Kriminalstatistik und Unternehmenspolitik der Bahn AG

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 25.07.2009

Dass die polizeiliche Kriminalstatistik kein getreues oder wenigstens proportionales Abbild der Gesamtkriminalität bietet, habe ich hier im blog schon gelegentlich ausgeführt. Auch dass "Schwarzfahren" m. E. kein kriminelles Unrecht ist, sondern  möglicherweise eine Nutzung der von der Allgemeinheit bezahlten Strafjustiz für Zwecke des ökonomisch erwünschten Verzichts auf Zugangskontrollen, war schon Thema. Nun wird der Zusammenhang sogar von Spiegel Online (sonst in Fragen der Kriminalstatistik mit an vorderster Stelle, wenn es um wirklichkeitsferne Darstellung geht) thematisiert: Aufgrund einer neuen Unternehmenspolitik der Bahn drohe ein Anstieg der Kriminalstatistik um bis zu 10 %. Künftig solle nämlich jeder "Schwarzfahrer" gleich (und nicht wie bisher erst beim dritten Mal) angezeigt werden. Damit ist wohl gemeint, auch diejenigen, die möglicherweise einfach nur den Fahrschein zuhause vergessen haben. Auch § 265 a StGB setzt aber Vorsatz voraus. Da dieser kaum nachzuweisen ist, werden die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft meist eingestellt. Der Kriminalstatistik ist das egal - jede angezeigte Tat wird gezählt. Und da bei diesen "Schwarzfahr"-Anzeigen jedes Mal ein Tatverdächtiger mitgeliefert wird, freut sich auch die Polizei: Denn damit steigt auch die so genannte Aufklärungsquote - ein weiterer Begriff der Kriminalstatistik, der nicht ganz das bedeutet, was er vorgibt.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

4 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Nach fest kommt ab, d.h. wenn die Bahn es zu bunt treibt, könnte die Strafbarkeit entfallen. Einen wirklich nachvollziehbaren Grund, ein solches Bagatelldelikt strafrechtlich lückenlos zu verfolgen und die Gefängnisse mit Kurzzeitvollzugstouristen zu (über-)füllen, dürfte der Staat kaum haben.

Ich kenne ein anderes Beispiel: das Radfahrverbot auf Hamburgs Parkwegen bestand über Jahrzehnte und wurde von niemandem beachtet. Dann wurde der Städtische Ordnungsdienst (SOD) 2003 gegründet und verfolgte die das Gesetz nicht kennenden Übeltäter, bis das Thema den Eingabeausschuß der Bürgerschaft erreichte. Zunächst verteidigte die Bürgerschaft das Gesetz damit, daß es ja überhaupt nicht angewndet werde (was aber zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr stimmte). Dann erwischte es wohl auch Journalisten, die das Thema auf die erste Seite brachten, und das Gesetz kippte 2005.

0

@DrFB,

dass die Strafbarkeit entfällt, kann ich mir kaum vorstellen, auch wenn § 265 a StGB, sofern keine Umgehung von Kontrollen geschieht, m.E. nicht anwendbar ist. Dass aber die Bundespolizei wegen der Überlastung durch die Anzeigenbearbeitung schon mehr Personal verlangt, belegt den Zusammenhang: Das ist "Outsourcing" zum Staat; statt Fahrscheine an Bord zu verkaufen, werden Polizisten und Staatsanwälte zu billigen Ersatzschaffnern.

Jedoch: Nach einer neuen Meldung hat die Bahn ihr neues Vorgehen ganz anders dargestellt, als es auf Spiegel Online beschrieben wurde: Es werde nicht etwa jeder ohne gültigen Fahrschein sofort angezeigt, sondern:

"Seit Jahresbeginn werde nach dem dritten Fall rückwirkend jeweils ein Strafantrag pro Fahrt ohne gültigen Fahrausweis gestellt, sagte ein Bahnsprecher am Sonntag in Berlin. Zuvor hatte das Unternehmen nach dem dritten Mal innerhalb von drei Monaten Strafantrag nur für das letzte Schwarzfahren gestellt, wenn der Fahrgast keine plausible Erklärung für sein Verhalten hatte, erläuterte der Bahnsprecher und stellte damit anderslautende Meldungen klar. In Ausnahmefällen werde wie in der Vergangenheit bereits beim ersten Schwarzfahren ein Strafantrag gestellt, wenn es sich um einen «besonders offensichtlichen Fall der Leistungserschleichung» handele."

(Quelle)

 

Im Hinblick auf die Frist des § 77 b I StGB erschließt sich die Sinnhaftigkeit der geänderten Praxis der Bahn nicht ohne weiteres

Naja, wenn die nur die anzeigen, die innerhalb drei Monaten dreimal erwischt werden, kann es tatsächlich die Statistik nicht völlig aus dem Lot bringen. Abgesehen davon, inzwischen zweifele ich auch erheblich an den Behauptungen von Spiegel Online, die Kriminalstatistik würde bei dieser Praxis der Bahn um mehr als 600.000 Delikte jährlich zusätzlich belastet (Quelle). In diesem Focus-Bericht heißt es: Nach Informationen von FOCUS brachte die Bahn bis Ende Juni bereits 39 634 Leistungserschleichungen zur Anzeige – im gesamten Vorjahr waren es 50 875." Also erhöhte sich die Zahl der Anzeigen wegen Leistungserschleichung zum Nachteil der Bahn von Januar bis Juni  2009 gegenüber 2008 um ca. 15.000 Fälle. Wie der Spiegel da auf 600.000 zusätzliche Fälle im Jahr kommt, bleibt sein Geheimnis.

Kommentar hinzufügen