Kehrtwendung des VIII. Senats des BGH in der Anrechnungsfrage

von Dr. Hans-Jochem Mayer, veröffentlicht am 05.10.2010

Der VIII. Zivilsenat des BGH, der mit dem Urteil vom 07.03.2007 – VIII ZR 86/06 - die fatale Rechtsprechung im Bereich der Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr und deren Auswirkung auf das Kostenfestsetzungsverfahren eingeleitet hatte, hat mit dem jetzt veröffentlichten Beschluss vom 14.09.2010 – VIII ZB 33/10 – eine klare Kehrtwendung vollzogen. Sogar - wie der Senat nunmehr ausführt - sei auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes davon auszugehen, dass die in Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG angeordnete Anrechnung für die Höhe der gesetzlichen Gebühren, deren Erstattung § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO im Verhältnis der Prozessparteien untereinander vorsieht, ohne Bedeutung sei und eine obsiegende Prozesspartei mithin die Erstattung einer ungekürzten Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG beanspruchen könne.

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7 Kommentare

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Es ist vollbracht! Es müssen in diesem Forum keine OLG- und OVG-Entscheidungen mehr zitiert und gegeneinander aufgerechnet werden! Danke, VIII. Zivilsenat! Jetzt können wir uns wieder den wichtigen Dingen zuwenden!

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Umfassende Information zu einer umstrittenen Rechtsfrage tragen auf ihre Weise zur Meinungsbildung bei und ermöglichen eine Überprüfung der eigenen Auffassung. Hierzu rechnet nach meinem Dafürhalten auch ein aktueller, möglichst vollständiger Überblick über eine widerstreitende Rechtsprechung und deren tragende Gründe.

 

Erinnert sei an

 gast2

28.05.2009, 19:42 Uhr

Möglicherweise habe ich mich mißverständlich ausgedrückt. Die Entscheidung des BGH, wonach - im Innenverhältnis - die Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr anzurechnen ist, sich also letztere mindert, bleibt nach wie vor richtig. Es geht daher der materiell-rechtliche Erstattungsanspruch, auch wenn eine Verfahrensgebühr entstanden ist, auf die volle Geschäftsgebühr. Diese kann in voller Höhe im Erkenntnisverfahren geltend gemacht werden. Nur die Entscheidung, wonach die Anrechnung nach Vorbem. 3 IV VV-RVG auch im Erstattungsverhältnis derart zu berücksichtigen ist, dass im Kostenfestsetzungsverfahren nur die geminderte Verfahrensgebühr geltend gemacht werden kann, unabhängig davon, ob der materiell-rechtliche Erstattungsanspruch tituliert ist etc., lehne ich ab.

In der Höhe des Anrechnungsteils überschneiden sich m.E. prozessualer und materiell-rechtlicher Erstattungsanspruch.

MfG

 

Satz 1 des in Erinnerung gerufenen Beitrags lässt m.E. auch einen anderen, den folgenden Rückschluss zu:

Mit dem Inkrafttreten des § 15a Abs. 1 RVG schuldet der Mandant seinem Anwalt abweichend zum bisherigen Recht erstmals gleichermaßen sowohl die Geschäftsgebühr als auch die Verfahrensgebühr -insgesamt jedoch nicht mehr als die um die Anrechnung nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG geminderte Summe beider Gebühren. Diese Regelung beinhaltet folglich eine Gesetzesänderung im Sinne von § 60 Abs. 1 RVG, die bei der Berechnung der Anwaltsvergütung im Innenverhältnis in einem sogenannten Altfall nicht zu berücksichtigen ist.

 

Nach § 15a Abs. 2 RVG kann sich ein Dritter auf die Anrechnung nur noch in Ausnahmefällen berufen. Diese Regelung bezieht sich nach der hier vertretenen Ansicht auf § 15a Abs. 1 RVG und soll Überzahlungen bzw. Doppeltitulierungen vermeiden.

Schuldet der Mandant seinem Anwalt hingegen nach altem Recht von vorn herein lediglich die anrechnungsgeminderte Verfahrensgebühr greift § 15a Abs. 2 RVG - unabhängig davon, ob es sich bei dieser Vorschrift um eine Gesetzesänderung im Sinne von § 60 Abs. 1 RVG handelt - nicht, weil der Mandant von dem erstattungspflichtigen Gegner lediglich die tatsächlich mit der gerichtlichen Rechtsverfolgung verbundenen Kosten fordern kann - vgl. u.a. BVerfG, in Rd.Nr. 16 des Beschluss vom 03.11.1982 in 1 BvR 710/82 unter Hinweis auf RGZ, juris:

 

"Es gehört zum gesicherten Standard der Kostenfestsetzung (vgl. RGZ 35, S. 427 (428); Wieczorek, ZPO, 2. Aufl., Anm. A II b zu § 104) und versteht sich von selbst, daß keinesfalls höhere Kosten als erstattungsfähig festgesetzt werden dürfen, als dem Berechtigten entstanden sind."

 

sowie Neumann in Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl., in Anm. 63 zu § 162:

 

"Was der erstattungsberechtigte Beteiligte dem von ihm beauftragten Rechtsanwalt nach dem RVG schuldet, kann er auf den erstattungspflichtigen Beteiligten abwälzen."

 

Neu ist:

Der VIII. und der IV. Zivilsenat des BGH halten an dem von ihnen bisher vertretenen Verständnis, nachdem der Wortlaut der Vorbemerkung 3 abs. 4 VV RVG eindeutig ist, nicht fest. Hierdurch eröffnen sich diese Senate den Weg für eine Sichtweise, die davon ausgeht, dass es sich bei § 15a RVG um eine Klarstellung bisher geltenden Rechts handelt. Die Begründung hierfür mag überraschen.

 

Der Reihe nach:

Der knapp ein Jahr nach dem Beschluss des II. Zivilsenats vom 02.09.2009 in II ZB 35/07 ergangene Beschluss des VIII. Zivilsenats vom 10.08.2010 in VIII ZB 15/10 wurde gestern in juris veröffentlicht. Die Begründung des Beschlusses beschränkt sich wie die des nachfolgende Beschluss vom 14.09.2010 in VIII ZB 33/10 nach meinem Verständnis im Wesentlichen darauf, dass der II. Zivilsenat § 15a RVG auf noch nicht abgeschlossene Kostenfestsetzungsverfahren angewandt wissen will und auf einen Hinweis, dass sich dieser vor allem in der Instanzrechtsprechung seither umstrittenen Sichtweise mittler-weile mehrere Zivilsenate des Bundesgerichtshofs angeschlossen haben. Der VIII. Senat tritt der Sichtweise zur Vermeidung eines der Sache nicht angemessenen Vorgehens nach § 132 GVG bei.

 

Ebenso hält der IV. Zivilsenat in den Beschlüssen vom 15.09.2010 in IV ZB 41/09 und IV ZB 5/10 (Zitat:) „an seiner vor Erlass des § 15a RVG zum Verständnis der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG vertretenen Auffassung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 24. September 2008 - IV ZB 26/07 Rn. 6, 9; vom 25. Juli 2008 - IV ZB 16/08, VersR 2008, 1666 Rn. 8 und vom 16. Juli 2008 - IV ZB 24/07, VersR 2009, 236 Rn. 7) nicht mehr fest und erachtet wie der VIII. Senat (vgl. Beschluss vom 10. August 2010 - VIII ZB 15/10 unter II 2 c) ein Vorgehen nach § 132 GVG für nicht geboten.“

 

Die noch aktuelle Auseinandersetzung der Instanzrechtsprechung mit der Recht-sprechung des BGH zu den Anrechnungsaltfällen, gegen die auch der X. Zivilsenat des BGH Bedenken erhoben hat, verlief möglicherweise auch deshalb so kontrovers, weil der bisher für eindeutig gehaltene Wortlaut einer Vorschrift grds. gegen eine Klarstellung in einem abweichenden Sinn sprechen dürfte; der II. Zivilsenat in der Sache gleichwohl ein Vorgehen nach § 132 GVG nicht für erforderlich hielt.

Es steht zu erwarten, dass sich nunmehr die Auffassung des II. Zivilsenats zur Anwend-barkeit des § 15a Abs. 2 RVG auf die sogenannten Anrechnungsaltfälle in der ordent-lichen Gerichtsbarkeit durchsetzt. Hingegen bleibt wohl offen, ob sich diese Auffassung in einem von dem II. Zivilsenat eingeleiteten Verfahren nach § 132 GVG durchgesetzt hätte. Dagegen streitet aus meiner Sicht u.a. die Auffassung des KG Berlin, zuletzt im Beschluss vom 30.07.2010 in 2 W 102/09,juris; sowie die vorstehend begründete Auffassung zum Verhältnis von § 15a Abs. 1 RVG und § 15a Abs. 2 RVG nebst der daraus gezogenen Schlussfolgerungen.

 

Zu den fachgerichtlichen Besonderheiten:

Auf verwaltungsgerichtlichen Anrechnungsaltfällen ist § 15a RVG nach der in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nach Bekanntwerden des Beschlusses des BVerwG vom 22.07.2009 in 9 KSt 4/08, 9 KSt 4/08 (9 A 3/06) allgemein vertretenen Auffassung nicht anzuwenden, weshalb in einem Anrechnungsfall der Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG lediglich die anrechnungsgeminderte Verfahrensgebühr festzusetzen ist. Diese Sichtweise stützt sich auf das in dem Beschluss des BVerwG zum Ausdruck kommende Verständnis von § 162 VwGO als Vorschrift, die den Umfang der Kostenpflicht in verwaltungsgerichtlichen Verfahren festlegt. Aus den Beschlussgründen : „Angesichts des in § 162 Abs. 1 und 2 VwGO zum Ausdruck gekommenen Willens, die Erstattungs-fähigkeit von Rechtsanwaltsgebühren grundsätzlich auf die im Prozess entstandenen Gebühren zu beschränken, stellt es eine sachlich begründete und daher auch vor dem Gleichheitssatz zu rechtfertigende gesetzgeberische Entscheidung dar, durch die Anrechnung die Erstattungsfähigkeit auf den Gebührensatz zu begrenzen, der auf den Aufwand des Rechtsanwalts im Prozess zugeschnitten ist. Rechtspolitisch lassen sich Sachgründe freilich auch für eine abweichende Lösung anführen. Um ihnen Geltung zu verschaffen, bedarf es aber einer Entscheidung des Gesetzgebers (vgl. hierzu den Entwurf eines § 15a RVG, BTDrucks 16/12717 S. 55, 67 f.).“

Die bisher bekannt gewordene finanzgerichtliche und arbeitsgerichtliche Rechtsprechung rechnet in den sogenannten Anrechnungsaltfällen mehrheitlich an.

 

Resümee:

Bis auf weiteres werden in den sogenannten Anrechnungsaltfällen voneinander abweichende, auch gerichtszweigspezifisch begründete Ansichten vertreten.

 

Man muss doch nicht immer weitermachen, sondern auch mal einsehen, wenn es vorbei ist. Sollte ein Senat des BVerwG noch einmal über die Anrechnung im Kostenerstattungsverhältnis "in Altfällen" entscheiden müssen, wird er sich der Auffassung des II. Zivilsenats des BGH anschließen oder nach § 11 RsprEinhG die Sache dem Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe vorlegen müssen. Wie Sie, Herr Schmeding, angesichts der Tatsache, dass sich die Senate des BGH der Reihe nach dem II. Zivilsenat des BGH ausdrücklich oder, um ihr Gesicht zu wahren, "zur Vermeidung eines der Sache nicht angemessenen Vorgehens nach § 132 GVG" angeschlossen haben, zur der Auffassung gelangen, in einem Verfahren nach § 132 GVG hätte sich die Auffassung des II. Zivilsenats des BGH nicht durchsetzen können, ist mir unerklärlich. Auf solche hypothetischen Erwägungen kommt es aber auch nicht an. Die Rechtsfrage, die zwar fast jeden zivilgerichtlichen Rechtsstreit betraf, relativ gesehen im jeweiligen Rechtsstreit aber immer nur eine untergeordnete Rolle spielte, ist geklärt! Es steht auch nicht lediglich "zu erwarten, dass sich die Auffassung des II. Zivilsenats in der ordentlichen Gerichtsbarkeit durchsetzt". Vielmehr HAT sie sich bereits durchgesetzt. Die Diskussion ist beendet. Sämtliche Instanzgerichte, insbesondere auch alle befassten Zivilsenate des Kammergerichts, werden nun entscheiden wie der II. Zivilsenat des BGH. Das ist SICHER. Alles andere wäre Rechthaberei, die auf dem Rücken der Prozessparteien, die für die Rechtsbeschwerdeinstanz zahlen müssen, ausgetragen würde. Vielleicht gibt es bald ein neues Thema im Kostenrecht, das uns alle umtreibt...!

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Sehr geehrter „Gast2“,

vielleicht haben Sie Recht.

 

Das habe ich nicht gewusst, dass das BVerwG nach § 11 RsprG „in Altfällen“ die Sache dem Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe wird vorlegen müssen. Ist das evident und damit zwingend?

 

Mich jedenfalls hat zunächst einmal überrascht, dass der II. Zivilsenat des BGH in der Sache nicht nach § 132 GVG vorgegangen ist. Seine Begründung hierfür wird man im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG sicherlich nicht als willkürlich bezeichnen können, gleichwohl wäre eine Vorlage in Würdigung der Ausführungen des BGH im Beschluss vom 21. 3. 2000 - 4 StR 287/ 99 (http://lexetius.com/2000,308) möglicherweise weder unzulässig noch unzweckmäßig, geschweige denn nicht angemessen gewesen.

Ich komme weder zu der Auffassung, dass sich der II. Zivilsenat in so einem Verfahren mit seiner Auffassung hätte durchsetzen können, noch zu der gegenteiligen Auffassung. Wie denn auch?

Ein solches Verfahren, das sich nach meiner Einschätzung großer Akzeptanz erfreut hätte, wäre sofern zulässig vor gut einem Jahr durchaus eine (die?) der Sache nicht unangemessene und prozessökonomische Lösung gewesen.

 

Der VIII. Zivilsenat vermeidet ohne nähere Darlegung ein aus seiner Sicht der Sache nicht angemessenes Vorgehen nach § 132 GVG.

Dank seiner fortgeltenden Rechtsprechung können die vorgerichtlich entstandenen anwaltlichen Vertretungskosten vollständig eingeklagt werden und damit kann ein Schadensersatzanspruch abweichend von der zu BRAGO-Zeiten herrschenden prozessökonomischen Betrachtungsweise immer uneingeschränkt realisiert werden.

Die gesetzgeberische Korrektur beschränkt sich in ihren Wirkungen möglicherweise auch aus diesem Grund ausschließlich auf die Beseitigung der Konsequenzen der Anrechnung auf die Kosten- und Vergütungsfestsetzung. Nach inzwischen herrschender Auffassung ist hierin für die Kostenfestsetzung in der ordentlichen Gerichtsbarkeit eine Klarstellung zu sehen, weshalb sie dort trotz gewichtiger Gegenargumente auch die sogenannten Altfälle umfasst.

 

Dem hat sich nun auch der XI. Zivilsenat des BGH im Beschluss vom 28.09.2010 in XI ZB 7/10 angeschlossen.

 

Aus den Gründen:

„Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an. Der Gesetzgeber hat durch den in das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz neu eingefügten § 15a RVG in Kenntnis einer gegenläufigen Rechtsprechung (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Januar 2008 - VIII ZB 57/07, NJW 2008, 1323 Rn. 6 ff.) seine Ansicht klargestellt, dass bereits nach bestehender Gesetzeslage die Anrechnung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 VV RVG das Innenverhältnis zwischen Anwalt und Mandant betreffe und sich im Verhältnis zu Dritten, also insbesondere im Kostenfestsetzungsverfahren, grundsätzlich nicht auswirke (BT-Drucks. 16/12717, S. 58; vgl. BGH, Beschlüsse vom 2. September 2009 - II ZB 35/07, WM 2009, 2099 Rn. 8 und vom 9. Dezember 2009 - XII ZB 175/07, ZIP 2010, 854 Rn. 21). Dem entspricht, dass der Gesetzgeber zugleich die Fallgestaltungen geregelt hat, in denen sich ein Dritter ausnahmsweise auf die Anrechnung einer Gebühr auf eine weitere Gebühr berufen kann.“

 

Folgt man dieser Begründung, dann stellt sich die Frage wofür es mit § 15a Abs 1 RVG einer wohl unstreitigen Gesetzesänderung bedurfte, aufgrund derer der Auftraggeber seinem Anwalt erstmals gleichermaßen sowohl die Geschäftsgebühr als auch die Verfahrensgebühr schuldet - insgesamt jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag der beiden Gebühren.

 

Mit diesen Gesichtspunkten befasst sich auch das FG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 11.10.2010 in 15 Ko 2438/10KF http://www.justiz.nrw.de/nrwe/fgs/duesseldorf/j2010/15_Ko_2438_10_KFbeschluss20101011.html.

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