Strafbarkeit von Schwarzfahren im ÖPNV - das Strafrecht stößt an seine Grenzen

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 16.07.2009

Seit gestern findet drüben im lawblog eine Debatte über diesen Artikel im Berliner Tagesspiegel statt.
Danach sitzen 155 der 480 Gefangenen in der JVA Plötzensee eine Ersatzfreiheitsstrafe ab, die auf eine Verurteilung nach § 265 a StGB zurückgeht – d.h. es handelt sich um Personen, die (meist notorisch) in Bussen und U-Bahnen schwarz fahren, die ergangene Geldstrafe nicht zahlen, das Programm „Schwitzen satt Sitzen (Ersatzarbeitsstunden) nicht nutzen (wollen oder können) und nun im Vollzug der Freiheitsstrafe den Steuerzahler ca. 80 Euro am Tag kosten. Sicherlich ist das zunächst ein lokales Problem, mit dem Berlin und andere Großstädte sehr viel stärker zu kämpfen haben als die meisten Regionen Deutschlands, und sicher ist die Quote in Plötzensee nicht auf andere Anstalten oder gar auf die gesamte Gefangenenpopulation hochzurechnen, aber 155 an einem Stichtag in Berlin bedeutet vermutlich eine vierstellige Zahl im Jahr .
Es ist ein Problem, das die Grenzen des Strafrechts plastisch zeigt und das dringend einer Lösung bedarf.

Ein erster Ansatzpunkt ist die m.E. fragwürdige, allerdings vom BVerfG (BVerfG 2 BvR 1907/97 = NJW 1998, 1135) für verfassungsgemäß gehaltene Subsumtion des „Erschleichens“ auf Verhaltensweisen, die sich, bei fehlenden Zugangskontrollen im ÖPNV einfach dadurch äußern, dass der Betreffende schlicht „nicht zahlt“, sich aber sonst „ganz normal“ verhält. Worin dann das „Erschleichen“ bestehen soll, erscheint mir trotz der Wertung des BVerfG und der herrschenden Rechtsprechung in er Tat fraglich. Wo liegt hier die Betrugsähnlichkeit? Wird hier nicht bloßes vertragswidriges Verhalten, ein Nichthandeln, bestraft? (edit: siehe dazu auch schon diesen Beitrag hier im Blog)
Sicher ist aber, dass das Delikt am untersten Rand der Unrechtsbewertung liegt.

Jede erhebliche Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit durch Kraftfahrer verwirklicht m. E. größeres Unrecht, wird aber nur als Ordnungswidrigkeit verfolgt.

Hier zeigt sich doch, dass Strafrecht mit seiner härtesten Sanktion, der Freiheitsstrafe, einfach nicht mehr seine Funktion erfüllen kann; die dort Einsitzenden wurden und werden nicht abgeschreckt und werden auch keineswegs gebessert. Ich vermute, schon  die erste Fahrt von Plötzensee nach Hause (wenn es denn ein Zuhause gibt), erfolgt ohne Bezahlung. Und: Wer nur eine Woche sitzt, dem könnte der Staat für dasselbe Geld eine Jahreskarte finanzieren.

Ließe sich das Problem weitgehend ähnlich lösen wie etwa die Gebührenbefreiung der GEZ unter bestimmten sozialen Aspekten: Ist die Freifahrt für Hartz IV-Empfänger wirklich so undenkbar? In Zürich soll so ein Modell gelten.

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6 Kommentare

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Zu diesem Thema kann ich nur auf meinen Beitrag vom 10.04.2009

(http://blog.beck.de/2009/03/04/ist-schwarzfahrt-noch-verkehrsrecht-egalt...)

verweisen und hoffe auf ein baldiges Ansinnen des Gesetzgebers, diese Fälle künftig zu entkriminalisieren und dem OWi-Recht zuzuführen, denn gerade für solch niedriges Unrecht existieren Ordnungswidrigkeiten.

Danke für den Hinweis, diesen Blogbeitrag hatte ich überlesen, werde ihn aber jetzt oben als Link einfügen (die automatische Querverlinkung bei "Siehe auch" (unter jedem Blogbeitrag) funktioniert noch nicht ganz zuverlässig).

Zur weiteren Erbauung auch die Entscheidung des BGH zu Anfang dieses Jahres: 4 StR 117/08 (zum Abdruck in BGHSt 53 vorgesehen), der Leitsatz ist deutlich: Auf ein besonderes Verhalten kommt es nicht an, denn - der BGH beschäftigt sich mit etymologischer Wortlautauslegung - "(...) [n]ach seinem allgemeinen Wortsinn beinhaltet der Begriff der "Erschleichung" lediglich die Herbeiführung eines Erfolges auf unrechtmäßigem, unlauterem oder unmoralischem Wege (vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 8. Bd. [1999], Sp. 2136; Brockhaus, 10. Aufl. Bd. 2 S. 1217). Er enthält allenfalls ein "täuschungsähnliches" Moment dergestalt, dass die erstrebte Leistung durch unauffälliges Vorgehen erlangt wird; nicht erforderlich ist, dass der Täter etwa eine konkrete Schutzvorrichtung überwinden oder eine Kontrolle umgehen muss."

Der BGH sieht in der m.E. lesenswerten Entscheidung kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot und setzt sich sodann mit der historischen Entwicklung auseinander.

M.E. ist die Entscheidung auch deshalb lesenswert, weil der BGH hier (zum ersten Mal, glaube ich) Rolf Schmidt/Klaus Priebe zitiert und somit diese Werke in den Lehrbuchadel erhebt.

Ich würde mir eine Entkriminalisierung wünschen, halte es aber - wie auch der BGH - für notwendig, dass der Gesetzgeber diesen Schritt geht.

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Sehr geehrter Herr Hüneke,

danke für den Hinweis auf die jüngste BGH-Rechtsprechung. Der Wortlaut des Erschleichens würde also auch das schlichte Nichtzahlen abdecken, dem kann ich nicht widersprechen. Meine Argumentation wäre auch eher systematischer und teleologischer Natur.

§ 265 a StGB gehört zum Abschnitt "Betrug und Untreue", das Erschleichen in der genannten Auslegung ist aber weder betrugs- noch untreueähnlich. Außerdem: Die Struktur des Tatbestands deutet darauf hin, dass es neben der Inanspruchnahme der Leistung, Beförderung, des Zutritts in der Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten noch ein zusätzliches Element des "Erschleichens" geben soll.

Aber sicherlich ist meine Auffassung in der Minderheit, wenn auch nicht allein (vgl. MünchKomm-Wohlers § 265 a Rz. 37 ff.), und die Mehrheitsmeinung ist auch vertretbar.

Leider sind Reformansätze in den 90er Jahren (z. B. der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts, der Hessischen Kommission "Kriminalpolitik" und ein Antrag der Grünen zum 6. StrRG) im Sande verlaufen. Muss es noch viel teurer werden, bevor der Gesetzgeber reagiert?

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Müller

 

Woran es liegt, kann ich nicht sagen. Als Vorsitzender des für den Bereich des Oberlandesgerichts München zuständigen Revisionssenats stelle ich aber seit einigen Monaten fest, dass wir zunehmend Revisionen gegen Urteile zu bearbeiten haben, denen eine Veruteilung nach § 265a StGB zugrunde liegt. Nicht selten geht es um die Frage, ob in zulässiger Weise eine kurzfristige Freiheitsstrafe verhängt wurde.

Wer die obergerichtliche Rechtsprechung verfolgt, erkennt unschwer, dass es auch anderen Oberlandesgerichten so geht wie uns in München.

Wie Herr Kollege Müller bin ich der Meinung, dass die Rechtspoliker sich des Themas annehmen sollten.

Die Vorschrift des § 265 a StGB geht, soweit sie das "Schwarzfahren" unter Strafe stellt, auf Art. 8 der Strafgesetznovelle vom 28. Juni 1935 zurück (RGBl. I 839, 842). Sie sollte vor allem die Lücke schließen

 

§ 265 a StGB gehört zum Abschnitt "Betrug und Untreue", das Erschleichen in der genannten Auslegung ist aber weder betrugs- noch untreueähnlich. Außerdem: Die Struktur des Tatbestands deutet darauf hin, dass es neben der Inanspruchnahme der Leistung, Beförderung, des Zutritts in der Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten noch ein zusätzliches Element des "Erschleichens" geben soll.

So wie ich das hier sehe ist Deutschland imernoch in der Steinzeit und bedient sich der NSDAP gesetze. Ändert endlich Deutsche Gesetze, sonst tuen es andere.

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