Kammergericht (Pressemeldung): Zwangseinweisung eines 11jährigen Kindes zur Therapie seiner Geschlechtsorientierung? (Update 19.04.)

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 24.03.2012

Schenkt man dem Bericht der taz von heute Glauben (leider gibt es bislang kaum weitere Berichte dazu, der strafblog schöpft aus derselben Quelle, siehe jetzt mein Update unten), dann hat das Kammergericht Berlin eine Entscheidung des Jugendamtes bestätigt, mit der ein 11jähriges Kind in die kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung der Charite eingewiesen werden soll. Es liege weder eine Suizidgefahr  noch eine Fremdgefährung durch dieses Kind vor. Es werde aber vermutet, die Mutter habe dem Kind seine von der Norm abweichende Geschlechtsorientierung (das Kind ist als Junge zur Welt gekommen, fühlt sich aber als Mädchen) "induziert" (zum Hintergrund: früherer Bericht der taz).

Unabhängig davon, ob dieser Vorwurf gegen die Mutter stimmt oder überhaupt stimmen kann (die Experten streiten über die Frage, ob eine solche Induktion möglich ist), erscheint mir eine zwangsweise Unterbringung des Kindes zur Diagnose und evtl. Therapie seiner Geschlechtsorientierung (ob diese überhaupt als eine "Erkrankung" angesehen werden kann, ist höchst fraglich)  wie eine Meldung aus grauer Vorzeit. Der Psychiater soll sich laut taz so geäußert haben:

In der Charité geht es darum, Alex sein „biologisches“ Geschlecht nahe zu bringen und „geschlechtsatypisches Verhalten“ zu „unterbinden“, erklärt Chefarzt Klaus Beier die Therapie.

Aber unabhängig von der Frage, ob hier eine schon im Kindesalter manifest werdende Transsexualität vorliegt oder nicht: Eine Freiheitsentziehung ist ein derart gravierender Eingriff für ein Kind, dass er nur als ultima ratio vorgesehen werden kann. Laut dem Bericht fehlt bislang ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten. Zu einer ambulanten Untersuchung seien Mutter und Kind bereit.

Mutter und Tochter baten darum, psychiatrisch begutachtet zu werden. Doch diese Begutachtung lehnte das Kammergericht nun ab. Ein Gutachten sei nicht erforderlich, zitiert der Anwalt der Familie aus dem Beschluss. Die Ausführungen der Pflegerin seien nachvollziehbar, die angestrebte stationäre Diagnostik liege in deren Ermessen.

Kann das wirklich wahr sein?

Ausschnitt aus den Gründen der Leitentscheidung des BVerfG (Beschluss vom 14. 6. 2007 - 1 BvR 338/07).

Die Freiheit der Person ist ein so hohes Rechtgut, dass sie nur aus besonders gewichtigem Grund angetastet werden darf (vgl. BVerfGE 45, 187 [223]). Die Einschränkung dieser Freiheit ist daher stets der strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen. Dies schließt allerdings nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen. Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes und der damit verbundenen fehlenden Einsichtsfähigkeit die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag oder trotz einer solchen Erkenntnis sich infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen kann, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos, weil schon im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei weniger gewichtigen Fällen eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben muss (vgl. BVerfGE 58, 208 [224 ff.]).

Die deutlich als ultima ratio angeführten Legitimationen für eine zwangsweise Unterbringung liegen m.E. hier eindeutig nicht vor. Als milderes Mittel läge zumindest eine ambulante Diagnosestellung nahe.

Ich bin betont vorsichtig, da ich kaum glauben kann, dass diese Darstellung den Kern des Beschlusses vollständig wiedergibt (siehe jetzt unten mein update). Aber wenn aus dem Beschluss tatsächlich hervorgeht, dass das KG dem Jugendamt  in dieser Frage ein nicht überprüfbares Ermessen einräumt, dann käme dies einer folgenschweren  Rechtsverweigerung (Art. 104 Abs.2  GG: über die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung hat NUR der Richter zu entscheiden)  gleich: Jugendamt und  Gericht tun einem 11jährigen Kind Gewalt an, ohne die traumatischen und stigmatisierenden  Folgen zu berücksichtigen, die aus einer zwangsweisen Unterbringung resultieren können.

Update (27.03.): Die Darstellung der taz hat sich nicht bestätigt, was den rechtlichen Hintergrund der Entscheidung angeht. Es geht derzeit nicht um eine Zwangstherapie/Zwangseinweisung/Unterbringung: Der rechtliche Hintergrund des Beschlusses des KG ist eine Entscheidung über die Gesundheitsfürsorge, die dem Jugendamt übertragen war. Jugendamt und Mutter des Kindes streiten über das weitere Vorgehen. Das Jugendamt strebt eine stationäre Diagnosestellung an. Daraufhin hat die Mutter begehrt, die Gesundheitsfürsorge an sie zurück zu übertragen, was das AG ablehnte, wogegen sich die jetzt vom KG zurückgewiesene Beschwerde der Mutter richtete. Gegen den Willen der Mutter dürfte eine stationäre  Diagnose oder Therapie erst durchgeführt werden, wenn auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf das Jugendamt übertragen ist - was das Jugendamt auch schon beantragt hat. Auch hierzu ist, falls das AG dem Jugendamt Recht gibt, noch eine KG-Entscheidung zu erwarten.

Der inhaltliche Hintergrund des Berichts trifft hingegen zu: Es geht um die Diagnose bzw. "Therapie" einer möglichen Transsexualität, was im Kindheits- und Jugendalter äußerst schwierige Fragestellungen aufwirft, wie eine solche Entwicklung sinnvoll begeleitet werden kann. Gegen den Willen des Kindes eine stationäre Diagnose/Therapie durchzuführen, erscheint mir höchst problematisch, ebenso aber andere irreversible Entscheidungen. Darüber streiten auch die medizinischen Experten.

Der Beschluss des KG, der Anlass der Pressemeldung der taz war, verhält sich nicht ausdrücklich zu der richtigen Vorgehensweise, sondern nur zur Frage, wem die Gesundheitsfürsorge zustehen soll. Allerdings lässt sich im Beschluss eine Bestätigung der Richtungswahl  des Jugendamts herauslesen. Eine Zwangstherapie (wie sie im taz-bericht anklingt)  wird aber vom KG nicht bestätigt oder genehmigt. Der Beschluss enthält keine Festlegung dahingehend, ob die Transsexualität induziert sei oder nicht, meint aber aus dem Verhalten der Mutter eine das Kindeswohl gefährdende Festlegung erkennen zu können, die die Belassung der Gesundheitsfürsorge beim Jugendamt rechtfertigt.

 

Update 29.03.:

Der Beschluss KG 19 UF 186/11 im Volltext.

Update 30.03.: Zur Frage des § 158 FamFG

Im Beschluss des KG wird die Bestellung eines Verfahrensbeistandsgem. § 158 FamFG für das betr. Kind abgelehnt. Ich halte diese verfahrensrechtliche Entscheidung für rechtlich problematisch.

Die Begründung des KG überzeugt nicht. Zunächst wird zur Begründung angeführt, die Interessen des Kindes in diesem Rechtsstreit würden hinreichend von den Eltern wahrgenommen werden. Diese Begründung widerspricht aber eklatant den weiteren Ausführungen im Beschluss: Denn wenn das KG meint, die Gesundheitsfürsorge nicht den Eltern bzw. der Mutter zurückübertragen zu können, da dann eine Kindeswohlgefährdung drohe, dann können in dem Rechtsstreit um eben diese Frage die Eltern/die Mutter eben nicht auch die Interessen des Kindes vertreten.

Ebenso verfehlt ist die Annahme des KG, die vom Jugendamt eingesetzte Ergänzungspflegerin mache einen Verfahrensbeistand für das Kind "erst recht" obsolet, da sie die Interessen des Kindes praktisch mitvertrete: Dieser Erst-Recht-Schluss ist ein klassischer Fehlschluss. Denn in dem Rechtsstreit geht es ja gerade darum, ob die (umstrittene) Einschätzung der Ergänzungspflegerin zur richtigen Ausübung der Gesundheitsfürsorge eine Rückgabe der Gesundheitsfürsorge veranlasst. Nun kann  in einem Rechtsstreit nicht eine neutrale/unabhängige  Interessenvertretung des betr. Kindes von einem  oder von beiden Kontrahenten um die Gesundheitsfürsorge mit übernommen werden. Das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand.

Im Ergebnis hat das Kind überhaupt keine unabhängige Interessenvertretung in dieser für sein Leben enorm wichtigen Frage. Der Senat hat hier  die Bedeutung des rechtlichen Gehörs des betr. Kindes (vgl. dazu BVerfG NJW 2003, 3544) offenkundig nicht ernst genommen und sich über die Interessen des Kindes, die ja die Legitimation des gerichtlichen Tätigwerdens darstellen, einfach hinweggesetzt.

Update 04.04. :

Die taz hat am 03.04. eine Berichtigung zum ursprünglichen Artikel veröffentlicht.

 

Update 19.04.:

Heute hat die taz eine weitere Berichtigung veröffentlicht, die die frühere Berichtigung (vom 04.04.) ergänzt. Ich zitiere sie im vollen Wortlaut:

   In der taz war am 6. 2. 2012 in einem Interview mit der Berliner Antidiskriminierungsbeauftragten Eren Ünsal unter der Überschrift "Kein Ergebnis vorgeben" sowie am 26. 3. 2012 unter der Überschrift "Gegen die Angst vor Abweichung" über den Fall eines transsexuellen Kindes zu lesen, ein Jugendamt wolle dieses "in der Charité mit umstrittenen Therapiemethoden quasi umerziehen lassen", dass hierbei "die Berliner Charité ein Therapieverfahren anwendet, das Fachleute als manipulative ,Umpolungstherapie' ablehnen", bzw. wird eine Aktivistin zum Behandlungsansatz der Charité mit den Worten zitiert: "Der Leiter der Sexualmedizin, Klaus Beier, ist ein orthodoxer Psychoanalytiker, der sich an Konversionstherapien orientiert, mit denen früher Homosexuelle ,geheilt' werden sollten."

In diesem Zusammenhang hieß es in der taz auch: "Nun ist das aber genau das Verfahren [Homosexuelle umzupolen; Anm. d. Red.], das Herr Beier vorschlägt." Die Berliner Charité und Klaus Beier als Leiter des dortigen Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin erklären hierzu übereinstimmend, dass sie keines dieser Verfahren bzw. keine dieser Therapien anwenden. In dem taz-Interview vom 6. 2. 2012 und in einem unter der Überschrift "Viele erleben die Pubertät als Qual" am 28. 1. 2012 veröffentlichten Interview mit der Sexualmedizinerin und Psychoanalytikerin Hertha Richter-Appelt sowie in einem Artikel der taz vom 24. 3. 2012 unter der Überschrift "Alex zieht vor Gericht" heißt es ferner, Beier schreibe in seinen Empfehlungen für eine Therapie bzw. in dem Buch "Sexualmedizin", geschlechtskonformes Verhalten würde gelobt, das "biologische" Geschlecht nahegebracht und nichtkonformes bzw. geschlechtsatypisches Verhalten nicht beachtet bzw. (beiläufig) unterbunden.

Sofern sich hierdurch der Eindruck ergibt, er habe sich zu dem konkreten Fall des transsexuellen Kindes und unmittelbar gegenüber der taz auf diese Weise geäußert, ist dieser Eindruck unzutreffend. Den von der taz beschriebenen Fall kenne er nicht, erklärt Beier.

Gleichwohl war er einer von drei Verfassern des Buchs "Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis", das zuletzt im Jahre 2005 in 2. Auflage veröffentlicht wurde. In einem namentlich nicht gekennzeichneten Abschnitt zum therapeutischen Vorgehen bei Geschlechtsidentitätsstörung heißt es dort: "Folgende psychotherapeutische Settings haben sich als hilfreich erwiesen […]: […] geschlechtskonforme Verhaltensangebote […] und adäquate Verhaltensweisen belohnt […]. Geschlechtsatypische Verhaltensweisen werden nicht beachtet bzw. - beiläufig - unterbunden (nicht jedoch sanktioniert)." Chefarzt Klaus Beier lässt dazu mitteilen, dass er diese Passage nicht selbst verfasst habe, sondern hierdurch lediglich die Position einer kanadischen Arbeitsgruppe wiedergegeben werde.

Leitete er noch am 12. 1. 2012 per E-Mail "einige Originalarbeiten zum Thema" von anderen Verfassern an die Autorin der taz weiter, ohne mitzuteilen, dass diese Aufsätze anscheinend nicht ausnahmslos seine eigene wissenschaftliche Auffassung wiedergeben, bezieht er sich nunmehr ausdrücklich nur noch auf eine Publikation im Deutschen Ärzteblatt aus dem Jahre 2008, in der das Vorgehen der Charité adäquat beschrieben werde.

Dagegen heißt es in einem anderen dieser insgesamt drei übersandten Fachaufsätze zur Behandlung von "Geschlechtsidentitätsstörungen bei Jungen" in Übersetzung: "Die spezifischen Ziele, die wir für Jungen haben, sind die Entwicklung eines positiven Verhältnisses zum Vater (oder einer Vaterfigur), positiver Beziehungen zu anderen Jungen, geschlechtstypischer Fähigkeiten und Verhaltensweisen, um sich in die Gruppe Gleichaltriger oder zumindest einen Teil von ihnen einzufügen und sich als Junge wohlzufühlen. […] Die Behandlung ist abgeschlossen, wenn der Junge regelmäßig die Gegenwart gleichgeschlechtlicher Freunde sucht und sein geschlechtsübergreifendes Verhalten weitgehend normal erscheint."

In den Artikeln der taz vom 24. 3. 2012 und vom 26. 3. 2012 war außerdem zu lesen, das transsexuelle Kind dürfe nun nach einer Entscheidung des Kammergerichts in die Psychiatrie bzw. in die Berliner Charité (zwangs)eingewiesen werden. Zutreffend ist jedoch, dass das Kammergericht die Beschwerde der Kindesmutter gegen einen erstinstanzlichen Beschluss des Amtsgerichts Schöneberg, mit dem sie erfolglos die Rückübertragung der Gesundheitssorge für das Kind begehrte, zurückgewiesen hatte.

Abgesehen davon, dass es für eine solche Maßnahme an einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung fehlt, erklärt die Berliner Charité hierzu ergänzend, weder dürfe noch werde sie das Kind gegen dessen erklärten Willen oder gegen den erklärten Willen seiner Mutter aufnehmen. DIE REDAKTION

 

20.04. Die KOMMENTARFUNKTION ZU DIESEM BEITRAG IST AUSGESCHALTET

 

28.05.: Andrea Beyerlein in der Berliner Zeitung berichtet über den Fall - Link.

26.06.: In der Spiegel-Printausgabe von dieser Woche (Heft Nr.26/2012, S. 134-137) schreibt Kerstin Kullmann über den Fall.

Dezember 2012: aus "gewöhnlich gut unterichteten Kreisen" erfährt man, dass der Streit beigelegt sei und im Sinne der Mutter des Kindes entschieden worden sei.

 

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" Beide Seiten argumentieren auf Basis des Kindeswohls, das tatsächlich im Vordergrund stehen muss - aber hier wird es zum Propagandamittel im Streit zwischen modernen Transgender-Auffassungen und veralteten psychiatrischen Ansichten."

 

 

Prof. Dr. Henning Ernst Müller

Alex steht in diesem Falle eben auch stellvertretend für eine ganze Menge solcher Kinder .

Kinder die vielleicht das Glück hatten das sich beide Eltern eben einig waren,die Behandlungsmethoden der des Hern DR. Beier kennelernten, und sich an kompetentere  Ärzte gewand haben.

Diesen Weg hatte die Mutter von Alex angemahnt,das wurde ignoriert.

Die Zahlreichen Betroffenenverbände werden mit Sicherheit diesen "Fall" nicht aus den Augen verlieren!

 

 

5

Sehr geehrte Dea,

ich bin sicher, Sie meinen es gut, wenn Sie schreiben:

Alex steht in diesem Falle eben auch stellvertretend für eine ganze Menge solcher Kinder .

Aber genau mit dieser Auffassung habe ich Probleme. Niemand sollte einen individuellen Fall als "stellvertretend für andere" beurteilen. Dies geht bei einem Kind schon gar nicht, weil man in Gefahr gerät, den Einzelfall im Hinblick auf andere Fälle zu entscheiden, ihn eben zu "instrumentalisieren". Das Kind wird damit zum Objekt gemacht - wahrscheinlich das Gegenteil von dem, was Sie anstreben, oder?

 

Sehr geehrter Stephan,

wenn ich mich gegen irreversible Entscheidungen ausspreche, meine ich damit eben genau dies. Ich habe nicht behauptet, dass das, was Sie vorschlagen, irreversibel ist. Allerdings fehlt mir die medizinische Ausbildung, um beurteilen zu können, welche Medikation genau welche Wirkungen/Schäden/Nebenwirkungen mit sich bringt, und auch die Diagnose erscheint mir in diesem Fall nicht gesichert. Nach rechtlicher Beurteilung muss das mildeste Mttel gewählt werden, das am ehesten sowohl das Selbstbestimmungsrecht des Kindes und seine Gesundheit schützt. Diese Abwägung ist aber offenbar hier sehr schwierig.

 

Sehr geehrte Kira-Bianca Hinz,

es ist sicherlich richtig, auch bei Justizorganen eine gesunde Skepsis an den Tag zu legen, aber eine Entscheidung, mit der ein Kind einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterzogen werden soll, ist doch etwas anderes als eine Entscheidung über die Gesundheitsfürsorge - hier wäre ein SV-Gutachten tatsächlich unerlässlich.

Das Verfahren vor dem BVerfG ist die Verfassungsbeschwerde. Ob die hier schon gegen die jetzt vorliegende KG-Entscheidung zulässig ist, hängt dann im Einzelnen von der Begründung der Beschwerde ab.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Hätte das Gericht nicht zumindest darauf hinwirken müssen, dass beide Seiten sich auf eine "neutrale" Klinik einigen?

0

@H.E. Müller,

ich muss Sie nachmal zitieren: "[...] aber eine Entscheidung, mit der ein Kind einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterzogen werden soll, ist doch etwas anderes als eine Entscheidung über die Gesundheitsfürsorge"

 

Wahrscheinlich begebe ich mich jetzt juristisch aufs Glatteis, aber ein der sexuellen Identität sehe ich eigentlich mehr als bloße Gesundheitsfürsorge. Die sexuelle Identität ist von fundamentaler Bedeutung in unserer Gesellschaft. Der Freiheitsentzug der hier verhandelten stationären Diagnostik wäre dagegen bloß temporär. Ich verstehe nicht, wie man die Schwere des medizinischen Eingriffs (bzw. des Nichteingreifens!) außer Acht lassen kann.

 

Ich finde Ihre Abwägung nicht angemessen.

1

Sehr geehrter Herr Stephan,

das KG hatte NUR darüber zu entscheiden, WER die Gesundheitsfürsorge über das Kind innehaben soll (Jugendamt oder Mutter allein). Ausdrücklich hat das KG NICHT über eine konkrete gesundheitliche Maßnahme entschieden.  Darüber durfte das KG auch gar nicht entscheiden, weil dies nicht Gegenstand des Verfahrens war. Sollte das Jugendamt tatsächlich eine stationäre Unterbringung gegen den Willen des Kindes durchführen wollen, dann wird darüber wiederum eine gerichtliche Entscheidung notwendig. Und dann sind andere Maßstäbe anzulegen (siehe meinen Beitrag oben). Besser wäre es natürlich, wenn sich die Kontrahenten auf eine behutsame Diagnostik/Begleitung des Kindes einigten und die Gerichte draußen ließen.

 

Sehr geehrte Kira-Bianca Hinz,

sollte es so sein, wie Sie es darstellen, erschiene mir dieser Weg auch plausibel. Jedoch wird man ohne eine Diagnose auch solche Mittel nicht vergeben. Offenbar sind die Beteiligten (anders als Sie) nicht schon alle davon überzeugt, dass das Kind "transidentisch" ist. Auch darüber hat das KG keine Entscheidung getroffen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Der Beschluss ist jetzt auch veröffentlicht, nämlich hier

Ich zitiere:

 

Hier besteht die dringende Notwendigkeit, X. im Hinblick auf die im Raume stehende Transsexualität ärztlich zu behandeln. Dies sehen auch die Kindeseltern, können allerdings keine Einigkeit über die Art und Weise der Behandlung erzielen. Während für die Kindesmutter die Transsexualität des Kindes nicht in Frage steht und sie angesichts der bevorstehenden Pubertät eine Hormonbehandlung befürwortet, lehnt der Vater einen solchen Eingriff derzeit ab und möchte Entscheidungen über irreversible Eingriffe in die Sexualität des Kindes zurückstellen und dem Kind nach Eintritt der Volljährigkeit selbst überlassen. In dieser Situation besteht die konkrete Gefahr, dass die Eltern sich gegenseitig bei der Entscheidung über die einzuleitende Diagnostik oder Therapie blockieren und X. im Ergebnis keinerlei medizinische Unterstützung erhält. 

Sehr geehrter Herr Burschel,

danke, ich habe den Volltext der Entscheidung jetzt auch oben verlinkt.

Nach meinen Recherchen ist tatsächlich zwischen bloßen Pubertätsblockern (die natürlich auch hormonell wirken), deren Wirkungen  nach Absetzung aber wohl großteils reversibel sind, und der eigentlichen geschlechtsumwandelnden hormonellen Therapie zu differenzieren, man vergleiche z.B. hier. Diese Differenzierung geht aus dem KG-Beschluss nicht hervor, auch nicht, was genau die Kindsmutter meint - ich vermute aber Pubertätsblocker.

Es gibt aber auch sehr kritische Stimmen zur Pubertätsblockade, zB. hier.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

Henning Ernst Müller schrieb:

Es gibt aber auch sehr kritische Stimmen zur Pubertätsblockade, zB. hier.

Ein Artikel, der nicht wirklich recherchiert ist und die tatsächlich Behandlungsansätze falsch wieder gibt und ansonsten seine eigenen Ideen zu Kenntnis gibt.

 

Genausogut können sie zu NARTH oder Kreuz.net verlinken.

 

Es ist ein grundsätzliches Problem, dass sich bei diesem Thema alle zu selbsternannten Experten aufschwingen und, wie in der Urteilsbegründung beispielhaft zu lesen ist, die eigentlichen Experten deren Expertentum negiert wird, weil es nicht zu den Ansichten passt. Beispielhafte Zitate:

"Der Hinweis der Kindesmutter auf die Erforderlichkeit von zwei ärztlichen Gutachten, die eine Hormonbehandlung befürworten, um diesen schwerwiegenden und folgenreichen Schritt einzuleiten, ist nicht geeignet, die Bedenken gegen die Ausübung der Gesundheitsfürsorge durch sie allein auszuräumen."
"Entscheidend ist überdies die Befürchtung, dass es der Mutter
freistünde, für diese Diagnostik zwei medizinische Einrichtungen aufzusuchen, von denen sie aus den bereits gesammelten Erfahrungen annehmen dürfte, dass dort ihr Standpunkt geteilt wird."

Das ist auch der ganze Hintergrund, warum Chefarzt Klaus Beier vom Charité diese Behandlungsform (übrigens eigentlich geächtet) überhaupt "anbieten" können. Denn Wissenschaftlich ist sie nicht nur nicht gestützt, sondern auch durch die Forschungen von Zucker, Bradley, Green und Cohen-Kettenis widerlegt (Zucker bietet sie übrigens trotzdem noch an, weil so viele Eltern danach fragen).

5

Henning Ernst Müller schrieb:

 

Es gibt aber auch sehr kritische Stimmen zur Pubertätsblockade, zB. hier.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

 

Konserativer gehts wohl nicht,noch einen Schritt weiter und wir landen bei der Piusbruderschaft...

Die katholische Kirche allgemein hat etwas gegen Trans* verwurstet sie immer mit Homosexuellen die man "heilen" sollte. 

Wie gesagt Transsexualität ist ein Politikum

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Henning Ernst Müller schrieb:

 

Nach meinen Recherchen ist tatsächlich zwischen bloßen Pubertätsblockern (die natürlich auch hormonell wirken), deren Wirkungen  nach Absetzung aber wohl großteils reversibel sind, und der eigentlichen geschlechtsumwandelnden hormonellen Therapie zu differenzieren, 

Richtig.

Wenn aber für die Mutter "die Transexualität nicht in Frage steht", wozu dann - aus ihrer Sicht - noch ein Pubertätsblocker?

Ebenfalls beste Grüße

Hans-otto Burschel

Hopper schrieb:

Henning Ernst Müller schrieb:

 

Nach meinen Recherchen ist tatsächlich zwischen bloßen Pubertätsblockern (die natürlich auch hormonell wirken), deren Wirkungen  nach Absetzung aber wohl großteils reversibel sind, und der eigentlichen geschlechtsumwandelnden hormonellen Therapie zu differenzieren, 

Richtig.

Wenn aber für die Mutter "die Transexualität nicht in Frage steht", wozu dann - aus ihrer Sicht - noch ein Pubertätsblocker?

Ebenfalls beste Grüße

Hans-otto Burschel

 

Ähm, weil das Kind ansonsten die falsche Pubertät durchlebt?!

 

Die Mutter stellt ja nicht die Transsexualität in Frage

4

Hopper schrieb:

Richtig.

Wenn aber für die Mutter "die Transexualität nicht in Frage steht", wozu dann - aus ihrer Sicht - noch ein Pubertätsblocker?

Ebenfalls beste Grüße

Hans-otto Burschel

 

Das ist keine Frage der Ansichten der Mutter oder des Kindes (die übrigens aus dem ersten FAZ Artikel ersichtlich sind). Es werden keine anderen hormonellen Therapieformen für Jugendliche unter 16 bereit gestellt. Ausserdem wird auch die GnrH unterdrückung (es gibt auch Formen wo mit Androcur, einem sogenannten Antiandrogen gearbeitet wird) nicht ohne eine Ausführliche Diagnostik eingeleitet. Interessanterweise scheint diese jedoch abgeschlossen zu sein, da bereits zwei Gutachten vorliegen - die aber einfach vom Gericht, der Pflegerin und dem Charite anerkannt werden.

 

Auch von mir beste Grüsse,

Sarah Roth

5

BadHairDays schrieb:
die aber einfach vom Gericht, der Pflegerin und dem Charite anerkannt werden.

 

Huch, da fehlte ein "nicht".

5

Hopper schrieb:

 

Wenn aber für die Mutter "die Transexualität nicht in Frage steht", wozu dann - aus ihrer Sicht - noch ein Pubertätsblocker?

Ebenfalls beste Grüße

Hans-otto Burschel

 

Es gibt in Deutschland keine Klinik die einem 12 Jährigen Kind Hormone verschreibt . Es wird also auf Einen Pubertätsblocker hinauslaufen.

 

Das wesentliche für dieses Kind sollte doch erstmal sein das man es nicht in die Obhut eines Arztes überstellt (egal ob ambulant oder stationär) der mit reaparativen Therapien "Umerziehungs-Experimente ",die in einigen Fällen sogar zum Suizid führten und aus der Mottenkiste der" Homosexuellenheilung" stammen.

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Konversionstherapie

5

Hopper schrieb:

Henning Ernst Müller schrieb:

 

Nach meinen Recherchen ist tatsächlich zwischen bloßen Pubertätsblockern (die natürlich auch hormonell wirken), deren Wirkungen  nach Absetzung aber wohl großteils reversibel sind, und der eigentlichen geschlechtsumwandelnden hormonellen Therapie zu differenzieren, 

Richtig.

Wenn aber für die Mutter "die Transexualität nicht in Frage steht", wozu dann - aus ihrer Sicht - noch ein Pubertätsblocker?

Ebenfalls beste Grüße

Hans-otto Burschel

Eben damit dem Kind eine freie Entscheidung zum späteren Zeitpunkt überhaupt ermöglicht wird.

Ohne die Gabe von Pubertätsblockern wird Alex eine männliche Pubertät durchlaufen. Der Körper wird sich verändern, ihre Möglichkeiten als Mädchen zu leben, was sie offensichtlich zur Zeit tut,  werden zunehmend beschnitten.

Stellen sie sich einfach einen 12 jährigen Jungen in Unterwäsche und ein 12 jähriges Mädchen in Unterwäsche vor.

Nun das gleiche mit 18. Da liegen Welten dazwischen. Alex würde sich dann zwar "frei entscheiden" können, müsste aber mit weitreichenden Folgen durch das Unterlassen leben.

 

Der Artikel aus der FAZ ist leider unterste Schublade.

Geschlechtsidentität wird mit Sexualität gleichgestellt und damit das Gespenst der "Sexualisierung" von Kindern beschworen. Nicht, dass es das nicht gäbe, aber es hat ebensowenig mit Transsexualität zu tun wie Sie und ich in unserem täglichen Leben als Mann und Frau permanent "sexuell aktiv" wären.

Kinder wissen sehr wohl, ob sie Junge oder Mädchen sind, das hat nichts mit Sexualisierung zu tun. Transidente Kinder stellen einen Unterschied zwischen ihrem Wissen und ihrem Körper fest, sie denken nicht an Geschlechtsverkehr.

 

MfG

Gil

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Lieber  Prof. Dr. Henning Ernst Müller  

 

"Alex steht in diesem Fall......"

Es wäre schön, wenn das nicht der Fall  wäre.

Aber das ist keine Ansicht ,sondern einfach eine Tatsache!

Transsexualität hat eben auch eine Politisch/Weltanschauliche Dimension. Die Rechte von Transsexuellen sind was ihrer medizinische Behandlung angeht schon lange verbesserungswürdig. (wieviel mehr bei Kindern)

Die deutschen Behandlungs-Standarts bleiben schon seit Jahren hinter den internationalen Standarts zurück,ja sie sind durch die aktuell geltenden MDS-Richtlinien an denen DR. Beier mitschrieb sogar verschärft worden.

Erst kürzlich hat der Europäische Gerichtshof die Schweizer Behandlungsrichtlinien die sich im wesentlichen an diese "Deutschen Standarts" anlehnten als Menschenrechtsverletzung außer Kraft gesetzt.

Schauen sie sich einmal die Medienberichte über Transsexualität allgemein oder bei Kindern an( Kim)

Transsexualität ist und bleibt ein Politikum.

Ob wünschenswert oder nicht ,wie wollen sie das ausblenden?

 

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Wenn ich all das hier lese und die "Sache'" an sich für mich reflektiere, (schließlich leben wir im Jahre 2012 und nicht achtzehnhundertirgendwas oder gar im Mittelalter) dann wird mir erschreckend bewusst, warum ich vor ca. 50 Jahren Angst hatte, über meine gefühlte Geschlechtsidentität zu sprechen...

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Die zur Pubertätsverzögerung eingesetzten Medikamente sind in der Tat auch Hormone, aber eben gerade keine Sexualhormone, die irreversible Wirkungen hätten.

 

Nach der Lektüre des Urteils erscheint es mir so, als wenn der ganze Streit um Alexandra vor allem darauf basiert, daß eine objektive Aufklärung durch fachlich kompetente Endokrinologen (Psychiater können eine solche Aufklärung nicht leisten, obwohl sie es manchmal behaupten!) über die pubertätsverzögernde Behandlung mitsamt Risiken und möglichen Nebenwirkungen bislang schlicht unterlassen wurde.

 

Möglicherweise könnte eine ausführliche Beratung aller Betroffenen (Kind, Vater, Mutter, Pflegerin) bei einem mit der pubertätsverzögernden Behandlung vertrauten Kinderendokrinologen die aus dem Urteil erkennbaren Ängste abbauen helfen und am Ende eine Auflösung der erhärteten Fronten bewirken.

 

Dem Kind, das hier sonst zum Opfer widersprüchlicher "wissenschaftlicher" Ansichten wird, kann man es nur wünschen.

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Der Artikel in der FAZ ist ja mal richtig schlecht. Mal abgesehen davon, dass aufgrund der Schreibweise für jeden ganz klar ersichtlich ist, welche Meinung der Schreiber des Artikels selbst vertritt... es gibt keine Geschlechtsumwandlung! Wenn schon dieser Begriff völlig falsch recherchiert worden ist, dann wundert einen die allgemeine Meinungsmache in diesem Artikel nicht weiter...

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Man sollte vielleicht auch einmal losgelöst von der Frage der Transsexualität die Vorgaben des BVerfG für Sorgerechtsverfahren im Allgemeinen berücksichtigen. Hierüber kann sich ein jeder nach Veröffentlichung des Beschlusses des KG seine eigenen Gedanken machen:

 

BVerfG, 1 BvR 374-09 vom 29-01-2010 zum allgemeinen Verfahren

„Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in die Verantwortung der Eltern gelegt, wobei dieses „natürliche Recht“ den Eltern nicht vom Staate verliehen worden ist, sondern von diesem als vorgegebenes Recht anerkannt wird. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen (BVerfGE 60, 79 <88>). Diese primäre Entscheidungszuständigkeit der Eltern beruht auf der Erwägung, dass die Interessen des Kindes am besten von den Eltern wahrgenommen werden. Dabei wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben getroffenen Erziehungsentscheidung vielleicht vermieden werden könnten (BVerfGE 34, 165 <184>). In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein (BVerfGE 60, 79 <88> m.w.N.). Der Schutz des Elternrechts, das Vater und Mutter gleichermaßen zukommt, erstreckt sich auf die wesentlichen Elemente des Sorgerechts (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). 

...

Voraussetzung der Entziehung der elterlichen Sorge ist gemäß § 1666 BGB eine Gefährdung des Kindeswohls, also ein bereits eingetretener Schaden des Kindes oder eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“

 

BVerfG, 1 BvR 1248-09 vom 10-09-2009 zu erforderlichen Gutachten

Zwar muss in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem erkennenden Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 <62>). Das Verfahren muss aber grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Die Fachgerichte sind danach verfassungsrechtlich nicht stets gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>). Wenn sie aber von der Beiziehung eines Sachverständigen absehen, müssen sie anderweit über eine möglichst zuverlässige Entscheidungsgrundlage verfügen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. Januar 2006 - 1 BvR 526/04 -, juris; BVerfGK 9, 274 <279>).“

 

BVerfG, 1 BvR 311-08 vom 27-06-2008 zum KIndeswillen

Im Sorgerechtsverfahren ist der Wille des Kindes zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist (vgl. BVerfGE 55, 171 <182>).

Jede gerichtliche Lösung eines Konflikts zwischen den Eltern, die sich auf die Zukunft des Kindes auswirkt, muss nicht nur auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein, sondern das Kind auch in seiner Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigen, weil die sorgerechtliche Regelung entscheidenden Einfluss auf das weitere Leben des Kindes nimmt und es daher unmittelbar betrifft (vgl. BVerfGE 37, 217 <252>; 55, 171 <179>). Hierzu gehört, dass der vom Kind aufgrund seines persönlichen Empfindens und seiner eigenen Meinung geäußerte Wille als Ausübung seines Rechts auf Selbstbestimmung bei der Entscheidung über sein zukünftiges Verbleiben bei einem Elternteil hinreichend Berücksichtigung findet.

Hat der Kindeswille bei einem Kleinkind noch eher geringes Gewicht, weil das Kind noch nicht in der Lage ist, sich einen eigenen Willen zu bilden, so kommt ihm mit zunehmendem Alter und Einsichtsfähigkeit des Kindes vermehrt Bedeutung zu (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. September 2006 - 1 BvR 1827/06 -, FamRZ 2007, S. 105 <106>, und vom 23. März 2007 - 1 BvR 156/07 -, FamRZ 2007, S. 1078 <1079>). Nur dadurch, dass der wachsenden Fähigkeit eines Kindes zu eigener Willensbildung und selbständigem Handeln Rechnung getragen wird, kann das auch mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verfolgte Ziel, dass ein Kind sich durch Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit entwickeln kann (vgl. BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 1. April 2008 - 1 BvR 1620/04 -, FamRZ 2008, S. 845 <848>), erreicht werden.“

 
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Danke für die vielen neuen Beiträge und Infos.

Zitat H.E. Müller:
"Sollte das Jugendamt tatsächlich eine stationäre Unterbringung gegen den Willen des Kindes durchführen wollen, dann wird darüber wiederum eine gerichtliche Entscheidung notwendig. Und dann sind andere Maßstäbe anzulegen"

Aber was ist, wenn das Jugendamt (bzw. die Charité) von der stationären Therapie absieht? Dann könnten wiederum ohne jegliches Gutachten Entscheidungen über den Willen des Kindes hinweg getroffen werden. Ich hatt oben bereits kritisiert, dass offen nur der Freiheitsentzug als schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte gesehen wird. Wie gesagt, ich finde, das ist der Sache nicht angemessen.

Ich empfinde auch die beiden Aussagen H.E. Müllers nicht wirklich konsistent:
1. "Allerdings lässt sich im Beschluss eine Bestätigung der Richtungswahl des Jugendamts herauslesen."
2. "Ausdrücklich hat das KG NICHT über eine konkrete gesundheitliche Maßnahme entschieden."

Im Beschluss werden die vom Jugendamt eingeleiteten konkreten medizinischen Maßnahmen durchaus gewürdigt:

• "(…) ein Handeln “zu Lasten des Kindeswohls” ist keinesfalls erkennbar. Vielmehr hat die Ergänzungspflegerin sich nach Lage der Akten mit der gebotenen Sorgfalt der Besonderheiten des ihr übertragenen Falles angenommen. Eine konkrete Maßnahme, die dem Kindeswohl zuwiderliefe, ist von ihr nicht ergriffen worden. Das gilt auch für die angestrebte stationäre Diagnostik."

• "Während für die Kindesmutter die Transsexualität des Kindes nicht in Frage steht und sie angesichts der bevorstehenden Pubertät eine Hormonbehandlung befürwortet, lehnt der Vater einen solchen Eingriff derzeit ab und möchte Entscheidungen über irreversible Eingriffe in die Sexualität des Kindes zurückstellen und dem Kind nach Eintritt der Volljährigkeit selbst überlassen."

• "Zu Unrecht geht die Kindesmutter davon aus, dass die abzuwehrende Kindeswohlgefährdung durch die mögliche Transsexualität des Kindes begründet wird. Diese ist auch weder von dem Jugendamt noch dem Amtsgericht oder einem anderen Beteiligten als Begründung für den Entzug der Gesundheitsfürsorge angeführt worden, weshalb die entsprechenden wiederholten Angriffe der Kindesmutter gegen eine solche Gleichsetzung von Transsexualität mit Kindeswohlgefährdung an der Sache vorbeigehen."

Wenn das Kammergericht nicht anerkennt, dass die mögliche Transsexualität das Kindeswohl gefähdet, zeigt es damit seine Ignoranz gegenüber dem Problem, dass bereits die Pubertät ein "irreversibler Eingriff" ist. Aus diesem Unverständnis heraus kann das Gericht die Meinungen des Vaters und der Mutter gegeneinader ausspielen - siehe mein zweites Zitat aus dem Beschluss. Die dritte Möglichkeit einer reversiblen Therapie wird gar nicht erst erwogen. Das könnte in gewisser Weise durch die Mutter selbst verschuldet sein, da es hier so dargestellt wird, als wolle die Mutter durch eine irreversible Hormontherapie bereits Fakten schaffen. Diese Sichtweise erscheint mir jedoch nicht plausibel, da sich wohl kaum Ärzte finden ließen, die solche eine Therapie durchführen würden. Eher habe ich den Eindruck, dass das Gericht die medizinischen Sachverhalte nicht verstanden hat.

Das Gericht hätte darauf erkennen können, dass das Jugendamt durch mangelnde Sorgfalt bei der angestrebten Diagnostik das Kindeswohl missachtet. Auch wenn es lediglich über den Antrag auf Rückübertragung der Gesundheitsfürsorge zu entscheiden hatte, wäre meines Erachtens eine andere Entscheidung möglich gewesen.

Der FAZ-Artikel zur Pubertätsblockade kritisiert nur die Extremtherapie à la Norman Spack, eine Therapie wie von Frau Richter-Appelt im taz-Interview beschrieben wird gar nicht diskutiert.

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Des Weiteren der BGH zu Kindschaftsverfahren mit Beschluss vom 26.10.2011, XII ZB 247/11:

 

„Nach der Rechtsprechung des Senats ist Voraussetzung für ein Ein- greifen des Familiengerichts eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (Senatsbeschlüsse BGHZ 184, 269 = FamRZ 2010, 720 Rn. 19 und vom 15. Dezember 2004 - XII ZB 166/03 - FamRZ 2005, 344, 345 mwN). Als gewichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls hat der Senat die Erziehungseignung der Eltern, die Bindungen des Kindes, die Prinzipien der Förderung und der Kontinuität sowie die Beachtung des Kindeswillens ange- führt (Senatsbeschlüsse BGHZ 185, 272 = FamRZ 2010, 1060 Rn. 19 und vom 6. Dezember 1989 - IVb ZB 66/88 - FamRZ 1990, 392, 393 mN, jeweils zu § 1671 BGB). 

...

§ 1666 Abs. 1 BGB setzt weiterhin voraus, dass die vom Familiengericht zu treffenden Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Die Erforderlichkeit der Maßnahme ist Bestandteil der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne und wird in Bezug auf Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, durch § 1666 a Abs. 1 Satz 1 BGB dahin konkretisiert, dass der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (vgl. Art. 6 Abs. 3 GG).

aa) Vor einer - teilweisen - Entziehung des Sorgerechts hat das Familiengericht zu überprüfen, ob mildere Mittel zur Verfügung stehen, um der Gefährdung entgegenzuwirken. Dies gebietet nicht nur das Kindeswohl und der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG, sondern auch das durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht, in das nur so weit eingegriffen werden darf, als es wegen der konkreten Gefährdung des Kindeswohls unerlässlich ist.

...

bb) Die Erforderlichkeit einer gerichtlichen Sorgerechtsentziehung nach § 1666 BGB schließt es ferner mit ein, dass die konkrete Maßnahme geeignet ist, um die Gefahr für das Kindeswohl zu beseitigen (Senatsbeschluss vom 12. März 1986 - IVb ZB 87/85 - NJW-RR 1986, 1264, 1265; Staudinger/Coester BGB [2009] § 1666 Rn. 212). An der Eignung fehlt es nicht nur, wenn die Maßnahme die Gefährdung des Kindeswohls nicht beseitigen kann. Vielmehr ist die Maßnahme auch dann ungeeignet, wenn sie mit anderweitigen Beeinträchtigungen des Kindeswohls einhergeht und diese durch die Beseitigung der fest- gestellten Gefahr nicht aufgewogen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Juli 1984 - IVb ZB 73/83 - FamRZ 1985, 169, 171 - zu § 1671 BGB - OLG Hamm FamRZ 2007, 1677; BayObLG FamRZ 1998, 1044; Staudinger/Coester BGB [2009] § 1666 Rn. 212 mwN; vgl. auch Gottschalk FPR 2007, 308, 309 f.). Selbst wenn demnach die Maßnahme als solche für die Belange, in denen das Kindeswohl gefährdet ist, die erwünschten Wirkungen entfaltet, ist sie dennoch ungeeignet, wenn sie in anderen Belangen des Kindeswohls wiederum eine Gefährdungslage schafft und deswegen in der Gesamtbetrachtung zu keiner Verbesserung der Situation des gefährdeten Kindes führt.

...

Darüber hinaus gelten in kindschaftsrechtlichen Familiensachen und insbesondere in Verfahren betreffend die Entziehung der elterlichen Sorge gemäß § 1666 BGB besondere Anforderungen an die tatrichterliche Sachaufklärung (Senatsbeschluss BGHZ 184, 269 = FamRZ 2010, 720 Rn. 29 mwN - auch für das Folgende). Denn die verfassungsrechtliche Dimension von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG beeinflusst auch das Verfahrensrecht und seine Handhabung im Kindschaftsverfahren. Das gerichtliche Verfahren muss in seiner Ausgestaltung dem Gebot effektiven Grundrechtsschutzes entsprechen, weshalb insbesondere die zur Verfügung stehenden Aufklärungs- und Prüfungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden müssen (BVerfG FamRZ 2009, 399, 400; FamRZ 2002, 1021, 1023). Das bedeutet nicht nur, dass die Verfahrensgestaltung den Eltern- rechten Rechnung tragen muss. Vielmehr steht das Verfahrensrecht auch unter dem Primat des Kindeswohls, zu dessen Schutz der Staat im Rahmen seines Wächteramtes gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet ist. Die Gerichte müssen ihr Verfahren so gestalten, dass sie möglichst zuverlässig die Grundla- ge einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen können (BVerfG FamRZ 2009, 399, 400).“

 
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Eine paar kurze Fragen an die Juristen und Juristinnen hier:

 

1 ) Nehmen wir an, Alex möchte einfach in Ruhe gelassen werden und entscheidet sich für Pubertätsblocker, möchte von den Charite-Leuten in Ruhe gelassen werden usw. was kann sie tun? Oder mit anderen Worten, wie schafft es Alex dass ihr Wille mehr berücksichtigt wird?

 

2) Ich kenn mich mit den Verfahrensachen nicht aus, aber: soweit mir bekannt ist, müsste doch in so einem Verfahren ein Verfahrensbeistand genommen(?) werden. Wenn ich das richtig verstehe ist ein Verfahrensbeistand  eigentlich etwas anderes als eine Ergänzungspflegerin. Wenn ich das, was ich jetzt mal nachgelesen habe richtig deute ist der Verfahrensbeistand vor allem dazu da, die Interessen des Kindes in das Verfahren zu transportieren und dass sich Interessen (jeweils immer unterschiedlich von Fall zu Fall) auf Wille und Wohl des Kindes beziehen.

Warum kein Verfahrensbeistand genommen wurde ist mir erst mal vollkommen unverständlich und macht bei mir eher Skepsis. Und ich habe gar keine Lust in Richtung Verschwörungstheorie zu kucken. Ich nehme aber an, dass es in dem Verfahren eher auch darum ging, genehme Ansichten zu zulassen. Ok, sorry, aber die Frage ist: ein Verfahrensbeistand ist doch nicht das Gleiche wie eine Ergänzungspflegerin, oder?

 

Grüße Arno

 

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@Stephan,

Sie schreiben:

Wenn das Kammergericht nicht anerkennt, dass die mögliche Transsexualität das Kindeswohl gefähdet, zeigt es damit seine Ignoranz gegenüber dem Problem, dass bereits die Pubertät ein "irreversibler Eingriff" ist

Ein "Eingriff" ist die Pubertät eben nicht, sondern nur der weitere Verlauf der "natürlichen" Entwicklung. Einen Anspruch darauf, von der Pubertät verschont zu werden, gibt es nicht. Es sei denn, die Pubertät wird quasi als Krankheit definiert.

In den Darstellungen auf den diversen Transgender-Foren ergibt sich ein gewisser Widerspruch insofern, als die Transidentität einerseits als schlichtes Anderssein, aber keineswegs als pathologischer Zustand verstanden werden soll (dem würde ich zustimmen), andererseits aber medikamentöse Eingriffe (auch Pubertätsblocker sind dies) als notwendig angenommen werden sollen. Dann wird der Gegenmeinung einerseits vorgeworfen, sie "pathologisiere" einen Zustand, andererseits wird eine Medikation verlangt... Einem Kind aber seitens des Staates Pubertätsblocker zu verabreichen, setzt eine Notwendigkeit voraus. Diese muss eingehend geprüft werden. Hier kann man dem Gericht allerdings vorwerfen, sich nicht genauer inhaltlich mit den verschiedenen Optionen befasst zu haben.

Aus diesem Unverständnis heraus kann das Gericht die Meinungen des Vaters und der Mutter gegeneinader ausspielen - siehe mein zweites Zitat aus dem Beschluss.

Da steckt möglicherweise eine Wahrheit drin, die Reversibilität der Pubertätsblocker (und ihre weitgehende Freiheit von Nebenwirkungen) wird im Beschluss gar nicht erörtert. Insofern fällt das Gericht seine Entscheidung auf halbgarer Tatsachenbasis, ebenso wenig wird die Aktualität der Diagnose/Therapie der Psychiatrie in der Charite auf den Prüfstand gestellt.

Staat (Jugendamt) und Gericht  haben allerdings überhaupt nur etwas zu sagen, weil sich Vater und Mutter nicht einig sind. 

Es ist alles ein großes Dilemma und es wird auf dem Rücken des Kindes ausgetragen.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Lieber  Prof. Dr. Henning Ernst Müller

 

Wenn auf diversen Foren von phatologisierung die Rede ist wird da Psychophtologisierung gemeint.

Selbstverständlich hat Transsexualität Krankheitswert

Laufen sie mal mit einem Weiblichen Körper rum und werden auch so eingeordnet.

Genau darunter leiden diese Menschen doch!

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Herr Müller,

beim Verfolgen der angesprochenen Diskussion sollten sie beachten, dass Transsexualität nicht psychisch Krank ist, so wie es derzeit mit dem Diagnoseschlüssel ICD F64.x (Persönlichkeitstörungen) suggeriert wird.

Akzeptiert man ein transsexuelles Mädchen als Mädchen, ergeben sich entsprechend andere Diagnoseschlüssel um eine Maskulinisierung zu verhindern. Oder, falls bereits erfolgt, weitestgehend rückgängig zu machen. Zum Beispiel Hirsutismus.

Die Angst bei der widersprechenden Partei ist, dass dies nicht anerkannt wird.

Ein Kompromiss ist die Einführung eines Diagnoseschlüssels unter Q - Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien

Da sogenannte Transsexualität meist auch auf andere Diagnosen trifft, wäre das fast egal. Transsexualität entsteht eigentlich fast immer in Zusammenhang mit einer unterkannten Intersexualität (wie übrigens auch Asperger). Durch die "Pschyologisierung" wird dieser Aspekt allerdings seltener beim Individuum untersucht.

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BadHairDays schrieb:

Herr Müller,

beim Verfolgen der angesprochenen Diskussion sollten sie beachten, dass Transsexualität nicht psychisch Krank ist, so wie es derzeit mit dem Diagnoseschlüssel ICD F64.x (Persönlichkeitstörungen) suggeriert wird.

Akzeptiert man ein transsexuelles Mädchen als Mädchen, ergeben sich entsprechend andere Diagnoseschlüssel um eine Maskulinisierung zu verhindern. ...

 

Hallo BadHairDays,

 

vom Grundgedanken kann ich Deine Ausführungen nicht nur nachvollziehen, sondern bin sogar vollends Deiner Meinung. Jedoch muss ein Gericht von der aktuellen Rechtslage ausgehen und dem, was im Gesetzestext vorgegeben ist. Und dort wird Transidentität noch als psychische Krankheit dargelegt (ich definieres es als, dass wir dort ganz klar als Geisteskranke definiert werden). Auch die WHO fährt ja noch auf dieser Schiene.

 

Es ist zwar auf dem Weg, TI/TS als körperliche Krankheit auszuweisen. Aber bis zur Vollendung dessen ist es noch ein langer Weg und ich befürchte, es wird noch Jahre dauern. Und was die deutschen gesetzgebenden Organe betrifft, befürchte ich sogar das Schlimmste. Denn im Bezug auf Änderungen im TSG lassen die sich ja gerne auch mal 20 Jahre Zeit, obwohl das Bundesverfassungsgericht entsprechende Teile des TSG schon eben genau diese 20 Jahre zuvor gerügt und für nichtig erklärt hatte. (Mal abwarten, wie lange die Gesetzesänderung jetzt bei den am 11.01. letzten Jahres vom BVG für nichtig erklärten Teile dauert. Ich hoffe, ich erlebe die Änderung bzw wahrscheinlich Streichung noch und sterbe nicht zwischenzeitlich an Altersschwäche.)

 

Gruß

Kira-Bianca

Herr Dr. Müller

"Offenbar sind die Beteiligten (anders als Sie) nicht schon alle davon überzeugt, dass das Kind "transidentisch" ist. Auch darüber hat das KG keine Entscheidung getroffen."

 

Ich halte es füe sehr problematisch, dass das KG von einer "möglichen induzierten Transsexualität" ausgeht, einer Diagnose die es so nicht gibt.

Es hat einen sehr faden Beigeschmack nach "weil nicht sein kann was nicht sein darf".

 

"Ein "Eingriff" ist die Pubertät eben nicht, sondern nur der weitere Verlauf der "natürlichen" Entwicklung. Einen Anspruch darauf, von der Pubertät verschont zu werden, gibt es nicht. Es sei denn, die Pubertät wird quasi als Krankheit definiert."

Bitte begehen Sie keinen naturalistischen Fehlschluss.

Es gibt auch keinen Anspruch vom Alter verschont zu werden, trotzdem lehnen Sie sicher den Einsatz von Mitteln um dessen Auswirkungen zu mindern nicht ab.

Die Pubertät verlaufen zu lassen, wie sie es tut ist ein nicht-Handeln. Man könnte es auch spitz als unterlassene Hilfeleistung bezeichnen.

Sie schafft unwiderrufliche Tatsachen, die transidente Personen später sehr belasten.

Wir korrigieren in unserer heutigen Welt sehr viel an uns, an unseren Kindern. Wir akzeptieren nicht länger, dass etwas einfach so "natürlich" ist. Abstehende Ohren, Cyrano de Bergerac-Nasen und schiefe Zähne (hier gibt es Ausnahmen) sind keine Krankheit, trotzdem akzeptieren wir ihre Korrektur auch bei Kindern und Jugendlichen um ihnen ein möglichst gutes Leben ohne Scham und Hänseleien zu ermöglichen.

Es ist weder schlecht Mann zu sein noch Frau zu sein, aber das eine zu fühlen und das andere zu sehen, das ist eine Spannung die Menschen belastet und kaputt macht.

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Einige wenige Zitate:

 

Beier, Sexualmedizin, Ausgabe 2005, unter 8.11.4:

„Folgende psychotherapeutische Settings haben sich als hilfreich erwiesen (Zucker & Bradley 1995), wobei eine gewisse Methodenpluralität und ein work in progress unumgänglich ist: 

 

Einzeltherapie: Ein Therapeut gleichen Geschlechts, der zugleich Rollenmodellcharakter bekommt, sollte eingesetzt werden. Die Therapie bezieht sich auf gemeinsame Spiel- (Zeichen-, Gesprächs-)aktivität, wobei geschlechtskonforme Verhaltensangebote gemacht und adäquate Verhaltensweisen belohnt werden (z.B. durch modifizierte token economy). Geschlechtsatypische Verhaltensweisen werden nicht beachtet bzw. - beiläufig - unterbunden (jedoch nicht sanktioniert).“

 

http://www.dijg.de/transsexualitaet-geschlechtsumwandlung/geschlechtsidentitaetsstoerungen-kinder/

„...

„Wir stimmen generell der Auffassung zu: Je früher eine Therapie beginnt, desto besser.“1 

„Unsere Erfahrung zeigt, dass zahlreichen Kindern und ihren Familien ein großes Maß an Veränderung gelingt. In diesen Fällen lässt sich die Störung der Geschlechtsidentität vollständig beheben und nichts im weiteren Verhalten oder den Fantasien der Kinder weist darauf hin, dass das Thema Geschlechtsidentität noch ein Problem wäre. (…) Alles in allem vertreten wir die Auffassung, dass Ärzte in diesen Fällen optimistisch sein sollten, nicht nihilistisch, wenn es darum geht, Kindern mehr Stabilität in ihrer Geschlechtsidentität zu geben.“2

1    Zucker, Kenneth and Susan Bradley (1995), Gender Identity Disorder and Psychosexual Problems in Children and Adolescents (Geschlechtsidentitätsstörungen und psychosexuelle Probleme in Kindheit und Adoleszenz). N.Y.: Guilford Press, S. 281. 

2    Zucker, K. et al, ebd. S. 282.“

 

Zu dem Verein dijg gab es eine Anfrage der Grünen im Jahr 2008 an die Bundesregierung unter dem Stichwort: Antihomosexuelle Seminare und pseudowissenschaftliche Therapieangebote religiöser Fundamentalisten (BT 16/8022). Die weiteren Seiten zu lesen, lohnt sich durchaus, um ggf. zu verstehen, worum es hier geht. 

Und das Kammergericht hält die Ausführungen der Pflegerin die eine Behandlung in der Charité (Leiter Sexualmedizin s.o.) wünscht für überzeugend. Naja...und alles ohne Gutachten und auf Empfehlung einer Pflegerin die das Kind eine Stunde gesehen hat.

 
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Nur mal so als Erinnerung vor welchem Hintergrund so ein Prozess abläuft:

 

Samstag, 01. Oktober 2011 um 14:45

Am 28. September schloss sich das Parlament der Europäischen Union einer Resolution der Vereinten Nationen vom 17. Juni  an, transsexuelle Menschen nicht länger als psychisch gestört zu betrachten und forderte einen umfassenden Diskriminierungsschutz.

16. fordert die Kommission die Weltgesundheitsorganisation auf, Störungen der Geschlechtsidentität von der Liste der psychischen und Verhaltensstörungen zu streichen und in den Verhandlungen über die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) eine nicht pathologisierende Neueinstufung sicherzustellen;

Deutschland hat dort übrigends zugestimmt....

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@Dea und vielen Anderen:

 

Die Diskussion wird hier vielfach auf falscher Ebene geführt. Denn wie auch Herr Prof. Dr. Henning Ernst Müller schon mehrfach angemerkt hat, ging es bei der Verhandlung und dem Urteil des Kammergerichts "nur" um die Zuständigkeit der Gesundheitsfürsorge für Alexandra und wer sie bekommt.

 

Wie ich ja schon früher hier angemerkt habe, bin auch ich der Merinung, das Kammergericht hätte in diesem Fall Gutachten über die (mögliche) Transidentität des Kindes einholen müssen, um zu einem objektiven Urteil kommen zu können. Aber das betrifft ein keiner Weise die Transidentität Alexandras und eine ggf. nötige Behandlung an sich. Sondern nur den Aspekt, dass Jugendamt und Vater eine mögliche Transiidentität verleugnen und im Falle dessen, dass das Kind doch transident ist (was wirklich mehr wie nur anzunehmen ist), keinesfalls die Gesundheitsfürsorge hätten zugesprochen bekommen dürfen.

Deshalb sind hier Beiträge, die sich allgemein auf TI/TS beziehen, fehl am Platze. Denn das Gericht hatte nicht zu entscheiden, ob und wo das Kind behandelt wird, sondern nur, wer die Verfügungsgewalt einer möglichen Behandlung erhält. (und mit schönen Gruß ans Jugendamt Berlin Steglitz-Zehlendorf: ... und im Umkehrschluss die Pflicht erhält, sich um das gesundheitliche Wohl des Kindes zu kümmern und dieses nicht VORSÄTZLICH durch Verweigerung nötiger Behandlungen in Form von ambulanter Therapie gefährdet!) Bei dem in Klammern gesetzten Punkt hat das Kammergericht Berlin leider eine eingehende Prüfung unterlassen!

Ich frage mich, worin das Kammergericht eine Kindeswohlgefährdung als Voraussetzung der Entziehung der elterlichen Sorge sieht. Man könnte vermuten, dass die Kindeswohlgefährdung daraus folgt, dass die - wenn auch fernliegende - Möglichkeit einer induzierten Transsexualität besteht.

Die - wenn auch fernliegende - Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung dürfte aber wohl für einen Eingriff nach § 1666 BGB nicht ausreichen. Insofern hätte doch nahegelegen, ein Gutachten über die möglicherweise induzierte "Krankheit" einzuholen. Nur dann kann man von einer Kindeswohlgefährdung ausgehen und nur dann könnten der Kindesmutter irgendwelche Vorwürfe gemacht werden.

 

 

 

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Auch diese Resolution des Europäischen Parlaments lag dem KG vor. Erwähnung im Beschluss? Fehlanzeuge.

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Vielleicht sollte ich noch einmal darauf hinweisen, dass die Formulierung "irreversibler Eingriff" (für Pubertät) meine eigene - etwas unbeholfene - Formulierung war, und und eine Diskussion darüber wenig bringt (außer dass ich Besserung gelobe). "Irreversibler Prozess" wäre die besser Formulierung gewesen. Das hätte man aber  erschließen können.

 

Wir sind uns alle offenbar darin einig, dass hier ein  Dilemma vorliegt, dem das Gericht nicht ansatzweise gewachsen ist (intellektuell oder moralisch).

 

Dass das Jugendamt sich auf eine Klinik festlegt, wirkt auch nicht gerade professionell, eher wie ein Glaubensbekenntnis - und schon gar nicht deeskalierend. 

 

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Statt "Dilemma" wäre vielleicht der Begrifff "Herausforderung" besser.

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@Gast

Haben sie etwas anderes von einer überwiegend konsrativen Richterschaft erwartet?

Mann wirft den Transsexuellen -Verbänden vor dieses Kind zu instrumetalisieren. Falsch ! Das Kind wird bereits instrumentalisiert und zwar von weltanschaulichen geprägten Gesellschaftsgruppen die es psychisch Pahtologisiert um dann eine "Heilung" als Kindeswohl auszugeben...

Das Kind wurde ja vom Gericht nicht einmal befragt. Diese Art von Entmündigung haben auch die meisten erwachsenen Transsexuellen erfahren müssen.Ihr Leidensdruck ist so hoch das sie das Spiel Jahrzehnte lang mitgemacht haben und es immernoch mitmachen weil ihnen die Zeit und die
Kraft dazu fehlt ihre Rechte einzufordern (In einigen Ländern gehen Transsexuelle auf den Strich damit sie zu ihrer OP kommen ,hier heist der Strich eben Psychatrie..)

Die einzig vernüftige Person in diesem Theaterstück scheint mir die Kindesmutter zu sein. 

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Das macht doch keinen Unterschied? Die Konsequenzen dieser Entscheidung waren bekannt und flossen in die Überlegungen mit ein, wie es aus der Urteilsbegründung hervorgeht. Genaugenommen musste einiges "hingedreht" werden, damit diese Konsequenz überhaupt herbei geführt werden konnte.

 

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@BadHairDays:

Das macht sehr wohl einen großen Unterschied. Denn das Gericht konnte weder darüber verfügen, ob Alexandra behandelt wird, noch wo sie im Falle einer Behandlung therapiert wird. In dem Prozess ging es einzig und allein um die Verfügungsgewalt ihrer Gesundheitsfürsorge. Und somit konte das Gericht auch nur über diese Fürsorge entscheiden, aber nicht über eine Behandlung. Denn die Behandlung ist Sache derer oder der Einzelperson, die eben genau diese Verfügungsgewalt der Gesundheitsfürsorge inne haben.

@Dea:

In Deiner Äußerung sehe ich einen Angriff auf mich und das in Frage stellen meiner Loyalität zu Alexandra. Da solltest Du Dir vielleicht einmal meine Beiträge weiter oben in dieser Diskussion ansehen. Ich habe dort, und nicht nur dort, sondern heute auch vielerorts anderswo in Foren, mehrfach einen bei mir nicht mehr vorhandenen Glauben an die Rechtsstaatlichkeit in Deutschland bekundet und Vergleiche zur damaligen DDR und den Jugendwerkhöfen dieses Regimes gezogen.

 

Man kann dem Berliner Kammergericht eine ganze Menge vorwerfen, was dieses nicht nur in meinen Augen Skandalurteil betrifft. Aber ein Versäumnis, weil sie die Behandlung von Alexandra nicht angeordnet oder diesen Beier-Jugendwerkhof nicht als "Therapie"ort ausgeschlossen haben, kann man ihnen nicht vorwerfen. Denn wegen dieser Sachen wurden sie überhaupt nicht angerufen. Der Antrag von Alexandras Mutter war einzig und allein der, die Gesundheitsfürsorge des Kindes übertragen zu bekommen. Für alles andere in diesem Fall wäre dieses Gericht auch gar nicht zuständig, sondern das ist Sache des Familiengerichts.

 

So für mich ist hier heute Schluss. Ich sitze seit rund 14 Stunden durchgehend am Compi und schreibe in Foren und verfasse Emails. Daher @alle: Gute Nacht!

@Kira-Bianca Hinz

Hast du dich schon mal gefragt warum Gerichte zu solchen Urteilen kommen?
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"Entscheidend ist überdies die Befürchtung, dass es der Mutter

freistünde, für diese Diagnostik zwei medizinische Einrichtungen aufzusuchen, von denen sie aus den bereits gesammelten Erfahrungen annehmen dürfte, dass dort ihr Standpunkt geteilt wird."

 

Ich nehme an das es sich um die beiden voneinander unabhängigen  Kliniken mit einer GIS-Beratung handelt.

Das Gericht unterstellt also das diese Kliniken nur auf Wunsch der Mutter  eine Behandlung einleiten die in ihrem Sinne ist.

Die Mutter sollte sich mit dem Urteil an diese Einrichtungen wenden. Mal sehen ob sie sich gefallen lassen das sie nur Wünsche der Kinder oder Eltern befriedigen,also Gefälligkeitsgutachten Indirekt stehen also diese Institutionen,im Gegensatz zu dr. Beier auf dem Prüfstand. Nein es wird eben angenommen das sie im Sinne der Mutter handeln.

Wenn dieses Urteil nicht tendenziös ist welches dann?

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Entschuldigung, im letzten Posting sind versehentlich zwei Absätze zuviel reingekommen.

Wenn's geht, bitte löschen.

Hier nochmal richtig:

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Interessant, wie wenig substantiiert die Ausführungen des Gerichts zur Rückübertragung der Gesundheitsfürsorge sind:

«Die Übertragung der Gesundheitsfürsorge auf die Mutter allein scheidet schon deshalb aus, weil dem Senat derzeit nicht gesichert erscheint, dass sie diese allein zum Wohle des Kindes ausüben würde. Bereits die Möglichkeit, dass die bereits gelebte Transsexualität von X. auf eine Beeinflussung durch die Mutter zurückzuführen sein könnte, steht dem entgegen. Zwar handelt es sich hierbei derzeit nur um eine nicht auszuschließende Ursache unter mehreren anderen, eine länger zurückliegende ärztliche Einschätzung (…), eine ausführlich begründete Besorgnis der Ergänzungspflegerin XXXX (…) sowie eine Stellungnahme des Jugendamtes (…) zugrunde liegen. Auf der anderen Seite stehen die dem widersprechende ärztliche Stellungnahme von Prof. Y. sowie der Bericht des Universitätsklinikums H. (…) nach denen keine Anzeichen für eine induzierte Transsexualität vorliegen. Betrachtet man aber die Schäden durch einen irreversiblen Eingriff in die Sexualität des Kindes, die drohen, sofern sich eine Induzierung durch die Mutter bestätigen sollte, genügt bereits eine geringe Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Vermutung, um der drohenden Gefahr entgegen zu treten.»

Vage Vermutungen («nicht auszuschließende Ursache»), «eine länger zurückliegende ärztliche Einschätzung (vermutl. die abgebrochene Diagnostik durch die Charité vor sechs Jahren) und Stellungnahmen der Pflegerin/ des Jugendamtes werden ins Feld geführt gegen zwei aktuelle ärztliche Stellungnahmen.

Genauso vage geht es weiter:

«In diesem Zusammenhang kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass nach den gegenwärtig aktenkundigen Anhaltspunkten eine Festlegung der Mutter auf die Transsexualität des Kindes nicht ausgeschlossen werden kann. Es besteht daher die ausreichend konkrete Gefahr, dass sie die Möglichkeit einer anderen Entwicklung, insbesondere die von ärztlicher Seite wiederholt geäußerte Option einer Änderung der geschlechtlichen Ausrichtung des Kindes in der Pubertät, nicht hinreichend berücksichtigt und sich Hinweisen, die nicht ihrer Überzeugung entsprechen, verschließen könnte. Dafür spricht jedenfalls ihre bisherige Haltung, trotz des Entzuges der Gesundheitsfürsorge einerseits eigenmächtig ärztliche Termine für X. zu vereinbaren und wahrzunehmen und auf der anderen Seite die Maßnahmen der Ergänzungspflegerin, die sie nicht befürwortet, zu boykottieren.»

Das die Mutter der Überzeugung ist, ihr Kind sei transsexuell, dürfte für sich genommen nicht ausreichen, eine Gefährdung des Kindeswohls anzunehmen. Dass die Mutter eine «Änderung der geschlechtlichen Ausrichtung» unterbinden würde, wird lediglich unterstellt, ohne dies durch Fakten zu begründen. Die bloße Feststellung, dass die Mutter eigenmächtig Arzt-Termine vereinbart, ist als Begründung ungeeignet, es sei denn, das Gericht möchte pauschal die Kompetenz dieser Ärzte in Frage stellen. Meines Erachtens ist hier auch unbeachtlich, ob die Mutter mit der Ergänzungspflegerin kooperiert. Dies allein rechtfertigt nicht den fortwährenden Entzug der Gesundheitsfürsorge.

Das Gericht lässt sich unter anderem zu folgenden Sticheleien herab:

«Die Kooperation der Kindesmutter mit der Presse lässt zudem die Befürchtung zu, dass sie für die Verfolgung des aus ihrer Sicht einzig richtigen Weges bereit ist zu Mitteln zu greifen, die nicht angemessen sind und nicht dem Kindeswohl gerecht werden. Denn selbst wenn die Berichterstattung (…) nicht von ihr selbst initiiert gewesen ist, hätte es doch nahegelegen, jedenfalls das Kind in seinem eigenen Interesse nicht in ein Interview einzubeziehen, durch das ihm der Streit zwischen den Eltern sowie der Mutter und der Ergänzungspflegerin erneut vor Augen geführt wird. Nicht von der Hand zu weisen ist demnach die Befürchtung des Jugendamts, dass die Mutter X. damit in einen Loyalitätskonflikt bringt und das Kind an sich bindet (…).»

Die Befürchtung des Jugendamts, die Mutter würde das Kind an sich binden wollen, ist geradezu lächerlich. Eher fürchtet es wohl die öffentliche Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass die Mutter ihr Kind in ein Interview einbezieht, dürfte für einen Entzug der Gesundheitsfürsorge kaum ausreichen. Perfiderweise argumentiert das Gericht damit, dass die Mutter damit eine von ihr gewünschte ärztliche Behandlung durchsetzen will. Nicht an einer einzigen Stelle kann das Gericht plausibel darlegen, was an dieser Behandlung so verkehrt sein soll.

Um die Begründung für den Entzug der Gesundheitsfürsorge auf den Punkt zu bringen: Die Mutter hat eine eigene Vorstellung davon, welchen Ärzten sie ihr Kind vorstellt.

Welche Anmaßung der Mutter!

Da dem Vater bereits aus anderem Grund der Gesundheitsfürsorge nicht nachkommen kann (Kind verweigert Kontakt mit Vater), sind meines Erachtens auch die Streitigkeiten zwischen Mutter und Vater nicht mehr ein Hindernis für die alleinige Übertragung auf die Mutter.

Das Gericht macht es offenbar zur Voraussetzung, dass die behandelnden Ärzte einer bestimmten Richtung nicht angehören dürfen:

«Entscheidend ist überdies die Befürchtung, dass es der Mutter freistünde, für diese Diagnostik zwei medizinische Einrichtungen aufzusuchen, von denen sie aus den bereits gesammelten Erfahrungen annehmen dürfte, dass dort ihr Standpunkt geteilt wird. Diese Befürchtung ist keine theoretische Erwägung. Denn die Mutter hat die Absicht geäußert, X. zu diesem Zwecke an den Kliniken in X. und Y. vorzustellen (….), von denen sie weiß, dass dort insbesondere der Verdacht einer induzierten Transsexualität nicht geteilt wird. Eine Begutachtung in B., M. oder K. wird abgelehnt (….). Die Einrichtungen in diesen Städten sind diejenigen, die einer Hormonbehandlung eher kritisch gegenüberstehen. Zutreffend hat daher bereits das Amtsgericht darauf hingewiesen, dass die Kindesmutter demnach keinerlei Bereitschaft erkennen lässt, auch den kritischen Stimmen nachzugehen. Im Gegenteil hat sie auch in der Vergangenheit versucht, auf die Therapie bei Herrn XXXX Einfluss zu nehmen und auf eine hormonelle Behandlung hinzuwirken (…). Selbst wenn es der Mutter trotz dieser Bedenken nicht gelingen sollte, durch zwei Ärzte eine Hormonbehandlung befürworten zu lassen, würde sie umgekehrt möglicherweise auch nichts unternehmen, was die Diagnose der Transsexualität ausräumen oder dem Kind andere Wege eröffnen könnte.»

Der letzte Satz ist ein rabulistisches Meisterwerk.

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Das Kammergericht verlangt von der Mutter, den «kritischen Stimmen nachzugehen», räumt jedoch dem Jugendamt bei der Wahl der Klinik «Ermessensspielraum» ein. Unterschwellig wird der Hamburger Universitätsklinik und anderen eine «unkritische» (und damit offenbar eine das Kindeswohl gefährdende) Haltung unterstellt - d.h. es wäre mit dem Sorgerecht unvereinbar, sich ausschließlich an diese Kliniken zu wenden. Da würde mich mal interessieren, was die hier adressierten Kliniken dazu sagen.

 

«Entscheidend ist überdies die Befürchtung, dass es der Mutter freistünde, für diese Diagnostik zwei medizinische Einrichtungen aufzusuchen [...]»

 

Schon diese Formulierung – herrlich! Wo die Kindeswohlgefährdung liegen soll, wird überhaupt nicht ausgeführt, man liest nur vage Unterstellungen:

 

«Selbst wenn es der Mutter trotz dieser Bedenken nicht gelingen sollte, durch zwei Ärzte eine Hormonbehandlung befürworten zu lassen, würde sie umgekehrt möglicherweise auch nichts unternehmen, was die Diagnose der Transsexualität ausräumen oder dem Kind andere Wege eröffnen könnte»

 

Die Stringenz dieser Argumentation liegt in dem Wörtchen «möglicherweise», irgendwelche zwingenden Gründe werden nicht angeführt. Aus der schlichten Tatsache, dass die Mutter von der «hormonellen» Therapie überzeugt ist und Vergangenheit versucht hat, Ärzte davon zu überzeugen, lässt sich nicht ohne weiteres folgern, dass Sie gegen ärztlichen Rat eigenmächtig in die Therapie eingreift. Das Gericht argumentiert ja gerade so:

 

«Selbst wenn es der Mutter trotz dieser Bedenken nicht gelingen sollte, durch zwei Ärzte eine Hormonbehandlung befürworten zu lassen, würde sie umgekehrt möglicherweise auch nichts unternehmen, was die Diagnose der Transsexualität ausräumen oder dem Kind andere Wege eröffnen könnte.»

 

Wo liegt jetzt die Gefahr?

 

Dass die Mutter, wenn alle Ärzte eine «hormonelle» Therapie ablehnen, eigenmächtig eine solche durchführt???

 

Oder dass sie dann doch ihre magischen induktiven Kräfte wirken lässt, um damit gegen die Pubertät und letztlich erfolgreich die sexuelle Entwicklung anzugehen???

 

Hallo???

 

Meint das Gericht vielleicht, dass die Mutter dem armen Kind, dass sich längst mit der Pubertät und dem neuen Körpergefühl abgefunden hat, Mädchenkleider aufzwingt?

 

 

Gibt es da vielleicht irgendeine Hilfestellung, was sich das Gericht da denkt?

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Wie muss man sich das eigentlich vorstellen, wenn man der Pubertät ihren Lauf lässt? Bekommt das bisherige Mädchen dann eine neue Identität? (Umschulung?)

 

Kira-Bianca Hinz meinte, "Alex" hätte gute Noten und sei Klassensprecherin. Demnach offenbar recht gut integriert. Wie würde es von ihrem Umfeld aufgenommen werden, wenn "sie" sich in einen Jungen "verwandelt"?

 

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Stephan schrieb:

Wie muss man sich das eigentlich vorstellen, wenn man der Pubertät ihren Lauf lässt? Bekommt das bisherige Mädchen dann eine neue Identität? (Umschulung?)

 

Kira-Bianca Hinz meinte, "Alex" hätte gute Noten und sei Klassensprecherin. Demnach offenbar recht gut integriert. Wie würde es von ihrem Umfeld aufgenommen werden, wenn "sie" sich in einen Jungen "verwandelt"?

 

Allein DAS wäre für das Mädchen einfach nur furchtbar! Die ganze Diskussion, ob Alexandra transsexuell ist oder nicht könnte hier beendet werden. Sie fühlt als Mädchen und lebt bisher damit wohl auch sehr glücklich, sie ist integriert. All das würde mit dem Einsetzen der Pubertät zu nichte gemacht werden, vermutlich würde sie sich zurückziehen und es bliebe nur der Weg, sie in eine andere Schule zu schicken. Dort würde sie sehr wahrscheinlich als "weibischer" Junge gehänselt und verspottet werden und aus dem einst glücklichen Mädchen würde unglücklicher "Junge" werden, der  Abseits steht und wahrscheinlich an seinem Leben verzweifeln wird. Was dann aus den schulischen Leistungen würde, kann man sich leicht denken.

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@ Stephan:

Das Gericht bestätigt durch seine Argumentation vor allem, daß es von der Behandlung transsexueller Kinder schlicht und einfach keine Ahnung hat. Und da es sich primär auf den Schriftsatz der Ergänzungspflegerin beruft, scheint auch jene in Bezug auf die Behandlung transsexueller Kinder zumindest nicht ausreichend informiert zu sein, sonst würde sie wissen, daß die von ihr abgelehnten Kliniken keineswegs "mal eben so" eine pubertätsverzögernde Therapie verordnen - schon gar nicht auf bloßes Verlangen der Mutter. Im Gegenteil: Man würde auch dort ein intensives "Agieren" der Mutter höchst skeptisch betrachten.

 

Dieser ganze Fall ist von unrealistischen Ängsten, falschen Vorstellungen und purer Unwissenheit so dermaßen durchzogen, daß von "Kindswohl" schon überhaupt gar keine Rede mehr sein kann. Traurig, was da auf dem Rücken der kleinen Alexandra ausgetragen wird.

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Nachtrag:

Es scheint sich offenbar auch keiner der Verantwortlichen Gedanken darüber zu machen, welche psychischen Krankheiten dem Kind alleine durch das ganze Brimborium "induziert" werden könnten. Eine reaktive Depression wäre vermutlich noch als harmlos zu bezeichnen.

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Ok, es ging "nur" um die Gesundheitsfürsorge.

 

Die daraus folgende Frage ist doch dann aber,

 

darf jemand die Gesundheitsfürsorge bekommen die/der keine Ahnung hat von Transidentität? Oder ich formuliere es mal wie ich es denke: Ist es nicht unfassbar, dass die Gesundheitsfürsorge an jemanden übertragen wird die/der sehr wahrscheinlich die falschen Entscheideungen für ein transidentes Kind fällen wird ?

 

2. Nochmals ein Frage an die Juristen:

Kann ein Richter nicht wegen Befangenheit abgelehnt werden? Ich meine das ernst: Wenn jemand als Richter über die Übertragung oder Rückübertragung der Gesundheitsfürsorge entscheidet, dann muss der doch darüber eine Ahnung haben bzw. differenziert daran gehen, oder?

 

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Sehr geehrte Leser/innen und Kommentator/innen,

ich habe oben zur Frage des § 158 FamFG (Verfahrensbeistand für das betr. Kind) ein neues Update ergänzt.

 

@Arno (#105):

Natürlich können Richter unter bestimmten Voraussetzungen wegen Befangenheit abgelehnt werden, aber nicht mehr, wenn das Verfahren - wie hier - beendet ist. Mangelnde Fachkompetenz ist kein Ablehnungsgrund, denn rechtliche Fachkompetenz wird vorausgesetzt, tatsächliche Fachkompetenz kann sich der Richter von Experten holen. Geschieht dies nicht (maßt sich ein Richter also Kompetenz an, die er offensichtlich nicht hat) , könnte dies evtl. eine Ablehnung begründen. Aber nach dem Ende eines Verfahrens hat dies wie gesagt keine Bedeutung mehr.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Hallo Herr Müller,

danke für die Antworten.

 

Da kommt mir doch direkt die nächste Frage:

 

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist eine Ablehnung jetzt nicht mehr möglich. Ok, verständlich.

- Hätte dann also der Anwalt während des Verfahrens solch einen Befangenheitsantrag stellen können, wenn er aus dessen Meinung nicht umfassend und "differenziert" Experten eingeladne hat.

- Und, das ist mir wichtig zu wissen:

falls es in eine nächste Instanz ginge,

wäre dann eine Begründunsgmöglichkeit eines "Anspruchs" (?)(Antrags) auf eine nächste Instanz, dass es für die Entscheidung auf  Übertragung oder Rückübetragung der Gesundheitsfürsorge bei einem transsexuellen Kind eben grundlegend notwendig ist, dass verschiedene Experten gehört/hinzugezogene werden (weil es eben "existenziell" unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen gibt was die gesundheitliche ENtwicklung von Kindern gibt; oder anders zum Kindeswohl in solch einer Frage gibt es grundlegend unterschiedliche Expertenmeinungen) und dies in der Entscheidung des Kammergerichts nicht berücksichtigt wurde. ??

"Oder anders gesagt: Das grundlegend rechtlich falsche, ich sag das mal als Laie, ist, dass mit der Gesundheitsfürsorge "grob fahrlässig" umgegangen wurde oder das Gericht hat aus ideologischen Gründen nur "eine" Meinung zugelassen und damit das Kindeswohl eventuell gefährdet)

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Ich halte die ganzen Vorwürfe und Unterstellungen gegenüber der Mutter und den anerkannten Facheinrichtungen im Urteil ebenfalls für höchst problematisch.

Als würden sich die Fachleute dort von der Mutter dazu bringen lassen und Pubertätsblocker austeilen wie mein Kinderarzt Nasentropfen. Das sind schon erhebliche Vorwürfe die dort gemacht werden.

Es wird sehr viel über "ungelegte Eier" debatiert (wenn-dann-möglicherweise). Es wird sehr stark ein Focus darauf gelegt was denn wäre wenn Alexandra tatsächlich von ihrer Mutter zur Transsexualität "erzogen würde" (ich möchte erneut anmerken dass zumindest mir keine einschlägigen Fälle bekannt wären in denen dies passiert wäre, sehr wohl aber viele in denen Menschen durch "Umerziehungsmaßnahmen" großen Schaden zugefügt wurde).

Dem entgegengesetzten Szenario, nämlich dem Schaden den Alexandra erleiden würde wenn ihr eine Therapie in einer der annerkannten Spezialkliniken verwehrt wird, wird hingegen wenig bis keine Bedeutung zugemessen.

 

Ja, der Mutter wird vorgeworfen sie sei unkooperativ. Mal eherlich, wenn ich mich in ihre Lage versetzen würde wäre ich das auch. Da sind Menschen, die aufgrund von Inkompetenz oder einer eigenen Agenda versuchen das Kind zwangseinweisen zu lassen, in die Hände von jemandem, der es "umerziehen" will.

Da würde ich mich auch mit Zähnen und Klauen wehren und versuchen jeden Schaden von meinem Kind abzuwenden. Zumal es ja nicht der Fall ist, dass sie medizinische und therapeutische Hilfe ablehnt oder zu irgendwelchen Wunderheilern gehen möchte.

Ich weiß, das war nicht Bestandteil des Verfahrens, aber es ist Bestandteil der Historie.

Und das wirft man ihr vor.

 

Stellen sie sich vor, das Jugendamt würde behaupten das Kind habe möglicherweise Krebs und müsse deshalb stationär diagnostiziert und möglicherweise präventiv mit Chemotherapie behandelt werden. Sie haben 2 Gutachten der renomiertesten Kinderkrebskliniken dass das Kind gesund ist. Nun bekommen sie vorgeworfen sie seien unkooperativ. Schließlich könne nicht mit 100% Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass das Kind keinen Krebs hat! Die Tatasache, dass sie ihrem gesunden Kind keine Chemptherapie zumuten möchten wird ihnen nun als Kooperationsverweigerung zur Last gelegt.

(Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich in meinem Beispiel nicht Transsexualität mit Krebs vergleiche. )

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