Wieder mal: Unschuldig 27 Jahre in Haft - und die wahren Schuldigen bleiben frei

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 31.07.2010

Seit ich Strafrichter bin, beschäftigt mich das Thema „Justizirrtum“; denn Justizirrtümer  kommen auch heutzutage viel öfters vor, als man landläufig meint, sind aber gleichwohl zumeist – selbst bei falschen Geständnissen – vermeidbar, wenn man als Richter nur bereit ist, sich intensiv mit den Ursachen auseinanderzusetzen. Fehlurteile kommen in allen Ländern vor und auch die Ursachen sind in allen Ländern dieselben: Mängel in der Beweisaufnahme und im Verfahren, menschliche Fehlerquellen, Gesetzesmängel, aber auch in der Psychologie der Urteilsfindung kann die Ursache liegen.

 

Schon in der klassischen Untersuchung von Max Hirschberg  "Das Fehlurteil im Strafprozess"  nennt dieser als kriminalistische Hauptursachen eines Fehlurteils:

  • Unkritische Bewertung des Geständnisses,
  • unkritische Bewertung der Belastung durch den Mitangeklagten,
  • unkritische Bewertung der Zeugenaussagen,
  • falsches Wiedererkennen,
  • die Lüge als Schuldbeweis und
  • unkritische Bewertung des Sachverständigengutachtens

 

Zum aktuellen Fall: Im US-Staat Texas saß ein wegen schwerer sexueller Nötigung zu 75 Jahren verurteilter Mann 27 Jahre unschuldig in Haft, bis jetzt ein DNA-Test seine Unschuld belegte. Gestern wurde er aus der Haftanstalt in Houston entlassen. Das Opfer hatte ihn bei einer Gegenüberstellung zunächst nicht identifiziert, glaubte aber später, ihn auf einem Foto wiederzuerkennen. Die Polizei ermittelte jetzt auch die vier Männer, die die Frau ehemals verschleppt und vergewaltigt hatten – aber die Tat ist zwischenzeitlich verjährt.

 

Wie leicht sich die Justiz irrt – und wie schwer es ist, seine eigene Unschuld zu beweisen, wenn die Richter nicht an sie glauben, steht auf der Rückseite des ebenso eindringlichen wie bedrückenden Buchs von Sabine Rückert „Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen“, dessen Lektüre ich jedem nur empfehlen kann, der sich für das Thema „ Justizirrtum“ interessiert – für Studierende der Rechtswissenschaft in meinen Augen gleichsam eine Pflichtlektüre.

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7 Kommentare

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Das Thema ist in der Tat ein bedeutender Dauerbrenner, Phoenix strahlte dazu heute aus "ZDF-History. Unschuldig verurteilt?"  http://programm.ard.de/TV/phoenix/zdf-history--unschuldig-verurteilt-/ei... , vielleicht gibt es eine Wiederholung.

 

"Sehn wir euch an, packt uns ein tiefes Graun Wir haben zu euch Richtern kein Vertraun. So schrieb Kurt Tucholsky in der Weimarer Republik. Heute vertrauen nach Umfragen immerhin 60 Prozent der Bundesbürger dem deutschen Rechtssystem.

Doch was, wenn die Justiz versagt? Wenn die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt und die Betroffenen hilflos zurück bleiben? Wenn das Gesetz gebeugt und die Wahrheit nie gefunden wird? ZDF-History rekonstruiert berühmte Skandale, Fehlurteile und Grenzfälle der Justizgeschichte."

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Sofern es bei uns in Deutschland auftritt, scheint mir das Problem mindestens auch einem Strickfehler unseres strafprozessualen Systems geschuldet zu sein. Dieser Strickfehler besteht darin, dass der Richter im Zwischenverfahren darüber entscheiden soll, ob hinreichender Tatverdacht vorliegt und derselbe Richter sich dann am Ende der Beweisaufnahme aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung schöpfend seine richterliche Überzeugung (also unabhängig von der Eröffnungsentscheidung)  bilden soll. Im übrigen soll er auch noch die Wahrheit finden und später über die von ihm geleiteten Beweiserhebungen selbst urteilen. Diese starke Stellung ist historisch begründet und mag ja in vielen Fällen (trotzdem)  zu sachgerechten Ergebnissen führen. Aber sie ist problematisch. Richter funktionieren als Menschen wie andere auch. Auch bei ihnen kommt es zu dem sog. Inertia-Effekt. ein Begriff aus der Psychologie. Einmal getroffene Entscheidungen bleiben gegen widersprechende Informationen immun, der Wert von Informationen, die der präferierten Alternative oder Hypothese entsprechen, werden überschätzt, während der Wert entgegenstehender Informationen unterschätzt wird. Dem könnte (gesetzgeberisch) entgegengewirkt werden. Zum Beispiel könnte ein anderer Spruchkörper über die Eröffnung entscheiden, als derjenige, der später nach Durchführung einer Hauptverhandlung das Urteil fällt. In der Hauptverhandlung sollten noch mehr diskursive und adversatorische  Elemente zugelassen sein. Ein Ermittler der Wahrheit sollte möglichst nicht der Richter sein, weil man dafür eine (Arbeits)hypothese braucht, die einen dann aber eben wieder befangen macht.     

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Zu einem bayerischen Beispiel, direkt vor unserer Haustür und mit ganz klassischen Fehlern - das Tatgericht und die Staatsanwaltschaft wollen bis heute davon nichts wissen, glücklicherweise gibt es (allerdings nachdem die beiden Jugendstrafen schon voll verbüßt sind) eine Wiederaufnahme.

Der tatsächliche Justizirrtum, die Verurteilung eines Angeklagten, der die ihm zur Last gelegte Handlung gar nicht begangen hat, ist sicher die dramatischste Form des Justizirrtums. Viel häufiger kommt er jedoch in Form des Rechtsirrtums vor. Beim Amtsgericht muß es schnell gehen und die wenigstens Angeklagten sind verteidigt. Entweder man will oder kann sich keinen Verteidiger leisten oder es liegt kein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Wie auch immer: gerade bei etwas "exotischen" Tatbeständen wie Subventionsbetrug, allen Tatbeständen der Umweltverschmutzung, Unterhaltspflichtverletzung, etc., stellt man als Verteidiger nach der Lektüre des - zwischenzeitlich leider rechtskräftigen - Urteils fest, daß das vorgeworfene Verhalten gar nicht strafbar war. 

 

Nicht weniger Menschen landen hinter Gittern, weil die Bewährung wegen Verstoßes gegen Weisungen und Auflagen widerrufen wird, obwohl die erteilten Weisungen und Auflagen ihrerseits rechtswidrig waren.

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"Viel häufiger kommt er jedoch in Form des Rechtsirrtums vor"

Das entspricht meiner Erfahrung. Es ist fast ausgeschlossen, ein Gericht z.B. von der Rechtsauffassung von Strafsachenstellen der Finanzämter oder Hauptzollämter oder gar Wirtschaftsreferenten der Staatsanwaltschaft abzubringen, und wenn man noch so sehr Recht hat.

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Das Thema Justizirrtum hat eine menschliche Komponente. Menschen - also auch Richter - machen Fehler. Allerdings ist es die unschöne Erfahrung als Verteidiger, dass sich ein Fall drchaus in eine "unumkehrbare Richtung" bewegen kann. Beweisantrge werden mt teils abenteuerlichen Begründungen zurückgewiesen. Die oberen Instanzen sind zudem auch nicht immer bereit, Ihren Kollegen deren Fehler bei der Beweiswürdigung aufzuzeigen. Und in der Reision ist ein Beschluss nach § 349 StPO schnell erlassen.

Ein Fall aus der Praxis ist für mich bis heute unerträglich. Eine Zeugin behauptete (kurz nach dem Ende der Beziehung zum Beschuldigten), sie sei fortwährend verprügelt worden. Als Tatzeitpunkt für die unzähligen Misshandlungen konnte sie nur ein Datum anführen. Erste Merkwürdigkeit: Die Anklage wurde vom AG für mehrere Taten zugelassen, die gar nicht mehr zeitlich einzugrenzen waren (die Zeugin war zum behaupteten Tatzeitpunkt kein Kind/keine Jugendliche). Zum einzigen "Tattag" bestätigten Zeugen, die zu diesem Zeitpunkt im Haus waren, dass sie keinen Streit oder sonstiges mitbekommen hatten; auch keine Verletzungen am nächsten Morgen. Alle weiteren Zeitpunkte der angeblichen KV blieben im Nebel, so konnte der Angeklagte sich auch nicht effektiv (z.B. durch Alibis) entlasten. Das wirklich bedrückende war, dass man - trotz Aussage gegen Aussage Situation - die nachweisbaren Unwahrheiten und Widersprüchlichkeiten in den Aussagen der Zeugin hinnahm und darauf verwies, ihre Schilderung sei ja "im Kern" korrekt und schlüssig. Zuvor hatte die Zeugin einmal ihre Aussage widerrufen, mindestens zwei Mal nachweislich die Unwahrheit gesagt (z.B. behauptet, eine Kollegin habe ihe Verletzungen gesehen - diese Zeugin verneinte das mit Nachdruck) und den Angeklagten zu Unrecht als "Waffenhändler" belastet.

Das AG leitete seine mündliche Urteilsbegründung - ohne erkennbaren Anlass - mit den Worten ein: "Das hat nichts damit zu tun, dass Sie schwarz sind".

Die Revision wurde übrigens vom OLG München nach 349 StPO durch Beschluss verworfen.

Solche Erfahrungen prägen und bringen das Gefühl von Ohnmacht.

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Irrtum ist etwas Versehentliches. Systematische Mängel oder Unwillen sind kein Versehen, sondern bewusstes Inkaufnehmen oder Erzeugen von Fehlern. Dafür gibt es eigentlich verhindernde Gesetze und Rechtsmittel, die durch Richterrecht und die Justizpraxis ausgehebelt wurden. Es geht also nicht um Irrtümer, sondern um die Aushöhlung und den Missbrauch des Rechtssystems aus weitgehend niederen Beweggründen. Das hängt auch nicht an Vergütungen oder mangelnder Ausstattung, sondern korreliert allenfalls damit. Ein halbwegs aktueller Beitrag dazu im BR  

http://www.br.de/nachrichten/deutsche-justiz-recht-probleme-138~_page-1_...

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