EGMR: Erneute Verurteilung Deutschlands wegen Sicherungsverwahrung

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 14.01.2011

Mit gestrigem Datum gab der EGMR zwei (noch nichts rechtskräftige) Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung bekannt. Die erste (Pressemitteilung) betraf drei Einzelfälle, die dem schon im Dezember 2009 entschiedenen Fall M. gegen Bundesrepublik Deutschland (Urteil) weitgehend glichen: Der EGMR hat die damalige inzwischen rechtskräftige Verurteilung in der Sache bestätigt und wiederholt. Der EGMR führt erneut aus, dass es gegen die MRK verstieß, die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung, die im (rechtskräftigen) Urteil gegen diese Straftäter verhängt worden war, gesetzlich für sie rückwirkend unbefristet zu verlängern.

Das damalige Urteil gab der Bundesregierung Anlass, das System der Sicherungsverwahrung zu verändern. Insoweit kann die Bundesjustizministerin sich auch - wie sie heute auf Phoenix äußerte - "bestätigt" fühlen.

Die zweite Entscheidung (Pressemitteilung) betraf aber eine andere Sachlage, und hiernach wird sich die Neuregelung der Sicherungsverwahrung wahrscheinlich als unzureichend erweisen. Hier ging es um  die nachräglich angeordnete Sicherungsverwahrung selbst. Zwar weist dieser Fall noch die Besonderheit auf, dass der Verurteilte in Bayern zunächst nach dem nur kurzfristig geltenden Bayerischen Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern  untergebracht worden war, jedoch erklärt der EGMR hier erstmals die nachträgliche Anordnung selbst für konventionswidrig, nämlich als Verstoß gegen Art. 5 MRK. Die (auch von mir hier im Blog und in StV 2010, S. 207 ff.) schon aufgrund des früheren Urteils gehegte Annahme, dass nach Auffassung des EGMR die nachträgliche Sicherungsverwahrung insgesamt nicht der MRK entsprechen dürfte, wird dadurch bestätigt. Es ist daher wahrscheinlich geworden, dass Verwahrungen aufgrund von § 66b StGB a.F., die lt. Übergangsregelung noch längere Zeit nachträglich angeordnet werden sollten  und auch aufgrund von  § 7 Abs.2 JGG vom EGMR als unvereinbar mit der MRK angesehen werden. Im Detail kann dies jetzt noch nicht dargelegt werden, da bislang nur die Pressemitteilungen vorliegen. Möglicherweise muss der Gesetzgeber auch hier noch einmal ran, um das Gesetz der Menschenrechtskonvention anzupassen (vgl. auch dieses Interview mit Ullenbruch auf LTO und diese Einschätzung von Hipp auf Spiegel Online).

 

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11 Kommentare

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Dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung wird schon eine Lösung einfallen, um die Betroffenen trotzdem weiterhin in Gewahrsam zu halten. Nach der ersten Entscheidung des EGMR ist die Entlassungswelle schnell abgeebbt, nachdem einige Oberlandesgerichte, letztlich auch mit Rückendeckung des BVerfG, neue Argumente gefunden hatten, weshalb die Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 entweder nicht paßt oder nicht bindend ist.

 

Die besonders gefährlichen Täter werden wohl entweder kurzerhand für psychisch krank erklärt (eine recht perfide, aber an Beliebtheit offenbar zunehmende Methode, die in den letzten Jahren auch gegen mißliebige Beamte oder querulatorische Bürger eingesetzt zu werden scheint)  oder man findet neue gesetztliche Regelungen, die zwar im Zweifel ebenfalls gegen die EMRK verstoßen, aber Politik und Rechtsprechung erst einmal mehrere Monate oder Jahre Luft verschaffen, um die Verurteilten weiterhin in Haft halten zu lassen. 

Ein Verstoß gegen die EMRK wird aus meiner Sicht sowohl vom Gesetzgeber als auch von einigen Gerichten in Kauf genommen bzw. durch fragwürdige juristische Argumente in Abrede gestellt, weil niemand für Rückfälle entlassener Täter verantwortlich sein will.

 

Allein fragt man sich, wie alle anderen Länder ohne Sicherungsverwahrung auskommen und weshalb Deutschland in Sachen Verwahrung immer einen Sonderweg benötigt. Daß dies schon aus historischen Gründen im restlichen Europa kritisch beäugt wird, liegt auf der Hand.

 

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Dass die Bundesregierung nicht dazu neigt, Entscheidungen des EGMR korrekt umzusetzen, kann man ja auch beim Sorgerecht erkennen.

Auch da diskutiert die Regierung ja seit Monaten nicht etwa darüber, wie man das am besten umsetzen könnte, sondern wie man das am besten umgehen kann, ohne wirklich etwas zu ändern.

Warum dann die eigenen Bürger beim Umgang mit den eigenen Gesetzen und Urteilen anders reagieren sollen, erschließt sich mir nicht.

 

Schönes Vorbild, dieser sogenannte Rechtsstaat.

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Hallo Leute, aufwachen und nicht immer die Täter zu Opfer machen !!! Hat schon irgendjemand an die WIRKLICHEN OPFER gedacht wie die sich seit bekanntwerden der EGMR-Urteils fühlen. Ich kann aus "Erfahrung" mitreden...und ihr könnt nur hoffen daß Euch nicht das Selbe widerfährt!

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@Theolina

 

Angesichts Ihrer geäußerten Position empfehle ich Ihnen die Lektüre neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, auch der Neurobiologie etwa vermittelt von den Autoren Prof. Dr. Dr. Roth und Dr. Merkel in Humboldt Forum Recht http://www.humboldt-forum-recht.de/deutsch/17-2010/index.html . Danach wankt das strafrechtliche Schuldprinzip insgesamt sehr gewaltig, da die Ursachen zumeist in der Therapie- und Chancenlosigkeit der Betroffenen von Kindheit an und somit der Gesamtgesellschaft liegen.

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@Theolina:

Dass man bei der Diskussion die Interessen der (potentiellen) Opfer ignoriert, kann ich nicht erkennen, ganz im Gegenteil: Die Frage der Sicherungsverwahrung für Menschen, die schwere Gewalttaten begangen haben, wird doch  m.E. nur diskutiert, weil man sich  darüber Gedanken macht, ob und wie man potentielle Opfer präventiv schützen kann, soll oder muss. Es geht darum, ob jemand auch nach vollständiger Verbüßung seiner Strafe weiter in Haft bleiben soll. Da wir uns in einem Rechtsstaat befinden, kann aber eine so schwerwiegende Entscheidung nur auf Grundlage von Gesetzen durch ein Gericht erfolgen. Und diese gesetzlichen Grundlagen müssen selbst wiederum bestimmten Geboten gehorchen, um nicht willkürlich zu sein, etwa dem Gebot, dass die Strafe vor der Tat gesetzlich bestimmt sein muss, oder dem Gebot, dass ein rechtskräftiges Urteil verbindlich sein muss und nicht nachträglich durch ein Gesetz verschlimmert werden kann.

Ich weiß also nicht so recht mit Ihrem "Weckruf" umzugehen. Dass gar nicht mehr über Sinn, Unsinn, Recht und Vernunft der Sicherungsverwahrung diskutiert wird, können doch auch die Opfer (frühere oder mögliche künftige) nicht wollen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

@Maximilian (auch wenn es vom Ausgangsthema etwas wegführt)

Nach diesem Zitat aus der von Ihnen verlinkten Seite "Nach den heutigen Erkenntnissen der Hirnforschung ist bekannt, dass das Gehirn von früher Kindheit an maßgeblich durch die soziale Umwelt geprägt wird, womit sich unvermeidbar der Endpunkt der Zurechnung vom Individuum auf die Gesellschaft verlagere, wodurch das Schuldprinzip insgesamt ins Wanken gerate"

ist nicht so recht erkennbar, weshalb die "Gesamtgesellschaft" verantwortlich sein soll. ME gibt es in der frühen Kindheit meist so etwas wie Eltern und nicht eine "Gesamtgesellschaft", die Einfluss auf die Entwicklung nehmen. Natürlich könnte man die "Gesamtgesellschaft" auch dafür verantwortlich machen, dass man zwar fürs Autofahren eine Fahrerlaubnis, fürs Kinderkriegen und -erziehen aber keinerlei Qualifikation braucht.

Wollte man "gesamtgesellschaftliche" Konsequenzen ziehen, hätte dies mE ein gegenüber der bisherigen Sach- und Rechtslage massiveres staatliches Eingreifen in die Kindererziehung (bis zur konsequenten Wegnahme der Kinder aus erziehungsunfähigen Familien) und - da ja das Schuldprinzip nicht mehr gälte - ausgeweitetes Gefahrenabwehrstrafrecht  (Spezialprävention durch Einsperren nach der "Bundeskanzler-Schröder-Formel") zur Folge.

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@klabauter

 

Ganz so einfach ist die Welt leider nicht, denn die Erziehung durch die Eltern ist wohl nicht der einzige Kontakt, dem junge und auch ältere Menschen ausgesetzt sind. Berufliche Chancen, finanzielle Teilhabe, Bildungsangebote u.a. sind zumeist Faktoren, die von der Gesamtgesellschaft maßgeblich beeinflusst werden. Dies geschieht etwa in einer repräsentativen Demokratie letztlich auch durch Wahlen. Wenn jedoch Regierungen gewählt werden, die etwa Politiken machen, nach denen Menschen bewusst von der chancengleichen Teilhabe ausgeschlossen werden, Stichwort nur bspw. HartzIV, so ist sie etwa auch für die langfristigen Folgen verantwortlich, die sich daraus ergeben. Man kann nicht einerseits die Spielregeln vorgeben, so etwa die Selektion im kapitalistischen System nach Einkommen und Vermögen, ohne für die Risiken verantwortlich zu sein, die sich daraus ebenfalls vieldimensional ergeben. Somit heisst es künftig, sich erst der Ursachen für menschliches Fehlverhalten anzunehmen, so etwa auch einer Kollektivschuld, und dann zudem die individuelle Schuld zu berücksichtigen. Das Leben scheint weit komplexer, als bloße Schwarz-Weiß-Malerei und simple lineare Zurechnungen, dies wird künftig wohl auch im Strafrecht mit Hilfe der Erkenntnisse flankierender Wissenschaften stärker zu berücksichtigen sein, wenn man ansatzweise die Lebenswirklichkeit im Rechtssystem zu berücksichtigen gedenkt.

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Ich denke, dass ein blog wie dieser kaum das Forum ist, um im Detail auf jeden bei einer komplexen Frage wie der Kriminalitätsentwicklung maßgeblichen Faktor einzugehen (Ihr verlinkter Artikel ist ja auch etwas länger). Deshalb habe ich auch keine "einfache" Universallösung angeboten, sondern angedeutet, wohin (zumindest in 2 Richtungen) ggf. die Annahme führt, man müsse sich von einem Schuldstrafrecht verabschieden. Von Schwarz-Weiß-Malerei wie  sie etwa auch in Vokabular wie "Selektion im kapitalistischen System"  zum Ausdruck kommt, halte ich auch nicht viel. Es wird aber mE sicher eine Diskussion darüber geben, ob und wie man neurobiologischen Ursachen von Kriminalität vorbeugt bzw. wie man   die Gesellschaft vor Menschen schützt, die wegen neurobiologischer Störungen strafrechtlich nicht verantwortlich sind. Und dass die staatlichen Eingriffe dann weniger einschneidend sein werden als Strafvollzug bezweifle ich.

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@klabauter

 

Wie sie bereits bemerkten, ist das Thema weit komplexer, wie man auch bereits am Umfang des Aufsatzes feststellen konnte, der jedoch ebenfalls nur Teilsaspekte beleuchten kann, allerdings darin wichtige Denkanstösse gerade vor dem Hintergrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse bietet.

 

Wesentlich ist folglich, alle Maßnahmen zu treffen, dass sich solche neurobiologischen und psychischen Störungen bei Menschen garnicht erst entwickeln können und sollten sie dann trotz aller dieser vernünftigen Maßnahmen, insbesondere auch sozialpolitischer Natur, dennoch vereinzelt vorkommen, müssen die Menschen geeignet behandelt und therapiert werden, anstatt wie ein Caspar-Hauser strafgleich weggesperrt zu werden. Ein solcher Eingriff ist dann "weniger einschneiden" und vor allem verhältnismäßig.

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@Maximilian

 

Unser heutiges Strafrechtssystem ist im historischen Kontext betrachtet ebensowenig der Weisheit letzter Schluß wie es frühere Prozeßformen und Sanktionen waren. Ich bin mir sicher, daß man in einigen Jahrhunderten über unsere schwarzgewandeten Richter, die zum Teil mit großer Selbstherrlichkeit und mangelnder Demut vor den Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens weitreichende Entscheidungen über Menschen fällen, den Kopf schütteln und unser Strafrechtssystem als ähnlich barbarisch ansehen wird, wie wir auf frühere Jahrhunderte blicken.

 

Entscheidende Veränderungen können jedoch nicht in wenigen Jahren oder Jahrzehnten reifen. Das ist ein sehr langfristiger historischer Prozeß. Mit den hirnorganisch und psychologisch begründeten Thesen zur  strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Individuums kann man heute noch keinen Blumentopf gewinnen, zumal das ja auch noch nicht der herrschenden Meinung in der Forschung entspricht.

 

Da kann man leider nur sagen: Live long and prosper...

 

 

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