Verletzen seit Beginn des Jahres die Entscheidungen des 2. Strafsenats des BGH aufgrund des internen Machtkampfs um den Vorsitz den verfassungsrechtlich garantierten Richter?

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 09.01.2012

Die aktuelle Ausgabe des SPIEGEL 2/2012 S. 39 berichtet, dass der Vorsitzende des 4. Strafsenats VRiBGH Dr. Andreas Ernemann seit Beginn des Jahres auch dem 2. Strafsenat des BGH vorsteht. Diese Meldung allein würde nur wenige interessieren, stünde nicht dahinter der heftige Streit zwischen dem Präsidenten des Gerichts und RiBGH Prof. Dr. Thomas Fischer, auf dessen Klage hin es das VG Karlsruhe untersagte, den Konkurrenten zum Vorsitzenden des 2. Strafsenats zu bestimmen. Eine Konkurrentenklage am BGH gab es laut SPIEGEL ONLINE zuletzt vor rund 15 Jahren.

 

Die Doppelbesetzung - und damit der heftige Streit innerhalb des Gerichts um die Nachfolge von der früheren Vorsitzenden VRiBGH a.D. Dr. Ruth Rissing-van Saan - könnte nun dazu führen, dass die Entscheidungen des 2. Strafsenats seit Beginn des Jahres deshalb verfassungswidrig sind, weil sie den gesetzlich garantierten Richter verletzen. Nach BGH-internen Richtlinien dürfe den Posten eines Vorsitzenden nur übernehmen,  wer „mindestens 75 % der Aufgaben als Vorsitzender seines Senats selbst wahrnimmt“.

 

Die erste Rüge über die vorschriftswidrige Besetzung des 2. Strafsenats soll vorige Woche bereits eingegangen sein. Der Aachener Strafverteidiger Thomas Koll  verlangt, wie der SPIEGEL heute berichtet, Auskunft über die Verwaltungsaufgaben und Nebentätigkeiten des Vorsitzenden des 2. Strafsenats und über "Überlastungsanzeigen".

 

Durch solche bizarren Auswirkungen nimmt der BGH Schaden!

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15 Kommentare

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Was für eine "interne Richtlinie" soll denn das sein? Eine Regelung im Geschäftsverteilungsplan? Alles andere istnichts als  Usance und für die Frage, wer gesetzlicher Richter ist, irrelevant. Und wie bemessen sich die 75 %  "eigene Aufgaben" ? Nach Kilogramm Revisionsbegründung?

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@ justus jonas

Eine bestimmte Stoßrichtung wollte ich mit dem Beitrag nicht verbinden. Denn der SPIEGEL-Artikel lässt Raum für Diskussionen in verschiedene Richtungen, z.B. wie hält es der BGH mit dem gesetzlichen Richter, wie werden hohe Richterstellen besetzt, sind Konkurrentenklagen, die für längere Zeit bestimmte Stellen unbesetzt lassen, ein sinnvolles Instrument oder wie könnte es weiter gehen, wenn demnächst VRiBGH Dr. Ernemann in Pension geht und sich Herr RiBGH Prof. Dr. Fischer auch auf diese freiwerdende Stelle bewerben, wiederum zunächst nicht zum Zuge kommen sollte und erneut Konkurrentenklage erhebt?

 

@klabauter

Die Richtlinien habe ich dem zitierten Artikel entnommen. Ihre Fragen habe ich mir auch gestellt. Nach meiner Erfahrung könnte es sein, dass der Vorsitzende im 4. Strafsenat entlastet wurde, um Zeit für den 2. Strafsenat zu haben. Damit wäre das Problem wohl gelöst. Aber in dem Artikel steht das nicht.

Die "BGH-internen Richtlinien" in der Sprache des SPIEGEL-Journalisten ist die Entscheidung des Großen Senat für Zivilsachen vom 19.6.1962 - BGHZ 37, 210 - mit dem Leitsatz

Der Senat eines Oberlandesgerichts ist mit einem Senatspräsidenten als Vorsitzenden nur dann vorschriftsmäßig besetzt, wenn dieser durch den Umfang seiner Tätigkeit im Senat einen richtunggebenden Einfluß auf die Rechtsprechung seines Senats ausübt. Dazu muß der Senatspräsident mindestens 75% der Aufgaben als Vorsitzender des Senats selbst wahrnehmen.

Wie die SZ meldet, hat der 2. Strafsenat (in einer seiner Spruchgruppen) die Änderung des Geschäftsverteilungsplan als verfassungswidrig verworfen. In einer anderen Spruchgruppe hat er ihn für wirksam erachtet (via Presseschau auf lto.de)

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Danke für den aktuellen Hinweis: Zwei divergierende Entscheidungen des 2.Strafsenats, dem RiBGH Fischer angehört, machen die causa nicht besser. Mit der daraus entstandenen Situation wird sich das Präsidium des Bundesgerichtshofs in den nächsten Tagen befassen, wie die Presseabteilung des BGH mitteilt.  

Auf die Entscheidung des Präsidiums dürfen wir gespannt sein, wobei mich persönlich die Begründung der beiden divergierenden Beschlüsse interessieren würde.

BGHZ 37, 210 ist die zentrale Entscheidung, es gibt jedoch weitere, siehe die Kommentierungen zu § 21 f GVG. Die aktuelle Pressemitteilung des BGH weist auf eine Rechtslage hin, die sich allerdings nur auf den Vorsitz durch den Stellvertreter bezieht und damit m.E. an der Sache vorbei geht.

Was mich zur Erhebung der Rüge bewegt hat, habe ich in meinem Blog dargelegt.

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Unterstellt, die Ansicht ist richtig, dass der 2. und 4. Strafsenat derzeit nicht ordnungsgemäß besetzt sind, stellt sich die Frage, wie gehandelt werden kann. Die einzige Lösung, die es dann zu geben scheint, wäre die Zusammenlegung der aktuell fünf Strafsenate auf vier.

 

Etwas ketzerisch gefragt: Ist dies wirklich geboten, um den gesetzlichen Richter zu wahren?

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Die Aussetzungsentscheidung des 2. Strafsenats ist zwischenzeitlich im Volltext auf der Homepage des BGH abrufbar (2 StR 346/11). Ebenso abrufbar ist eine Entscheidung des 4. Strafsenats vom selben Tag, in welchem sich der 4. Strafsenat als ordnungsgemäß besetzt ansieht (4 StR 523/11).

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Mit der wichtigen Frage der ordnungsgemäßen Besetzung der Stelle des Vorsitzenden im 2. Strafsenat befasst sich das Editorial von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, LMU München, in Heft 03/2012 des StV, das bereits auf der Homepage des Strafverteidigers vorab veröffentlicht ist.

Hier - zugleich mit Dank an die Zuschrift von abc am 1. Februar - der Link auf BGH 2 StR 346/11  und 4 StR 523/11 

Welche Fernwirkungen wird der Beschluss des 2. Strafsenates haben? Es gibt Obergerichte, die fahren seit Jahren voll ausgelastete Senate in Doppelbesetzung, dh aus "Spargründen" werden Vorsitzendenstellen auf Dauer nicht besetzt. Ich hoffe, dem Beschluss kommt eine bestimmte Signalwirkung zu.

 

Dunga 

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Mit der "völlig verfahrenen" Frage der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters im Zusammenhang mit dem immer noch andauernden Streit um den Vorsitzenden im 2. und 4. Strafsenat des BGH befasst sich der die Problematik ausführlich behandelnde Aufsatz von Prof. Dr. Dr. h.c. Bernd Schünemann in der aktuellen ZIS.

Erstaunlich, dass die Diskussion nach der Veröffentlichung der Entscheidung BGH 2 StR 346/11 vom 08.02.2012 veröffentlicht unter

http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2012&Sort=3&nr=59418&linked=urt&Blank=1&file=dokument.pdf

nicht wiederaufgelebt ist.

Darin hält der Senat seine Besetzung ausdrücklich für rechtswidrig und entscheidet gleichwohl unter Hinweis auf einen sonst eintretenden Stillstand der Strafrechtspflege. Dass dem entgegen den anderslautenden Beteuerungen in den Entscheidungsgründen keine Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter zugrunde liegen kann,  sondern der Senat sich vielmehr "sehenden Auges" gegen das Recht entscheidet, ergibt sich u.a. aus den Ausführungen dazu, dass Angeklagt ihre Rechte auf den gesetzlichen Richter ja durch Verfassungsbeschwerde durchsetzen könnten (das geht aber nur, wenn die Abwägung des Senats falsch ist) und der Senat auf seine Auffassung zur Rechtswidrigkeit der Besetzung fortgesetzt in Entscheidungen hinweisen möchte.

Zitat:

Im Bereich richterlicher Tätigkeit sind Richter demnach an keine Weisungen und nur an das Gesetz gebunden. Dies bedeutet Freiheit und Pflicht jeden Richters zu eigenverantwortlicher Entscheidung im Rahmen von Gesetz und Recht. Diese Freiheit sieht der Senat im konkreten Fall einge-schränkt, weil er nach der Entscheidung des Präsidiums gehalten ist, in seiner Meinung nach verfassungswidriger Besetzung zu entscheiden. Er nimmt es nach umfassender Abwägung hin, weil er zum einen ausdrücklich auf den Fort-bestand seiner Rechtsansicht hinweisen kann und den Angeklagten zum ande-ren mit der Verfassungsbeschwerde eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit of-fen steht.

 

Zitat Ende

 

Mir verschlägt es bei dieser Entscheidung offen gestanden den Atem: Wenn sich das Gericht für nicht richtig besetzt hält, hat es sich einer Entscheidung zu enthalten. Alles andere ist ein zynischer (weil offen ausgesprochener) Bruch von Verfassungsrecht. Die Frage, ob ein strafbarer Fall der Rechtsbeugung vorliegt (vorliegend geht es ja "nur" um verfassungsrechtlich abgesichertes Verfahrensrecht), mögen die Strafrechtler beantworten. Die Begründung reicht indes aus, das Vertrauen in den Umgang mit dem Recht durch diesen Senat tiefgreifend zu erschüttern.

 

 

 

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Der Senat hat in dieser Entscheidung nicht weniger als seine eigene richterliche Unabhängigkeit in einem der sensibelsten Bereiche des Rechtssystems -nämlich des Strafrechts- als nicht (mehr) gegeben angesehen. Es wird leider davon auszugehen sein, dass ein Senat schon sehr an den tatsächlichen Verhältnissen in der Rechtssprechung verzweifelt sein muss, um das Verfassungsgericht indirekt um Hilfe anzuflehen.

 

Als Rechtsanwalt möchte man sich gar nicht vorstellen, wie man derartige Entscheidungen seinem Mandanten erklären soll. Es ist allerdings auch in anderen öffenlich-rechtlichen Rechtsbereichen festzustellen, dass eine unabhängige richterliche Entscheidung bei Fragestellungen mit grundsätzlicher Bedeutung mehr Wunsch als Wirklichkeit ist. Hauptgrund hierfür dürften Karriereüberlegungen der jeweiligen Richter sein, die bei gleichzeitiger arbeitsmäßiger Überlastung ohnehin kaum noch Raum für die Gewinnung und Formulierung einer eigenen Überzeugung über die zu entscheidenden Rechtsfragen haben. Zu Erkennen sind derartige Urteile regelmäßig nur für die unmittelbar beteiligten Parteien, über deren tragenden Argumente dann in oft schon zynischer Weise hinweggegangen wird.

Für die anwaltliche Praxis bedeutet dieser Befund, dass in den Schriftsätzen nicht allein Wert auf eine überzeugende Begründung gelegt werden sollte. Mindestend genauso wichtig ist es inzwischen geworden, auch die abwegigsten Gegenargumente vorbeugend zu entkräften.

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Wer, wie der Senat, die Mißachtung des Rechts auf den gesetzlichen Richter auch für künftige Entscheidungen schon einmal ankündigt, sollte in weiteren Verfahren, die in dieser Besetzung abgehandelt werden,  mit einem Befangenheitsantrag belegt werden

(arg.: Der Senat hat zum Ausdruck gegeben, nicht richtig besetzt zu sein. Er hat angekündigt, gleichwohl in Zukunft in dieser -nach seiner Ansicht fehlerhaften- Besetzung über Revisionen zu entscheiden. Ob die Auffassung des Senats über seine fehlerhafte Besetzung objektiv zutreffend ist, kann dahingestellt bleiben.

Denn jedenfalls die subjektive Überzeugung des Senats, dass seine Besetzung fehlerhaft  ist kombiniert mit der ausdrücklichen Ankündigung des Senats, gleichwohl weiterhin über Revisionen entscheiden zu wollen, verdeutlicht dessen Bereitschaft , sich über die verfassungsmäßig garantierte Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter entgegen eigener Überzeugung hinwegzusetzen und damit die Bereitschaft zum offenen Bruch von Verfassungsrecht.)

Aufgrund der im Urteil aussergewöhnlich gut dokumentierten inneren Überzeugung des Senats halte ich den Befangenheitsantrag für nicht abwegig. Für die ohnehin zu erwartende Verfassungsbeschwerde wird evtl. auf diesem Weg neben der objektiven Richtigkeit der Besetzung des Senats zugleich -bei Verwerfung des Befangenheitsantrages- eine zweite Ebene eröffnet, nämlich die Frage, ob das Recht auf den gesetzlichen Richter durch die Nichtstattgabe des Befangenheitsantrages verletzt wird.

Für Angeklagte, die nicht auf eine schnelle Entscheidung ihrer Revision angewiesen sind, mag dies ein probates Mittel sein.

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