Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2008 – und jährlich grüßt das Murmeltier

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 16.06.2009

In einem jährlich wiederkehrenden Ritual präsentiert der Bundesinnenminister jeweils zwischen Ende Mai und Mitte Juni die Polizeiliche Kriminalstatistik. Ebenso regelmäßig berichtet die Presse über die darin (angeblich) zu findenden Aussagen über die Wirklichkeit. Die polizeiliche Kriminalstatistik scheint diesmal überwiegend erfreuliche Tatsachen zu verkünden. Denn entgegen dem Eindruck, der im vergangenen Jahr in vielen Medienberichten erzeugt wurde („dramatisch steigende Jugendgewalt") gibt die PKS für 2008 ein anderes Bild wieder: Die Gesamtzahlen und auch die Zahlen für Gewaltdelikte und speziell für Gewaltdelikte von Jugendlichen sind laut PKS gar nicht gestiegen, sondern seien sogar rückläufig. Zunächst versuchten Journalisten in der vergangenen Woche noch, ihre Unfähigkeit damit zu kaschieren, dass sie wenigstens eine Zahl heraushoben, bei der sie ihren zuvor erzeugten Eindruck bestätigt sahen: bei den Zahlen für Körperverletzungen auf öffentlichen Straßen. Nun ist das gerade ein Beispiel dafür, wie eine geänderte statistische Erfassung die Angaben über die Wirklichkeit verzerren kann: Nach Angaben des LKA des Landes NRW ist die dortige Erhöhung der Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen um 9,5 %, nämlich "überwiegend auf die im Jahr 2008 differenziertere Erfassung des sechsstelligen Straftatenschlüssels zurückzuführen" (vgl. hier S.43).   (Zur Diskussion auch noch hier).

Bei genauerem Hinschauen sind steigende Zahlen die Ausnahme - in fast allen Deliktsbereichen hat die Polizei für das vergangene Jahr weniger Taten registriert. Insofern finden sich heute in den von google news gefundenen Überschriften nur noch ca. ein Drittel mit „negativen" Nachrichten (besonders hat den Presseleuten die „kriminellste" Stadt Frankfurt a.M. gefallen - zu solchen Angaben vgl. diese Diskussion), die anderen weisen wenigstens auf den Trend hin, den die PKS insgesamt vorgibt. Aber auch dies („Kriminalität in Deutschland geht zurück") ist eine verzerrende Darstellung. 

Denn wie jeder weiß, der sich mit der Materie einmal etwas näher befasst hat, ist die PKS keineswegs eine Statistik über die „Kriminalität in Deutschland". Anders, als in der Öffentlichkeit und den Medien präsentiert, sind die jeweils steigenden oder fallenden Zahlen kein Abbild der Wirklichkeit und nicht einmal ein zuverlässiges Indiz für die Entwicklung in der Wirklichkeit. Und die Journalisten - auch der „Qualitätsmedien" - die hier Jahr für Jahr dieselben irreführenden und verzerrenden Berichte schreiben, haben keine Anerkennung verdient.

Tatsächlich reflektiert die Polizeiliche Kriminalstatistik die Anzeigetätigkeit der Bevölkerung. Ca. 90 % der in der PKS enthaltenen Daten zu Delikten entstammen Strafanzeigen. Auch die Angaben über Tatverdächtige und damit die Aufklärungsquote ist gravierend abhängig davon, ob bei einer Strafanzeige ein Tatverdächtiger „mitgeliefert" wird.

Deshalb ist jede Zahl in der Kriminalstatistik und insbesondere auch jede Veränderung der Zahlen primär unter der Perspektive zu betrachten und zu interpretieren, inwieweit diese Zahl und ihre Veränderung auf einer Veränderung der Anzeigehäufigkeit beruht.

Da es je nach Deliktsgruppe ganz unterschiedliche Motive und Gegenmotive gibt, Anzeige zu erstatten, die Anzeigemotivation geografisch unterschiedlich verteilt ist und sich über die Zeit erheblich verändern kann, lässt sich auch keine allgemeine Aussage dazu treffen, ob der Grund für eine häufigere oder weniger häufige Anzeigentätigkeit auch eine entsprechende Veränderung der Wirklichkeit der Straftaten ist.

Nur bei einzelnen Delikte, bei denen man annehmen kann, dass sie vom Betroffenen regelmäßig und relativ zuverlässig angezeigt werden, lässt sich aus der PKS auf eine entsprechende Situation in der Wirklichkeit schließen - dies betrifft etwa Wohnungseinbrüche, Raubüberfälle und Kfz-Diebstähle. Unter der Annahme, das (fast) jeder Wohnungseinbruch, (fast) jeder Raubüberfall und (fast) jeder Kfz-Diebstahl der Polizei zur Kenntnis gegeben wird, lässt sich schlussfolgern, dass diese Zahlen der PKS der Deliktswirklichkeit einigermaßen entsprechen.
Delikte, die zwar nicht vollständig angezeigt werden, bei denen aber eine Veränderung der Anzeigemotivation unwahrscheinlich ist, lassen immerhin die Interpretation zu, dass die Veränderung der Zahl der registrierten Delikte eine entsprechende Veränderung in der Wirklichkeit indiziert.

Hingegen ist insbesondere bei Deliktsbereichen, die besondere Emotionen wecken, die häufig in Näheverhältnissen  zwischen Täter und Opfer vorkommen und/oder wegen ihrer angenommenen "Aktualität" besonders in der öffentlichen Diskussion stehen, die Anzeigemotivation so labil, dass die Schlussfolgerung von Zahlen der PKS und deren Veränderung auf die Wirklichkeit nicht zulässig erscheint. Dies betrifft vor allem die Körperverletzungen und damit den Großteil der Gewaltdelikte, insbesondere die „Jugendgewalt", Sexualdelikte, Kindesmisshandlung, aber auch Betrug (insbesondere Betrug im Internet) und überhaupt Computerdelinquenz.

Auch bei Delinquenz, deren statistische Erfassung nicht überwiegend auf Anzeigen aus der Bevölkerung beruht, z.B. bei Verbreitung von Pornographie, aber auch beim Widerstand gegen Polizeibeamte, um nur zwei aktuell diskutierte bereiche zu erwähnen, lässt sich kein Schluss auf die Wirklichkeit ziehen. Wir wissen nicht, ob höhere oder niedrigere Zahlen in einem Jahr auch höhere oder niedrigere Zahlen in der Wirklichkeit bedeuten, weil wir nicht wissen, wie stark die statistische Erfassung durch gesteigerte/verringerte Aufmerksamkeit bzw. Kontrolltätigkeit beeinflusst ist.

Auch Mitteilungen im Netz, die Verbreitung von Kinderpornographie sei in Wirklichkeit entgegen der Darstellung von Frau von der Leyen, gar nicht dramatisch gestiegen, sondern im Gegenteil rückläufig, lassen sich nicht zuverlässig auf die PKS stützen, ebenso wenig natürlich die vorherigen Behauptungen der Familienministerin.

 

 

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4 Kommentare

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Ach so, aber es bleibt unkommentiert, wenn die Politiker die PKS benutzen, um Gesetzgebungsvorhaben zu "begründen"?

Steigerung um 111% - nuff said?

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Sehr geehrter Herr le D,

Sie haben natürlich Recht, Frau von der Leyen hat hier von der Polizei selbst "erzeugte" höhere Zahlen der PKS als Argument missbraucht, dies steht ja auch am Ende meines Textes. Zudem habe ich mich schon an diversen anderen Stellen im Netz und im Hörsaal zum Missbrauch der PKS für politische Zwecke geäußert. Nix bleibt unkommentiert - "nuff" hin, "nuff" her.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

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