BVerfG: Auch nichtbetreuender Elternteil kann das Privileg des § 116 VI SGB X in Anspruch nehmen

von Hans-Otto Burschel, veröffentlicht am 16.11.2010

Kommt eine Person zu Schaden und muss eine Sozialbehörde daraufhin Sozialleistungen erbringen, so geht der Schadensersatzanpruch des Geschädigten gegen den Schädiger gemäß § 116 I SGB X auf die Sozialbehörde über.

Der Anspruchsübergang ist gemäß § 116 VI SGB X ausgeschlossen, wenn

- eine unvorsätzliche Tat vorliegt und

- Schädiger und Geschädigter als Familienangehörige in häuslicher Gemeinschaft leben.

Der Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Vater eines im Jahr 2000  nichtehelich geborenen Sohnes, für den beide Elternteile die Personensorge gemeinsam ausübten. Der Junge lebte bei der Kindesmutter. Der Beklagte kam seiner Unterhaltspflicht für das Kind uneingeschränkt nach. Zwischen ihm und dem Jungen fand regelmäßig jedes zweite Wochenende Umgang im Hausanwesen der Großeltern des Kindes statt, in dem auch der Beklagte lebte.

Während eines solchen Besuchswochenendes Anfang August 2001 fiel das einige Minuten unbeaufsichtigte Kind in eine auf dem Grundstück stehende, ungesicherte Regentonne und befand sich etwa zehn Minuten unter Wasser. Hierdurch erlitt der Junge schwerste Schäden, die voraussichtlich auf Lebensdauer zu einem Betreuungs- und Beaufsichtigungsbedarf führen werden. Der zuständige Sozialhilfeträger erbringt seit August 2002 für das Kind Leistungen der Sozialhilfe in Form der Eingliederungshilfe. Er ist Kläger des Ausgangsverfahrens und nimmt den Beklagten aus gemäß § 116 Abs. 1 SGB X übergegangenem Recht wegen Verletzung der Aufsichtspflicht auf Schadensersatz in Anspruch.

Das Landgericht Memmingen geht davon aus, dass der Beklagte seine Aufsichtspflicht grob fahrlässig verletzt hat und deshalb der familienrechtliche Haftungsausschluss nach § 1664 Abs. 1 BGB für ihn nicht greift. Es hält jedoch § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz und den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie für verfassungswidrig und hat dem Bundesverfassungsgericht im konkreten Normenkontrollverfahren die Frage vorgelegt, ob § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als er eine Haftungsprivilegierung des nicht in häuslicher Gemeinschaft lebenden, unterhaltspflichtigen Kindesvaters im Gegensatz zu in häuslicher Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen nicht vorsieht.

Das BVerfG hat entschieden, dass § 116 VI SGB X verfassungsgemäß ist, jedoch im Lichte des Art. 6 GG ausgelegt werden muss:

Die für den Ausschluss des Anspruchsübergangs nach § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X maßgebliche Tatbestandsvoraussetzung, dass der schädigende mit dem geschädigten Familienangehörigen in häuslicher Gemeinschaft lebt, ist allerdings bei Kindern und ihren von ihnen getrennt lebenden Elternteilen im Lichte des Schutzes der auch zwischen ihnen bestehenden Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG sowie des Elternrechts des getrennt lebenden Elternteils aus Art. 6 Abs. 2 GG auszulegen. Trägt ein Elternteil mit dem anderen Elternteil, bei dem sich sein Kind vorrangig aufhält, gemeinsam die Sorge für das Kind oder ist allein aus Kindeswohlgründen nicht ihm, sondern dem anderen Elternteil die Alleinsorge eingeräumt, zahlt er regelmäßig den vereinbarten oder gerichtlich festgesetzten Kindesunterhalt und praktiziert den verabredeten oder ihm eingeräumten regelmäßigen Umgang mit dem Kind, der auch ein Verweilen und Übernachten des Kindes in seinem Haushalt mit umfasst, kommt dieser Elternteil in vollem, ihm rechtlich möglichen Umfang seiner elterlichen Verantwortung seinem Kind gegenüber nach. Ein solches Leben in häuslicher Gemeinschaft unter dem Vorzeichen getrennt lebender Eltern ist im Hinblick auf den mit § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X verfolgten Schutzzweck mit einer häuslichen Gemeinschaft gleichzusetzen,
in der ein Elternteil mit seinem Kind tagtäglich zusammenlebt. Denn diese Art des Zusammenlebens ist nicht minder vor Beeinträchtigungen infolge des Anspruchsübergangs auf denSozialleistungsträger zu bewahren. In einem solchen Eltern-Kind-Verhältnis wird regelmäßig auch der barunterhaltspflichtige Elternteil aus seiner Haushaltskasse Leistungen für das Kind erbringen, die über seine Verpflichtung zur Unterhaltszahlung hinausgehen, ihm aber nicht mehr wie bisher möglich wären, wenn der Sozialleistungsträger wegen eines übergegangenen Schadensersatzanspruchs des Kindes auf ihn Rückgriff nehmen würde. Die Vermeidung von Spannungen und Streitigkeiten aufgrund einer Geltendmachung übergeleiteter Schadensersatzansprüche ist bei einer häuslichen Gemeinschaft mit teilweisem Zusammenleben von Kind und Elternteil ebenso vonnöten wie bei einer häuslichen Gemeinschaft, in der Elternteil und Kind stetig zusammenleben.
Wenn die vorgenannten Voraussetzungen bei dem Beklagten des Ausgangsverfahrens und seinem Kind vorgelegen haben, was das Landgericht zu prüfen hat, könnte er gemäß § 116 Abs. 6 Satz 1 SGB X trotz eines nicht ständigen Aufenthalts des Kindes bei ihm nicht in Regress genommen werden.

BVerfG vom 12.10.2010 - 1 BvL 14/09

 

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