Das Dimitrovgrad-Experiment: Facebook in Bulgarien

von Prof. Dr. Thomas Hoeren, veröffentlicht am 09.02.2012

Seit Wochen treibe ich mich nun unter falschem Namen als wohlproportionierte Sonnenbrillenträgerin in Dimitrovgrad (Bulgarien) herum. Natürlich nicht real (die stalinistische gegründete Kleinstadt scheint nicht so attraktiv sein), sondern virtuell bei Facebook als Sybille Epping. Es waren Monate mit wirren Erlebnissen. Binnen zwei Wochen 300 Freunde gesammelt. Fotos geklaut und als eigene ausgegeben. Jungen BulgarInnen beim Flatratsaufen, Cruisen, Bodybuilding, Tätowieren zugeschaut. Meine Timeline umfrisiert und auf bulgarisch getrimmt. Nun ist genug, ich höre auf.

 

Aber ein nachdenklicher Beitrag ist daraus geworden, für die neue Diskursseite des Deutschlandfunks

http://diskurs.dradio.de/2012/02/09/my-friends-from-dimitrovgrad-rechtli...

 

Viel Spass beim Lesen!

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9 Kommentare

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Lieber Herr Dagonet,

das war ein typischer Facebook-Zufall. Aber der entwickelte sich schnell zum Eigenläufer. Dimitrovgrad ist eben ein kleines, recht isoliertes Industriestädtchen mit hoher Freundesdurchdringung - und offensichtlich wenig Privacy-Gefühl. Gruss TH

Lieber Herr Hoeren,

ein interessantes Experiment mit spannenden Ergebnissen und Erörterungen zu Fragen der "Privatheit" und "Öffentlichkeit" im Netz, jedoch frage ich mich auch, inwieweit das Experiment valide für die Facebook-Gemeinschaft ist. Nach meinen Beobachtungen tun viele User Zuckerberg nicht den Gefallen, ihre (gesamte) Biographie wahrheitsgemäß und werbetauglich ins Netz zu stellen. Vielmehr finden sich jede Menge Bruchstücke, Fragmente, Gelogenes, Erfundenes, nur Dargestelltes, Posing, eine bunte Welt, die - wie jeder eigentlich ahnt oder zumindest annehmen muss - eben nur Puzzlestückchen von jeder Persönlichkeit offenbart. Wie viele von "Experimental-Existenzen" und Profilen, die mit dem Medium mehr oder weniger spielerisch umgehen, finden sich in Dimitrovgrad, wie viele in Deutschland?  Auch solche Profile (und die FB-Philosophie "gelöscht wird nix") sind datenschutzrechtlich fragwürdig, auch aus Fragmenten kann man sich etwas zusammenbasteln und auch Puzzlestückchen der eigenen Identität können gestohlen und missbräuchlich genutzt werden. Aber um das zu belegen, ist Dimitrovgrad m.E. nicht das richtige Beispiel. Wie verdient Mark mit diesen von Ihnen geschilderten bulgarischen Profilen eigentlich Geld?

Im Moment finde ich besorgniserregend an FB, dass für Viele FB inzwischen  mit "dem Internet" identisch ist und sie aus dieser FB-Welt gar nicht mehr rauskommen/rauswollen, sich also selbst in der Freiheit beschneiden, nur weil man dort leichter chatten und simsen kann. Langfristig wird dadurch die Freiheit für alle Internet-User begrenzt, weil jeder irgendwie gezwungen ist, an diesem Hype teilzunehmen, will er nicht selbst plötzlich "draußen" sein.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Lieber Herr Müller,

vielen Dank für Ihre sehr spannende, eingehende Replik. In der Tast leben asuch die Kids von Dimitrovgrad von Experimental-Existenzen. Das ist das Gute an Facebook: man kann sich selbst ausprobieren, inszenieren, neu erfinden. Aber FB setzt da in den AGB enge Grenzen. Zum Beispiel scheint mir das dortige Verbot der Pseudonymisierung rechtlich unhaltbar zu sein (siehe das TMG).

Erschreckender war für mich, wie eng der Spielraum für die Selbstinszenierung in Dimitrovgrad ist. Es geht meist nur um Saufen, Parties, Tattoos, große Autos, "Tussen". Nach einigen Wochen kam ich mir wie in "Super Size me"; ich war am Ende angewidert und traurig zugleich ob der Langeweile und Stumpfsinnigkeit dieser Rollenspiele. FB macht übrigens auch in Bulgarien gutes Geld mit "sponsored links" - Sie können mal raten, wofür.

Wenn Sie mal in Facebook sind, schauen Sie mal auf meine Timeline (öffentlich zugänglich); da habe ich meinem Frust Luft gemacht (ohne daß sich ein einziger beschwert hätte; die Timeline wird zumindest in Bulgarien nie genutzt).

Schönes Wochenende Ihr Th

ThomasHoeren schrieb:
Erschreckender war für mich, wie eng der Spielraum für die Selbstinszenierung in Dimitrovgrad ist. Es geht meist nur um Saufen, Parties, Tattoos, große Autos, "Tussen". Nach einigen Wochen kam ich mir wie in "Super Size me"; ich war am Ende angewidert und traurig zugleich ob der Langeweile und Stumpfsinnigkeit dieser Rollenspiele. FB macht übrigens auch in Bulgarien gutes Geld mit "sponsored links" - Sie können mal raten, wofür.

Soziale Netzwerke schneiden Werbung nicht nur auf ihre Nutzer zu, sondern auch umgekehrt.
Zitat eines Werbefachmanns aus einer ARD-Dokumentation zum Thema facebook: "Umso mehr Daten ich habe, umso mehr kann ich Zielgruppen formen." (21:46)
http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/3517136?documentId=9520608

Facebook-Werbung besteht darin, Nutzern eine automatisierte Auswahl der Vorlieben ihrer Freunde zu präsentieren und damit Vorlieben aus dieser durch das Auswahlverfahren definierten Schnittmenge zu wecken. Im Erfolgsfall reagiert der umworbene Nutzer mit einer Rückmeldung, die wiederum analysiert und seinen Freunden mitgeteilt werden kann. Hinsichtlich der abgefragten Vorlieben nähert sich sein Meinungsbild daher der Granularität der Auswahlalgorithmen an.

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Genau richtig zum Rosenmontag. Der Sybille Epping-Account von Herrn Hoeren ist nun allgemein zugänglich - köstlich: die Timeline! Helau WSp

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Auf dieser Seite des DLF-Diskurs hat der angestrebte Dialog stattgefunden. Immerhin für 14 Tage (09-23.Feb., seit dem 0, Stand 07.März) und mit Beteiligung von redakt. Seite. Auf den anderen Seiten des Projekts findet nicht mehr viel statt.

Ich habe diesen Diskurs als Chance gesehen und mich auf den anderen Seiten umfangreich mit zahlreichen Beiträgen eingebracht. Die Resonanz war leider so spärlich, dass ich nach einer üppig bemessenen Wartezeit, die ich den Redakteuren fürs Feedback zugestehen wollte, den Diskurs als gescheitert ansehen musste. Das habe ich dann auch am 03.März dort notiert, was mit einer arroganten Antwort von redaktioneller Seite abgetan wurde, wo eine Entschuldigung und die Zusage es zukünftig mit mehr Einsatz zu machen, besser gepasst hätten. Am besten man schaut sich einmal selbst auf den Seiten um. Wer die Beiträge und Antworten liest und die Datumseinträge beachtet, der wird gegebenfalls feststellen, was ich meine. Empathie ist das Zauberwort: Versetzen Sie sich in Ihre Zielgruppe.
MfG
Thomas Ermentrud
Z.B.:
http://diskurs.dradio.de/2012/02/24/medien-mussen-in-netztechnologien-investieren-oder-it-konzerne-werden-in-zukunft-die-gesellschaftlichen-debatten-organisieren/

oder: http://diskurs.dradio.de/mitmachen/

oder: http://diskurs.dradio.de/2012/02/20/wie-wird-aus-meinungsvielfalt-demokratie-die-perspektive-eines-praktikers/

oder: http://diskurs.dradio.de/2012/02/17/digitale-partizipation-ist-auf-europaischer-ebene-fast-unmoglich/

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