Bundesverfassungsgericht zur "psychischen Störung" als Grundlage für "Therapieunterbringung"

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 06.10.2011

Das BVerfG hat in einem vor gut zwei Wochen getroffenen Beschluss seine Rechtsprechung zur Sicherungsverwahrung ergänzt und sich insbesondere (obiter dictum) zum Begriff der "schweren psychischen Störung" als neuer Voraussetzung für die weitere Unterbringung "gefährlicher" Starftäter nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe geäußert:

Wie den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmen ist, hat der Gesetzgeber mit dem Begriff der „psychischen Störung“ ausdrücklich auf die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK entwickelten Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung Bezug genommen. Er hat damit in Abweichung von der bisherigen Rechtslage, in der lediglich zwischen der Unterbringung gefährlicher Straftäter in einer Justizvollzugsanstalt zu Präventionszwecken auf der einen und der Unterbringung psychisch Kranker, die im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit Straftaten begangen hatten (§§ 20, 21, 63 StGB), auf der anderen Seite unterschieden wurde, erstmals die besonderen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK konkretisiert und eine weitere Unterbringungsart für psychisch gestörte, für die Allgemeinheit gefährliche Personen geschaffen, bei der im Rahmen des Verfahrens eine psychische Störung festgestellt und die Unterbringung sodann nicht in einer Justizvollzugsanstalt, sondern in einer therapeutischen Anstalt vollzogen wird (BVerfG, a.a.O., S. 1946 <Rn. 173>). Damit hat der Gesetzgeber gerade nicht an die vorhandenen gesetzlichen Regelungen, insbesondere die §§ 20, 21 StGB angeknüpft, sondern ersichtlich eine neue dritte und damit eigenständige Kategorie geschaffen, die das Verständnis der psychischen Störung nach der Europäischen Menschenrechtskonvention aufgreift und sich unterhalb der Schwelle von §§ 20, 21 StGB einordnet. Dementsprechend setzt der Begriff der psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG gerade nicht voraus, dass der Grad einer Einschränkung der Schuldfähigkeit nach §§ 20, 21 StGB erreicht wird. Vielmehr sind auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle unter diesen Begriff zu fassen; gleiches gilt insbesondere auch für die dissoziale Persönlichkeitsstörung (BVerfG, a.a.O., S. 1943 <Rn. 152>, S. 1946 <Rn. 173>; vgl. dazu auch BGH, Beschluss des 5. Strafsenats vom 23. Mai 2011 - 5 StR 394/10 u.a. -, juris Rn. 7, sowie Beschluss vom 21. Juni 2011 - 5 StR 52/11 -, juris Rn. 24).Dies entspricht dem Willen des Gesetzgebers, der ausdrücklich darauf hinweist, dass auch ein „weiterhin abnorm aggressives und ernsthaft unverantwortliches Verhalten eines verurteilten Straftäters“ - und zwar unabhängig vom Vorliegen einer im klinischen Sinn behandelbaren psychischen Krankheit - nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK eine Freiheitsentziehung rechtfertigen kann und in diesem Sinne auch der Begriff der psychischen Störung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG zu verstehen sei (BTDrucks 17/3403, S. 53 f.).

Ersichtlich war dies eine Reaktion darauf, dass die im vorherigen Verfahren gehörten Gutachter teilweise dem Betroffenen zwar "dissoziale Verhaltenszüge in psychopathischer Ausprägung", sowie "zweifelsfrei ein Hochrisikoproband" zu sein und "in eine hohe Gefährlichkeitsstufe einzuordnen", aber nicht zur Überzeugung des vorbefassten OLG Hamm eine "schwere psychische Störung" attestierten. Das OLG Hamm hatte sich dabei ausdrücklich an § 20 StGB orientiert. Das, so nun das BVerfG, ist eine zu hohe Schwelle. Es genüge eine schwere psychische Störung ohne Krankheitswert. 

In der Tat, orientiert man sich bei der psychischen Störung allein an § 20 StGB, dann stellt man das ganze Konzept in Frage, denn dann wäre der vom Gesetzgeber so vorgesehene "dritte Weg" für die Therapieunterbringung nach Freiheitsstrafvollzug nicht vorhanden. Aber wie die "schwere psychische Störung" von der bloßen  "Gefährlichkeit" genau zu differenzieren ist, das bleibt wohl dennoch eine offene Frage. Richtig ist insoweit, dass der Störungsbegriff durchaus weiter gefasst sein kann als der Krankheitsbegriff (man beachte die Differenzierung "krankhafte Störung" und "andere seelische Abartigkeit" in § 20 StGB). Auch solche Störungen können beachtlich sein, die nicht die Folge der §§ 20, 21 auslösen (würden). Aber wie groß ist dieser Bereich empirisch, denn es wird ja auch in § 20 StGB bei den "seelischen Abartigkeiten" (also den psychischen  Störungen)  nach der "Schwere" der Störung differenziert? Eine mögliche Differenz besteht dann darin, dass die mit § 20 StGB gemeinten psychischen Störungen zugleich geeignet sind, die Schuldunfähigkeit herbeizuführen, während die in ThUG gemeinten die Gefährlichkeit des Täters begründen. Aber dies ist eine wohl eher rechtspragmatische als empirische Lösung.

Zudem ist zu fragen, ob man mit "psychischer Störung" den in  Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e) EMRK formulierten Begriff "unsound mind" trifft, ob man also das Ziel einer Unterbringung nach Freiheitsstrafverbüßung  im Einklang mit der EMRK, auf diesem Weg erreichen kann. Nach den in der Gesetzesbegründung zitierten Urteilen des EGMR soll dies zu bejahen sein: Der EGMR habe jedenfalls schon mehrfach "unsound mind" nicht mit "geisteskrank" gleichgesetzt. 

Im Verfassungsblog wird jedenfalls schon über die Frage "Ist Hannibal Lecter psychisch gestört?" diskutiert.

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2 Kommentare

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Die psychische Störung ist fachbezogen überwiegend Synonym für eine psychische Krankheit, die wiederum durch Leidensdruck geprägt ist. Andererseits halte ich jenes Merkmal international für nicht so vehement vertreten wie in Deutschland aufgrund der nationaltypischen (vielleicht auch national gut begründeten) Befürchtungen.
Es ist also keineswegs "ersichtlich", dass man sich hier unterhalb des § 20 StGB bewegt. Dessen Kategorien reichen vollkommen aus, denn er nimmt ja mit Var. 4 die Ausweitung hin zu einem rein objektiven Tatbestand gegenüber dem klinischen Begriff nach Var. 1 bereits bewusst vor, eingeschränkt durch das Merkmal der "Schwere" der "seelischen Abartigkeit". Die Frage ist, warum das OLG Hamm eine solche schwere seelische Abartigkeit der Einschätzung des Gutachters nicht entnehmen wollte. § 20 StGB beschreibt nicht mehr als den Kausalzusammenhang zwischen der Störung/Abartigkeit und dem Unvermögen, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Die Kategorie des § 20 einer schweren seelischen Abartigkeit kann von den Rechtsfolgen des § 20 losgelöst im Kontext des ThUG eine besondere Gefährlichkeit begründen. Ein direkter Zusammenhang besteht nicht, da das konkrete Vorliegen der besonderen Gefährlichkeit ebenso dediziert zu prüfen bzw. begründet zu folgern ist wie die Schuldunfähigkeit. Praktisch gesehen besteht auch kein Grund zur Annahme, dass eine für die Gefährlichkeit maßgebliche motivgebende "Abartigkeit" regelmäßig oder gar zwingend der Einsicht in das Tatunrecht im Wege stünde.

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Die Verfassungsbeschwerde war ein echtes Eigentor. Zwar erfolgreich, soweit es den vom OLG bestimmten Entlassungstermin betrifft, aber im Ergebnis wohl darauf hinauslaufend, daß eine Unterbringung nach dem ThUG ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist. Hätte er keine Verfassungsbeschwerde eingelegt, wäre er am 19.11.2011 ein freier Mann gewesen.

 

Es ist zwar menschlich nachvollziehbar, daß die Richter des BVerfG nicht dafür verantwortlich sein wollen, daß ein hoch rückfallgefährdeter Sexualstraftäter unverzüglich aus der Sicherungsverwahrung zu entlassen ist. Gleichwohl hat ein solches obiter dictum in einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung nichts zu suchen. Für meine Begriffe eine Kompetenzüberschreitung und ein erneuter Beleg dafür, daß sich das BVerfG entgegen aller ausdrücklichen Beteuerungen als "Superrevisionsinstanz" installiert.

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