gesetz leider an den Möglichkeiten der Richter scheitern kann.
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Richter sind nicht losgelöst und unabhängig von der Verfassung. Wer die Verfassung (hier: Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz) übergeht, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er in der Lage ist, Recht zu sprechen und wie seine selbstproduzierte Düsseldorfer Tabelle zu werten ist.

Eric Untermann schrieb:

Richter sind nicht losgelöst und unabhängig von der Verfassung. Wer die Verfassung (hier: Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz) übergeht, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er in der Lage ist, Recht zu sprechen und wie seine selbstproduzierte Düsseldorfer Tabelle zu werten ist.

Dabei werfen sich aber sofort zwei Fragen auf:

1) Wer und wie will das beurteilen?

2) Wie soll es sanktioniert werden?

Einem Laien wird perse die Urteilkraft nicht zugemutet, etwas zu verstehen. Verklausielierungen und Deutungshoheit obliegen der Justiz und sind damit einer demokratischen Kontrolle entzogen. Ich will da nicht mal Böswilligkeit unterstellen, aber es ist doch so, dass die Justiz in ihren unterscheidlichen Farcetten eine Eigendynamic entwickelt hat, die von dem Volk nciht mehr nachvollzogen werden kann. Ich ziele nicht ausschließlich auf die Rechtssprechung im Familienrecht ab, auch wenn ich diesen Bereich am Besten kenne.

 

Und wieweit es mit der Verfassung her ist, hat das OLG Hamm doch vor einigen Jahren bildlich vorgeführt. Dort wurden Urteile des BGH des Verfassungsgerichtes ignoiert und umgedeutet. Eine Konsequentz gab es für die Richter nicht.

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