Wie lang ist lebenslang?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 01.06.2012

Die Frage wird in der Vorlesung häufig aufgeworfen, nachdem man zunächst klargestellt hat, dass die allgemein verbreitete Vorstellung falsch ist: Es trifft nicht zu, dass der zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte mehr oder weniger automatisch nach 15 Jahren entlassen wird.

Die lebenslange Freiheitsstrafe ist vielmehr eine (die einzige) unbestimmte Freiheitsstrafe in Deutschland, die Vollstreckung dauert fast immer länger als 15 Jahre und ist nach oben offen.

Aber wie lange dauert sie denn nun tatsächlich - im Mittelwert? Mit welcher Verbüßungsdauer kann ein heute zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter rechnen?

Da beginnt es kompliziert zu werden. Prof. Dr. Axel Dessecker von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden ist der Frage nachgegangen ("Wie lange dauern lebenslange Freiheitsstrafen?" im neuesten Heft der Monatsschrift für Kriminologie  2012, S.81 ff.)

Einige seiner Erkenntnisse möchte ich hier wiedergeben.

Schon methodisch ist die Sache nicht leicht zu beantworten: Genau ermitteln kann man die Dauer ja erst, wenn die Betr. entlassen werden, also ggf. Jahrzehnte nach der Verurteilung. Es werden aber jedes Jahr nur ein Bruchteil der "Lebenslänglichen" entlassen, so dass die Zahlen der im Vollzug verbliebenen den statistischen Wert nicht beeinflussen können. D.h. der Prognosewert, wie lang lebenslang dauert, liegt über dem statistischen Mittelwert der Entlassungen.

Für die heute zu lebenslang Verurteilten ist die Statistik auch deshalb nur ein vager Anhaltspunkt, weil sich ja die Vorschriften (Strafrestaussetzung, Begnadigung, bes. Schuldschwere) aber auch und v.a. ihre konkrete Anwendung in so langen Zeiträumen verändern.

Aus den 70er Jahren gibt es Untersuchungen, dass die damals Entlassenen zu ca. einem Drittel zwischen 20 und 25 Jahren einsaßen, der Mittelwert betrug damals ca. 20 Jahre.

Für die 80er Jahren werden um einige Jahre geringere Werte angegeben.

Dessecker gibt nun selbst erhobene Daten aus den 2000er Jahren an: Danach liegt der Mittelwert der Entlassenen in der vergangenen Dekade bei 18,6 Jahren, der Median (von Dessecker als geeigneterer Wert angesehen) liegt bei 17 Jahren, zugleich liege der Wert derjenigen, die erst nach 25 und mehr Jahren entlassen werden bei 11 %, wobei sich ein starker Anstieg in den letzten beiden Jahren ergab (2010 waren mehr als ein Fünftel der Entlassenen 25 Jahre oder länger im Vollzug).

Neben den von 2002 bis 2010 entlassenen 408 Gefangenen verstarben 69 Lebenslang-Gefangene im Vollzug, weitere wurden schwerst krank erst kurz vor ihrem Tod entlassen. Für diese nicht wenigen Gefangene bedeutete also "lebenslang" tatsächlich lebenslang.

Den Artikel von Axel Dessecker kann man nur empfehlen.

 

 

 

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7 Kommentare

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Heute stellt Kai Schlieter in der taz den derzeit am längsten inhaftierten Strafgefangenen Deutschlands vor - in einer sehr lesenswerten Reportage.

Hans-Georg neumann sitzt wegen zweifachen Mordes bereits 50 Jahre ein, seit März 1994 (also seit 18 Jahren!) gebietet die Schwere der Schuld nicht mehr seine weitere Gefangenschaft.

 

Was vom Leben übrig bleibt - Haftentlassung nach 50 Jahren (Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung)

... das Oberlandesgericht Nürnberg entschied gerade, dass er im Jahr 2015 auf Bewährung entlassen werden soll. Ein Psychiater habe das für "grundsätzlich verantwortbar" gehalten. Drei Jahre hat er Zeit, sich auf das neue Leben vorzubereiten. Dann wird Klaus G. 50 Jahre hinter Gittern verbracht haben. So lange wie nur noch ein anderer Häftling in Deutschland, der in Bruchsal in Baden-Württemberg sitzt. In Straubing, wo die meisten Lebenslänglichen sitzen, gibt es nur noch zwei Männer, die annähernd so lange in Haft sind: ein Frauen- und ein Mädchenmörder, der eine seit 44 Jahren, der andere seit 43. Klaus G. sitzt mit Abstand am längsten.
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Der Mittagsmörder kommt frei, ein anderer bleibt in Haft: der Mädchenmörder von Kaltenbrunn. Er sitzt schon 43 Jahre in Haft. Der Mann hatte Ende der Sechzigerjahre in Oberfranken drei junge Mädchen sadistisch gequält und getötet. Eigentlich sollte er jetzt im September rauskommen. Alles war vorbereitet, nun hat das Landgericht Regensburg die Entlassung quasi in letzter Minute ausgesetzt. Der Mann erscheint noch als zu gefährlich.

Deutschlands Langzeit-Häftling: Hans-Georg Neumann muss im Gefängnis bleiben (SPON)

Seit mehr als 52 Jahren sitzt Hans-Georg Neumann wegen Doppelmordes im Gefängnis - so lange wie kein anderer deutscher Häftling. Das wird sich so schnell auch nicht ändern: Das Oberlandesgericht Karlsruhe wies nun eine Beschwerde des 77-Jährigen ab.
[...]

In einer persönlichen Anhörung des Gefangenen sei das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Häftling trotz seines fortgeschrittenen Alters "vital und agil" sei, hieß es nun. Im Falle einer bedingten Entlassung aus der Strafhaft sei "die Begehung schwerer Gewaltdelikte oder ähnlich schwerwiegender Straftaten zu erwarten".

Nach Prüfung eines psychiatrischen Gutachtens gelangte der Strafsenat zu der Überzeugung, dass die "problematische Persönlichkeitsstruktur des Verurteilten" unverändert fortbestehe. Es sei zu befürchten, dass der Verurteilte im Falle einer Entlassung in die kriminelle Subkultur, "in die er bereits während der Haft durchgehend eingebunden" gewesen sei, sowie in das Drogenmilieu abgleiten werde. Der Häftling habe zudem "keinerlei tragfähige und ihn stabilisierenden sozialen Kontakte". 

 

Mädchenmörder von Kaltenbrunn ist frei (NP Coburg, Juni 2013)

 Der dreifache Mädchenmörder aus Kaltenbrunn (Landkreis Coburg) wurde am Montag nach 43 Jahren Haft aus der JVA Straubing entlassen. Das bestätigte jetzt Leitender Oberstaatsanwalt Anton Lohneis der Neuen Presse.

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