BVerfG rügt BAG wegen Verletzung der Vorlagepflicht zum EuGH

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 30.03.2010

Das BVerfG hat in ein Urteil des Achten Senats des BAG (Urt. vom 21.5.2008 - 8 AZR 84/07, NZA 2008, 573) wegen Verstoßes gegen die verfassungsrechtliche Gewährleistung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) aufgehoben, weil das BAG den Rechtsstreit entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 234 EG (seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon: Art. 267 AEUV) dem EuGH nicht zur Vorabentscheidung vorgelegt hat (Beschluss vom 25.2.2010, 1 BvR 230/09). Mit ungewöhnlich deutlichen Worten kritisiert das BVerfG in dem Kammerbeschluss die Vorgehensweise des BAG und konkretisiert zugleich die Vorlagepflicht in einer Art und Weise, die zukünftig jedenfalls für letztinstanzliche Gerichte eine Anrufung des EuGH in weit mehr Fällen als bisher verpflichtend macht:

Die Vertretbarkeit des Unterlassens eines Vorabentscheidungsersuchens muss daher im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu Art. 234 Abs. 3 EG gesehen werden. Hiernach muss ein Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in dem bei ihm anhängigen Verfahren eine entscheidungserhebliche Frage des Gemeinschaftsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die betreffende Bestimmung des Gemeinschaftsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung des Gerichtshofs war oder dass die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81 -, Slg. 1982, S. 03415, Rn. 21; Urteil vom 15. September 2005 - C-495/03 -, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005 - C-461/03 -, Rn. 16; stRspr). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur dann ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81 -, Slg. 1982, S. 03415, Rn. 16). Denn Art. 234 Abs. 3 EG soll insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Gemeinschaftsrechts nicht im Einklang steht (vgl. EuGH, Urteil vom 15. September 2005 - C-495/03 -, Rn. 29).

In der Sache ging es um die Frage, ob die Massenentlassungsanzeige (§ 17 KSchG) nur dann wirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erstattung Interessenausgleich und Sozialplan (§ 112 BetrVG) bereits abgeschlossen sind. Der Arbeitnehmer hatte diese Rechtsauffassung vertreten und sich dabei u.a. auf die Massenentlassung- und die Konsultationsrichtlinie (RL 98/59/EG und RL 2002/14/EG) berufen. Das BAG war dieser Argumentation nicht gefolgt, ohne zur Auslegung der genannten Richtlinien den EuGH anzurufen.

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Die beiden hier hervorgehobenen Kriterien sind, wie sich schon aus den Belegen ergibt, die ständige Rechtsprechung des EuGH. Insoweit bringt die Entscheidung des BVerfG nichts Neues zu Art. 234 EG/Art. 267 AEUV (wie auch?). Interessant ist die Frage, ob das BVerfG mit der vorliegenden Entscheidung seinen eigenen Maßstab, also Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, bei Verstößen von letztinstanzlich entscheidenden Gerichten gegen Art. 267 AEUV (in anderen Fällen haben Gericht keine Vorlagepflicht) nun generell gelockert hat. Denn entsprechende Verfassungsbeschwerden gingen bislang meist ins Leere. Aufhebungen kann man wohl an einer Hand abzählen.

Die ausführliche Begründung deutet aber darauf hin, daß es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt. Zwar sieht es zunächst so aus, als ob das BVerfG mit einem durchaus griffigen, ins Formale gehenden Kriterium Ernst machen würde, nämlich dem Gericht bei Vorliegen unionsrechtlicher Fragen eine eingehende Begründung abzuverlangen, warum von einer Vorlage abgesehen wurde. Die weitere Begründung des BVerfG steigt aber so tief in die Diskussion der materiellen Rechtsfragen des vorliegenden Falles ein, daß klar wird, daß für eine Aufhebung weiterhin hohe Hürden gelten. Vollends wird die Erwartung eines Umschwenkens des BVerfG enttäuscht, wenn es in derselben Entscheidung eine weitere Vorlagefrage, die - nach dem Maßstab des Art. 267 AEUV - gleichgelagert ist wie die, für welche die Verfassungsbeschwerde erfolgreich war (fehlende Entscheidung des EuGH, Kontroverse in der Literatur) mit knappen Worten die Nichtvorlage durch das BAG billigt.

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